Protocol of the Session on September 22, 2015

Aylan Kurdi, der dreijährige syrische Junge, der vor Griechenland ertrunken ist – die Bilder von Aylan Kurdi sind sicherlich vielen von Ihnen im Gedächtnis –, hat dem Massensterben an den europäischen Grenzen Gesicht und Namen gegeben. Er ist einer der Menschen, die in Art. 1 des Grundgesetzes gemeint sind.

Verpflichtung und Auftrag aller staatlichen Ebenen ist es deshalb, den geflüchteten Menschen in Not zu helfen. Deswegen waren die Entscheidungen der letzten Wochen und Monate richtig und notwendig, und es ist in dieser Situation unsere vorrangige Aufgabe, diesen Menschen ein Dach über dem Kopf, ein Bett, Kleidung und Ernährung zu geben. Das ist die allererste Hilfe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der LINKEN und der FDP)

Deswegen will ich mich ausdrücklich dem Dank des Herrn Ministerpräsidenten vor allem an die ehrenamtlichen, aber auch an die hauptamtlichen Helferinnen und Helfer anschließen – viele von uns danken ihnen in diesen Tagen –, die in diesen Wochen und Monaten faktisch das Rückgrat der Flüchtlingsarbeit sind. Sie haben in den vergangenen Wochen Deutschland ein freundliches und warmherziges Gesicht gegeben. Sie waren bis in den letzten Winkel der Welt Botschafter eines Deutschlands, dessen Menschen mitfühlen und helfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Man kann das nicht deutlich genug sagen. Auch ich habe in den letzten Wochen immer wieder Einrichtungen besucht. Ich habe gesehen, dass sich Ehrenamtliche, die auch sonst nicht gerade zu Hause auf der Couch liegen und fernsehen, sondern einem Beruf nachgehen und ihre Familien organisieren, tage- und nächtelang dafür engagieren und Menschen, die mit nichts kommen, schlicht und einfach aufnehmen und ihnen ein bisschen das Gefühl geben – das ist ihnen ein Anliegen –, dass sie herzlich angenommen sind und nach der Tortur, die sie hinter sich haben, endlich einen Schutzort gefunden haben. Am nächsten oder am übernächsten Tag gehen diese Ehrenamtlichen ihrer Arbeit nach und scheuen sich trotzdem nicht, unmittelbar danach wieder einen ehrenamtlichen Einsatz zu übernehmen.

Das sind eine Bereitschaft, ein Engagement und eine Unterstützung durch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die so beispielhaft für die Hilfsbereitschaft unseres Landes sind, dass man mit Fug und Recht behaupten kann: Es ist überwältigend, was dort passiert. – Deswegen haben sie ein Recht darauf, dass die Politiker gute Antworten auf die Fragen geben, die auch sie stellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)

Herr Ministerpräsident, ich will Ihnen für Ihre sehr klaren Worte zur uneingeschränkten Bekämpfung von Hass, Rassismus und Gewaltaktionen Rechtsextremer gegen Flüchtlingsunterkünfte und geflüchtete Menschen ausdrücklich danken. Das dulden wir weder in Hessen noch anderswo, und das muss an allen Stellen mit aller Konsequenz verfolgt werden. Ich will klar sagen, an dieser Stelle sind wir beieinander. Zustände, wie sie in Sachsen geherrscht haben, sind hier nach meiner festen Überzeugung, auch weil es einen klaren politischen Willen gibt, nicht vorstellbar.

(Beifall bei der SPD)

Ich will aber sagen – das wird Ihnen nicht anders gehen, Sie haben es angesprochen –, dass Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zunehmend auch mit Fragen, Sorgen und Unsicherheiten kommen. Sie fragen: Wie wird das weitergehen? Wie viele Hilfesuchende werden noch kommen? Wie können wir das stemmen? Schaffen wir das? Was macht diese humanitäre Katastrophe mit unserem Land? Was wird sich dadurch ändern?

Ich sage sehr klar: Es ist keine Schande, sich und anderen diese Fragen zu stellen. Es wäre aber eine Schande, wenn die Antwort darauf die Ablehnung und Ausgrenzung von Hilfesuchenden wäre.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte recht, als sie vor wenigen Tagen gesagt hat:

Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land.

Recht hat die Kanzlerin, auch mit Blick auf andere Stimmen aus der Berliner Koalition, insbesondere aus dem Großraum München.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit aus einer großen Herausforderung eine Chance wird und das Gemeinwesen – also wir alle, nicht nur wir als Parlament, sondern die Gesellschaft insgesamt – von der Zuwanderung profitieren kann, müssen alle Anstrengungen auf die Integration gerichtet werden. Auch dazu hat der Ministerpräsident etwas gesagt, nämlich dass nach der Erstaufnahme die eigentliche Aufgabe noch kommt.

Die Fehler der Sechziger- und Siebzigerjahre müssen deswegen aus meiner Sicht zwingend vermieden werden, und dazu gehört auch – das ist der wichtigste Satz meiner Erklärung am heutigen Tage –, dass bei der anstehenden Aufgabe die verschiedenen Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Die anstehende Integrationsaufgabe werden wir nur dann erfolgreich bestreiten, auch mit Blick auf Fragen, Sorgen und Unsicherheiten, wenn die jetzige Lage nicht dazu genutzt wird, Gruppen gegen Gruppen, die auch einen Anspruch auf Unterstützung haben, auszuspielen. Das gilt für Fragen des Arbeitsmarkts und der Arbeitsmarktförderung. Das gilt für Fragen der Bildung.

Herr Ministerpräsident, ich will dabei ausdrücklich anerkennen, dass in diesem Schuljahr mehr passiert ist. Wir wissen aber auch: Es wäre gar nicht anders gegangen. Es musste etwas passieren. Ich sehe sehr wohl die Öffnung in Ihrer Erklärung am heutigen Tage, dass da noch mehr passieren kann.

Mit Blick auf die Zahlen wird das auch notwendig sein. Sie sprechen von 6.000 Plätzen, die eingerichtet wurden. Bei dem, was wir an zahlenmäßigen Informationen über die Flüchtlingssituationen auch der letzten Jahre haben, wissen wir, dass wir mit etwa 25 bis 30 % Kindern zusätzlich rechnen müssen, die da mitkommen und die Beschulungsansprüche haben – vom Kindergarten noch gar nicht geredet.

Wir werden uns übrigens auch mit einer anderen Frage beschäftigen müssen. Ich halte es nach wie vor für abwegig, dass die Berufsschulpflicht, bzw. die Chance, dass Jugendliche in Berufsschulen beschult werden können, bei der Altersgrenze von 18 Jahren endet. Ich glaube, dass wir dort dringend eine Öffnung brauchen, da die berufliche Bildung in der Zukunft einer der wesentlichen Faktoren bei der Integration ist.

Das gilt im Übrigen auch für das Thema Wohnen. Das will ich ein bisschen konkreter machen, weil es so schön plastisch ist. Wir haben hier in der Landeshauptstadt Wiesbaden einen Bedarf von 4.000 Wohneinheiten – vor der Flüchtlingskrise, nicht deswegen. Es kommt jetzt neuer Bedarf dazu, in der Größenordnung von etwa 2.000 Wohneinheiten in den nächsten Jahren. Wenn ich über die nächsten Jahre rede, rede ich nicht über fünf bis zehn Jahre. Ich rede über zwei bis drei Jahre. Ich rede über ganz andere Dimensionen: Der Wohnungsbedarf in Hessen wurde vor der Flüchtlingskrise auf 40.000 Wohneinheiten durch die Institute prognostiziert, die vom Land dazu beauftragt sind.

Deswegen: Wir werden aufpassen müssen, dass all die wohnungspolitischen Anstrengungen – ich habe natürlich in Ihrem Kommunalinvestitionsprogramm gesehen, dass man am Ende wahrscheinlich eine Größenordnung von zweieinhalb- bis dreieinhalbtausend Wohneinheiten stemmen kann – nicht ausreichen werden.

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Wir werden da richtig obendrauf legen müssen, und jetzt habe ich noch nicht über die Frage geredet, wo das Land ist, wo die Bebauungspläne sind, damit all das zügig geht. Das ist die Kraftanstrengung, das ist der Punkt, an dem ich ausdrücklich fest davon überzeugt bin, dass wir in der Tat pragmatische Lösungen brauchen, die uns von eingefahrenen Wegen wegführen müssen.

Ich sage Ihnen noch einmal – so wie ich es Ihnen in vielen Gesprächen der letzten Wochen gesagt habe –, da sehen wir unsere Verantwortung als größte Oppositionsfraktion auch ganz dezidiert. Da sind wir dabei: wenn es darum geht, solche Wege zu gehen. Aber die Überschrift über all diesen Lösungen ist: Wir werden nicht zulassen, dass angesichts dieser großen gesellschaftlichen Aufgabe Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Sonst versündigen wir uns am sozialen Zusammenhalt.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, ich will auch klar sagen, die aktuellen Entwicklungen der letzten Tage und Wochen haben rasches Handeln der verantwortlichen Stellen notwendig gemacht, was zum Teil auch zu unkoordinierten und feh

lerhaften Vorgehensweisen geführt hat. Ich will ausdrücklich sagen: Das kann man angesichts der Situation, in der wir sind, den aktuell Handelnden nur bedingt zum Vorwurf machen. Ich glaube, damit, dass wir ausdrücklich anerkennen, dass das eine Megaaufgabe ist, die das Ministerium und die Landesregierung fordert, heben wir uns auch von anderen Oppositionen in anderen großen benachbarten Bundesländern ab. Zum Regierungspräsidium werde ich später noch ein paar Bemerkungen machen, und vieles andere mehr.

Trotzdem müssen wir auch in dieser Situation – deswegen war es gut, dass wir in erster kleiner Runde zusammensaßen und das verabredet haben; da wird sicherlich noch die eine oder andere Runde folgen – Mängel und Probleme klar benennen. Ich will zumindest zwei Punkte heute schon einmal ansprechen, insbesondere an den Innenminister gerichtet. Es ist schon ein Problem, wenn die Kommunen mit Blick auf die Katastrophenschutzbefehle angewiesen werden, Notunterkünfte zu organisieren – immer nach den gesetzlichen Vorgaben des Hessischen Brand- und Katastrophenschutzgesetzes –, da aber auch die klare Kostenfolge geregelt ist, die nämlich sagt: In solchen Fällen zahlt ausschließlich die Kommune. Ich habe Ihre Interviews vernommen, in denen Sie sagen: Das macht das Land. – Ich weiß, dass es auch andere Interventionen dazu gab. Aber ich will deutlich sagen, alleine ein Interview oder ein Telefonat wird aus meiner Sicht eine gesetzliche Grundlage nicht infrage stellen können.

Dazu brauchen wir eine klare Verabredung. Auch das, glaube ich, wäre ein Punkt gewesen. Dann hätte man hier heute beispielsweise sehr klar sagen können, dass das ernst gemeint ist, dass die Kostenübernahme durch das Land in solchen Situationen erfolgt, genauso wie die Kommunalaufsicht sehr flexibel damit umgeht, dass die insbesondere in Schutzschirmkommunen – davon sind mit Blick auf die Haushaltssituation im Moment ziemlich viele betroffen – erheblichen und drastischen Mehraufwendungen für Flüchtlingsunterbringungen nicht an anderer Stelle hereingeholt werden müssen, was objektiv schon gar nicht geht, aber eben am Ende auch wieder eine Gefahr für das Thema wird, was ich angesprochen habe: dass nämlich verschiedene Gruppen am Ende nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Da muss dringend Klarheit geschaffen werden seitens des Innenministeriums, und zwar in einer Art und Weise, dass sich die Kommunen am Ende auch darauf verlassen können.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Um die derzeit anstehenden Herausforderungen zu meistern, müssen alle politisch Verantwortlichen ihre dringlichen Aufgaben mit Professionalität und Entschlossenheit angehen. Auch da sind wir sehr beieinander, auch was die Frage von Prioritätensetzungen angeht. Die Bundeskanzlerin hat auch an dieser Stelle ausdrücklich meine Zustimmung, wenn sie sagt – ich zitiere erneut –:

Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.

Ich finde: Recht hat sie. Herr Bouffier, ich hätte mir allerdings gewünscht – das will ich an der Stelle schon sagen –, dass es dazu, was jetzt passiert, genau in diesem Sinne ein bisschen mehr Klarheit und mehr Konkretes gegeben hätte,

als nur auf der Metaebene zu beschreiben, was notwendig ist. Es wäre heute eine Riesenchance, genau zu unterstreichen, um was es dabei konkret geht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Sie hätten aus meiner Sicht Stellung zu den aktuellen Konfliktfragen beziehen müssen, beispielsweise zu der Frage, wie diese Landesregierung mit den Veränderungen umgeht, die auf der Bundesebene zum Thema der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten diskutiert werden. Wie ist die Positionierung Ihrer Regierung?

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Sie hätten aber auch klar sagen müssen, was das bei Kindergärten, Schule, Arbeit, Wohnen und Sicherheit heißt. Da hätte es heute aus meiner Sicht, wenn Sie schon eine Regierungserklärung machen – Sie sind nicht Regierungssprecher, Sie sind immerhin Regierungschef –, auch einmal eine Ansage geben müssen, wo Sie denn hingehen müssen; denn am Ende ist eines klar, Herr Bouffier: Haltung entsteht nicht nur auf der Metaebene, sondern am Ende immer über das konkrete Handeln.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Sie haben – genauso wie die Kanzlerin – gesagt, dass Sie keinen parteipolitischen Zirkus wollen. Da bin ich bei Ihnen, das habe ich Ihnen schon gesagt, dass bloße Versprechungen und ein oder zwei Pressetermine diese Herausforderungen und die Dimensionen der Herausforderungen nicht lösen können. Das, was Merkel gesagt hat, war richtig und wichtig – insbesondere die Ausführungen darüber, dass große Teile der deutschen Politik das Flüchtlingsproblem viel zu lange nicht sehen wollten.

Ich will allerdings auch nicht verhehlen, dass Angela Merkel Teil davon war. Den allergrößten Teil der Flüchtlinge hatten nämlich viele Jahre lang die Länder an den europäischen Grenzen, insbesondere Italien und Griechenland. Das Dublin-System, das häufig in bestimmten Kreisen kritisiert wurde, wird erst seit dem Zeitpunkt ein Problem für die deutsche Sicht, seit dem Flüchtlinge aus solchen Ländern wegen der Implosion des Systems in Deutschland ankommen. Solange die Flüchtlinge in Griechenland und Italien waren, solange die Leute vor Lampedusa ertrunken sind, war das hier ein abstraktes Thema, kein konkretes, und wenige haben da so intensiv nach europäischer Solidarität gerufen.

Deswegen muss man ein bisschen vorsichtig sein – ich teile ausdrücklich Ihre Bemerkungen zur Frage der Haltung in den europäischen Gesprächen –, mit welcher Grundhaltung man in solche Gespräche geht.

Es ist ein gutes Stück weit verlogen, das Dublin-Verfahren in dem Moment, in dem man sich selbst mit der Herausforderung konfrontiert sieht, zu kritisieren, während es einen vorher – solange es dafür gesorgt hat, dass die Flüchtlinge möglichst weit von den europäischen Kernländern weg waren – nicht geschert hat. Das ist ein Zustand, der nicht akzeptabel ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Natürlich ist es auch unter den aktuellen und akuten Umständen geboten, mit vereinten Kräften nach möglichst

schnellen und nachhaltigen Lösungen zu suchen. Im Mittelpunkt muss jedoch immer das Streben danach stehen, einerseits den Menschen, die unter lebensbedrohlichen Bedingungen zu uns geflohen sind, einen sicheren Hafen zu bieten und andererseits die Sorgen und Ängste unserer eigenen Bevölkerung ernst zu nehmen. In diesem Spannungsverhältnis darf es keinen Platz für parteipolitisches Geplänkel geben, da bin ich ganz bei Ihnen. Wir werden auch nicht umhinkommen, mutige und mitunter unbequeme Entscheidungen zu treffen. Tatkraft und Besonnenheit dürfen dabei nicht ausgeschlossen werden.