Protocol of the Session on September 22, 2015

Ich will noch eine Bemerkung zu all den Menschen machen, die zu uns kommen und in ihrer Heimat keine vernünftige Perspektive sehen. Wer von uns könnte nicht verstehen, dass man überlegt, ob man in einer neuen Heimat, z. B. in Deutschland, nicht eine bessere Zukunft für sich und seine Familie finden kann? Ich glaube, das können wir alle gut nachvollziehen. Das ist menschlich verständlich. Aber das begründet keinen Asylanspruch – und damit auch kein Bleiberecht in unserem Land. Wir müssen sehr deutlich sagen: All diejenigen, die nicht verfolgt werden, werden in unserem Land keine Zukunft haben können, weil wir sonst nicht die notwendigen Kapazitäten haben, uns um die zu kümmern, die verfolgt werden.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Deshalb sind Rückführungen unverzichtbar – am besten freiwillig, aber, wenn es freiwillig nicht geschieht, auch im Wege der Abschiebung.

Auch hier hat Hessen gehandelt. In diesem Jahr haben wir bislang über 2.500 freiwillige Ausreisen und 1.300 Abschiebungen zu verzeichnen. Das macht niemand gerne, aber es ist erforderlich. In diesem Zusammenhang begrüße ich es sehr, dass in dem großen Paket, das wir am Donnerstag beraten wollen, auch die Möglichkeit vorgesehen ist, Menschen insbesondere – aber nicht nur – vom Westbalkan die Chance zu geben, hier auf legalem Wege einzureisen, wenn sie geeignet sind und nachweisen können, dass sie hier einen Arbeitsplatz haben. Dies ist eine zusätzliche Möglichkeit, von der ich glaube, dass sie klug ist, von der ich aber auch überzeugt bin, dass sie natürlich nicht alle Probleme löst. Vielmehr wird sie nur einen schmalen Teil erreichen. Das ist eine wichtige und aus meiner Sicht richtige Maßnahme, die wir dort vorhaben.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir werden diese Herausforderungen aber nicht schultern können, wenn wir sie nur hier in Hessen und in Deutschland erfolgreich angehen. Wir müssen sie in ganz Europa angehen. Dazu gehört zwingend, dass sich alle Staaten Europas zu ihrer humanitären Verpflichtung der Aufnahme von Flüchtlingen bekennen. Die Vorschläge des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, gehen in die richtige Richtung. Ich hoffe sehr, dass es den heute tagenden europäischen Innenministern gelingt, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen.

Europa ist eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft, kein „Wünsch dir was“. Deshalb müssen die europäischen Regeln auch bei besonderen Herausforderungen gelten. Darauf müssen wir uns genauso verlassen können wie andere. Deutschland hat in den zurückliegenden Monaten und Jahren in hohem Maße Solidarität mit anderen Ländern gezeigt. Wenn Deutschland – oder Schweden, oder Österreich – in Europa nun Solidarität einfordert, ist das keine Flucht aus der Verantwortung, sondern Ausdruck unserer Wertegemeinschaft in einem gemeinsamen Europa.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Machen wir uns dabei keine Illusionen. Wer z. B. die derzeitige politische Diskussion in Polen, in Frankreich oder

in Großbritannien verfolgt – um nur diese drei Länder zu nennen –, der kann in etwa ermessen, wie weit dieser Weg noch ist. In den drei genannten Ländern herrscht eine völlig andere Grundstimmung. Dort ist man der Auffassung, dass das alleine unser Problem ist. Diese Länder sind der Überzeugung, dass das eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun hat. Das dürfen wir bei dieser Debatte nicht unterschlagen. Es geht nicht darum – z. B. morgen Abend beim Europäischen Gipfel der Regierungschefs in Brüssel –, mit der Axt dreinzuschlagen und alle anderen zu beleidigen. Davon halte ich gar nichts. Das würde deren Widerstand nur verstärken. Wir müssen die anderen vielmehr dazu bringen, dafür gewinnen, hier solidarisch zu sein.

Wir brauchen eine kohärente europäische Asylpolitik. Wir brauchen geordnete Verfahren an Europas Grenzen und eine gemeinsame europäische Anstrengung zur Verbesserung der Situation der Flüchtlinge, insbesondere in den Flüchtlingslagern im Nahen und Mittleren Osten. Meine Damen und Herren, ein gemeinsames Europa kann doch nicht zulassen, dass die Regeln dauerhaft ignoriert werden.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das betrifft nicht nur die Zahl der Einreisenden, sondern das bedeutet auch, dass niemand ernsthaft wollen kann, dass Extremisten oder Kriminelle in unser Land kommen. Wenn wir das verhindern wollen, ist eine Registrierung der Flüchtlinge schlicht unerlässlich. Ein geordnetes Verfahren zur Einreise in den Schengen-Raum ist absolut unverzichtbar.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die SPD-Fraktion klatscht zwar nicht, aber ich hoffe, wir sind uns in dieser Frage einig.

Das Öffnen der Grenzen und das Weiterleiten der Flüchtlinge nach Deutschland kann doch keine Lösung sein. Deshalb ist die zeitweilige Einführung von Grenzkontrollen durch Deutschland und andere Länder richtig.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber im Klaren sein: Das löst die Probleme nicht, aber es hilft, zu einem geordneten Verfahren zu kommen, und es verschafft unseren haupt- und vor allem unseren ehrenamtlichen Hilfskräften etwas Luft zum Durchschnaufen. Diese Luft brauchen sie. Deshalb war es richtig, diese Maßnahme zu ergreifen.

(Beifall bei der CDU)

Wir weisen niemanden ab, der Asyl beantragt. Aber wir müssen schon Wert darauf legen, zu wissen, wer überhaupt ins Land kommt. Auch eine entschlossene Bekämpfung der menschenverachtenden kriminellen Schlepperbanden ist unverzichtbar. Das gehört dazu.

Meine Damen und Herren, es kann doch nicht vernünftig sein, nichts dagegen zu tun, dass sich die Wanderungsbewegungen aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa ständig fortsetzen. Deshalb müssen wir möglichst alles tun, dass es in der Heimat der Flüchtlinge zu erträglichen und menschenwürdigen Verhältnissen kommt. Ich unterstütze deshalb die Vorschläge von Bundesentwicklungsminister Müller sehr, der in vielen Details deutlich gemacht hat, warum eine massive Anstrengung, gerade der Europäischen Union, aber auch der internationalen Gemeinschaft – das betrifft alle, inklusive den UNHCR –, zur Hilfe für die

Länder notwendig ist, in denen viele Tausende Menschen in Lagern leben müssen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, angesichts der historischen Dimension dieser Herausforderung ist jetzt nicht mehr der Augenblick, sich an Symbolthemen abzuarbeiten oder den Parteienstreit zu kultivieren. Wer jetzt nicht bereit ist, die vertrauten Muster zu verlassen, der hat das Gebot der Stunde absolut nicht erkannt. Bei aller Anerkennung der unterschiedlichen Rollen von Regierung und Opposition: Diese Herausforderung erfordert, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Die Landesregierung bietet das ausdrücklich an.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe deshalb in der letzten Woche die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen eingeladen, um sie über die Situation zu unterrichten und um uns auszutauschen, wie wir diese gemeinsame Aufgabe am besten erfüllen können. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Frau Wissler und den Kollegen für die konstruktive Atmosphäre dieser Begegnung und die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung zu tragen.

Diese gemeinsame Anstrengung soll sich aber nicht nur auf die Fraktionen des Hessischen Landtags beschränken. Ich habe deshalb für den 14. Oktober zu einem Asylkonvent in Hessen eingeladen. Dort wollen wir mit allen wichtigen Akteuren, von der Wirtschaft über die Gewerkschaften, von den Kommunen über die Kirchen, vom Sport bis zu den Ehrenamtsorganisationen und den Migrantenorganisationen, zusammenkommen, um über die Situation in Hessen zu sprechen, uns wechselweise auszutauschen, Erfahrungen aufzunehmen und gemeinsam daran zu arbeiten, wie wir diese große Aufgabe erfolgreich erfüllen können.

Meine Damen und Herren, verlassen Sie die ausgetretenen Pfade. Wir brauchen eine groß angelegte Zusammenarbeit, sonst werden wir diese Herausforderung nicht angemessen bewältigen. Deshalb wird dieser Asylkonvent keine einmalige Angelegenheit bleiben, sondern wir werden vor Weihnachten zum zweiten Mal zusammenkommen. Ich werden die Teilnehmer immer dann zusammenrufen, wenn die Situation und der Bedarf dieses Instrument nützlich erscheinen lassen, damit wir uns austauschen und nach den besten Wegen suchen. Dabei stehen die praktischen Hilfen im Mittelpunkt, nicht ideologische oder gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen. Die kann man an anderer Stelle führen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung machen. Die Bewältigung dieser Aufgabe wird uns umso besser gelingen, je mehr wir uns klarmachen, dass auch das Miteinander der politischen Klasse und die Art und Weise, wie wir mit dem Thema umgehen, sehr entscheidend dafür sind, ob es uns am Ende gelingt, diese Herausforderung erfolgreich zu meistern.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich werbe ausdrücklich dafür, sorgsam miteinander umzugehen. Die Diskussion um die Flüchtlinge ist zuweilen kein Beispiel für gute, sondern für eine schlechte Debattenkultur. Häufig werden die üblichen Parolen geschwungen. Derjenige, der sich für Flüchtlinge und Zuwanderer einsetzt, wird nicht selten als „realitätsverlorener Gutmensch“

gebrandmarkt. Derjenige, der Sorgen äußert, ob diese Entwicklung gestemmt werden kann, wird nicht selten als Populist, Ausländerfeind oder gar als Rassist beschimpft.

Meine Damen und Herren, es muss uns möglich sein, mit gegenseitigem Respekt auch Interessenkonflikte und die Gründe der Abwägung zu benennen und sorgfältig bedachte Entscheidungen zu treffen. Diese Aufgabe muss ein Anliegen für uns alle sein.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen sensibel bleiben für die Anliegen der Flüchtlinge. Wir dürfen die Sorgen unserer Bevölkerung nicht ignorieren und müssen die Schwierigkeiten benennen.

Wir, die Hessische Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen, wollen diese Herausforderung entschlossen anpacken: mit Kraft, mit Mut und mit Zuversicht. Wir wollen die Zukunft gemeinsam gestalten.

Wir wollen unsere humanitäre Verpflichtung erfüllen und unsere Möglichkeiten realistisch einschätzen. Eine Idee, und sei sie noch so toll, wird immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst und zur Ideologie wird. Eine kluge Verbindung von einer uns leitenden humanistischen Idee und einem realistischen Pragmatismus ist gefragt.

Meine Damen und Herren, deshalb sage ich: Ohne Herz und Empathie können wir diese Herausforderung nicht angehen. Ohne kühlen Verstand können wir die Herausforderung aber nicht meistern. Beides, nämlich Herz und Empathie sowie kühler Verstand, leitet unser Handeln, und beides ist die Agenda der schwarz-grünen Landesregierung und der sie tragenden Fraktionen. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Bevor wir in die Aussprache eintreten, darf ich auf der Tribüne unseren früheren Kollegen und Staatminister a. D. Wilhelm Dietzel begrüßen. Herzlich willkommen im Landtag.

(Allgemeiner Beifall)

Außerdem teile ich Ihnen mit, dass den Oppositionsfraktionen eine zusätzliche Redezeit von viereinhalb Minuten

(Günter Rudolph (SPD): Sagen wir fünf Minuten!)

okay, von fünf Minuten – zugestanden wird.

Damit kommen wir zur Aussprache. Als Erstem erteile ich Herrn Schäfer-Gümbel, dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD, das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

So lautet Art. 1 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes, unserer gemeinsamen Verfassung, also die oberste Leitlinie all dessen, was der Auftrag an alle staatliche Gewalt ist.

(Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken übernimmt den Vorsitz.)

Dazu, dass wir es derzeit mit keiner einfachen Aufgabe zu tun haben, hat der Ministerpräsident aus meiner Sicht Richtiges ausgeführt. Die derzeitige Flüchtlingskrise ist für unsere Kommunen, für die Länder und für ganz Europa eine immense Herausforderung. Wir haben es mit einer humanitären Katastrophe zu tun, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat.

Aylan Kurdi, der dreijährige syrische Junge, der vor Griechenland ertrunken ist – die Bilder von Aylan Kurdi sind sicherlich vielen von Ihnen im Gedächtnis –, hat dem Massensterben an den europäischen Grenzen Gesicht und Namen gegeben. Er ist einer der Menschen, die in Art. 1 des Grundgesetzes gemeint sind.