Protocol of the Session on December 15, 2011

(Zuruf des Abg. Stefan Müller (Heidenrod) (FDP))

Herr Müller, wir haben als GRÜNE eine lange Erfahrung damit, wenn man in der Regierung eine weitreichende Entscheidung für ein Land treffen muss und trotzdem seine Mitgliedschaft mitnehmen muss.

(René Rock (FDP): Ihr wart doch nur einmal an der Regierung beteiligt!)

Da haben wir eine weite Erfahrung. Ich kann nachvollziehen, wie schwer das ist. Man darf aber den Blick nicht verlieren, regierungsfähig zu bleiben. Den haben Sie verloren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Unter Punkt 3 Ihres Antrages machen Sie, Kollege Quanz hat darauf hingewiesen, einige Vorschläge, damit sich die Schuldenkrise nicht wiederholt. Darüber kann man diskutieren. Sie reden über Schuldenhöchstgrenzen, Sie reden über Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Darüber kann man sprechen. Aber das sind doch alles Fragen für die Zukunft. Es handelt sich doch um Fragen, wie Grenzen und Regelungen eingezogen werden, dass das, was wir gerade erlebt haben, sich nicht wiederholt.

Die spannende Frage ist doch aber: Was machen wir jetzt? – Da haben Sie keine Antwort. Sie müssen doch zugestehen, dass Staaten wie Griechenland, Italien, Irland und möglicherweise auch Portugal massive Probleme haben, sich am Finanzmarkt zu refinanzieren. Das müssen Sie doch ernst nehmen. Da bleiben Sie jegliche Antwort schuldig. Da gibt es überhaupt keine Antwort von Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

Herr Reif, ich habe auch von Ihrer Fraktion keine Antwort dazu gehört. – Der Oberbegriff, um den es gehen

muss, ist Vertrauen. Wir müssen Vertrauen haben in Staaten, dass sie sich wieder refinanzieren können, wir müssen Vertrauen in Staatsanleihen haben. Wir müssen auch Vertrauen in Anleihen haben, die jetzt die EFSF herausgibt und später der dauerhafte Rettungsschirm. Es muss doch Vertrauen dafür geben, dass nicht wieder gegen die Finanzkraft von Staaten spekuliert wird. Da bleiben Sie jegliche Antwort schuldig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Sie lassen alles offen und bestätigen in Ihrem Antrag auch noch, und haben es hier auch noch einmal gesagt, dass die EZB auf keinen Fall eingreifen soll. Herr Rentsch, nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis, dass die EZB eingegriffen hat. Das war auch richtig und wichtig.

(Florian Rentsch (FDP): Das sehen Sie so!)

Die EZB hat bereits für über 200 Milliarden € Staatsanleihen aufgekauft. Das war gut und richtig so. Wenn Sie jetzt ständig die Signale dafür setzen, dass das alles nicht sein darf, und auch noch infragestellen, ob Sie als FDP den ESM überhaupt gut finden, und dazu erst einmal einen Mitgliederentscheid durchführen – –

(Florian Rentsch (FDP): Seien Sie doch auch einmal so demokratisch, und stimmen Sie Dinge an der Basis ab!)

Herr Rentsch, wir haben eine lange Erfahrung, wie man Mitglieder in demokratische Verfahren einbindet. Das können wir Ihnen gerne einmal erklären. Das machen wir gerne.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SDP – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Ich gebe Ihnen einen gut gemeinten Rat: Es ist immer schlecht, wenn Vorsitzende vor Ablauf einer demokratischen Mitgliederentscheidung sagen, es sei alles schon gelaufen, der Entscheid sei verloren. Das kommt immer ganz schlecht, das kann ich Ihnen aus langjähriger Erfahrung als GRÜNE sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Von daher tun wir so etwas auch nicht und binden unsere Mitgliedschaft frühzeitig ein. Das ist manchmal schmerzhaft und kostet viel Kraft und viel Zeit. Wir haben auch unser Lehrgeld zahlen müssen. Ich bin an diesem Punkt überhaupt nicht überheblich. Das muss man machen und Kritikerinnen und Kritiker so einbinden, dass es nach außen nicht zerschießt. Sie haben diesen Punkt verpasst und die Glaubwürdigkeit nach außen verloren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn es Zweifel daran gibt, dass eine Regierungspartei in Berlin den Rettungsschirm überhaupt will, von dem die Bundeskanzlerin verkündet, er werde vorgezogen, wer soll Ihnen denn dann noch etwas glauben?

Sie stellen zur Abstimmung, dass Sie diesen Rettungsschirm vielleicht gar nicht wollen. Die Bundeskanzlerin verkündet unterdessen, er werde um ein Jahr vorgezogen. Was sollen denn die Anlegerinnen und Anleger machen? – Die kaufen doch dann die Anleihen nicht. Damit haben Sie ein Stück Schuld daran, dass diese Anleihen nicht so wirken, wie sie hätten wirken können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie bleiben uns also eine Antwort schuldig, wie Sie kurzfristig mit dem Problem der Staaten umgehen wollen, die sich jetzt am Kapitalmarkt nicht finanzieren können. Sie haben keine Antwort, wie Sie Vertrauen schaffen wollen in Staatsanleihen, wie Sie Vertrauen schaffen wollen in die Anleihen des vorübergehenden und des dauerhaften Rettungsschirms.

Mittelfristig – da bin ich mir ganz sicher, und ich denke, auch die Bundeskanzlerin sieht es so – werden wir Eurobonds brauchen. Die lehnen Sie jetzt aus purer Ideologie ab. Aber wir werden sie brauchen unter klaren, fest umrissenen Bedingungen. Wir werden sie brauchen unter der Voraussetzung, dass die Staaten konsolidieren. Wir werden sie brauchen unter der Voraussetzung, dass die Staaten ihre Ausgabenpolitik überprüfen, aber nicht nur. Sie werden auch ihre Einnahmepolitik überprüfen müssen. Wie sie das machen, ist Sache der Mitgliedstaaten. Da bin ich nicht so nahe bei der SPD. Unser Steuerrecht ist ein gutes, aber ich würde es nicht auf jedes Land überstülpen wollen. Das muss das Land für sich entscheiden, aber es muss passieren.

Außerdem muss etwas passieren, was Sie immer in das Reich des Undenkbaren verweisen: die Finanztransaktionssteuer. Auch die wird es geben müssen. Ich bin mir sicher, es wird sie in verantwortlicher Position geben müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Sinne kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich unseren Antrag noch einmal an. Er sagt das Richtige. Stimmen Sie ihm zu. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Erfurth. – Für die Landesregierung hat nun Herr Europaminister Hahn das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte sozusagen vor der Klammer noch einmal auf etwas hinweisen, womit ich fast jede Erklärung der Landesregierung, aber auch schon vorher als Fraktionsvorsitzender der FDP zum Thema Europa begonnen habe: Gäbe es nicht die Europäische Union, ich würde Sie heute auffordern, diese heute unverzüglich gemeinsam zu gründen.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Europäische Union ist die Grundlage für Frieden, ist die Grundlage für Freiheit, ist die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben, das in diesem Gebiet in den letzten Jahrhunderten leider immer wieder anders organisiert worden ist.

Die Europäische Union ist die Grundlage dafür, dass Konflikte nicht mehr mit dem Gewehr, sondern in einem gemeinsamen Wertesystem gelöst werden. Deshalb bitte ich um Verständnis. Das haben Sie aus meinem Mund bestimmt 50-mal gehört, und umso mehr überrascht es mich, wenn Sie hier im Hessischen Landtag das Bild stellen, als

würde die Landesregierung, als würde meine Partei, als würde meine Person Europa auf das Thema Finanzen reduzieren. Das ist schlicht unwahr.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das sage ich hier sehr deutlich, auch mit einer nötigen Emotion. Wir lassen uns nicht darauf reduzieren, worauf Sie uns gerade reduzieren wollen. Es waren führende Liberale, die die Europäische Union mit gegründet haben. Ich will nur an unseren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss erinnern.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Florian Rentsch (FDP): Da gab es die GRÜNEN noch nicht!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Umgang ist nicht in Ordnung.

Zum Zweiten bin ich dem Vizepräsidenten dieses Landtags – ich sage das bewusst so –, dem Kollegen Quanz, sehr dankbar dafür, dass er diese Debatte auch genutzt hat, um die grundlegenden Fragen Europas noch einmal darzulegen. Lothar Quanz hat gefragt: Quo vadis, Europa? Lothar Quanz hat – ich möchte das für meine Person, für die Landesregierung wiederholen – auf die besonderen Schwierigkeiten, Abwägungsnotwendigkeiten hingewiesen, die wir zu beachten haben, um überhaupt zu einer Antwort zu kommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können uns nicht hierhin stellen und sagen, wir wünschen uns gerne ein Europa, das so und so und so aussieht. Das können wir tun, aber das ist relativ irreal. Vielmehr müssen wir beachten, dass es z. B. den Widerspruch zwischen Souveränität der Nationalstaaten auf der einen Seite und Gemeinschaftsverantwortung auf der anderen Seite gibt.

Bei dem Thema Souveränität ist vorhin darauf hingewiesen worden: Manche machen das z. B. schon bei Veränderungen der Europäischen Verträge mit Mitgliederentscheid. Andere haben eine Verfassung, wie wir das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland haben, das einen gewissen Rahmen setzt.

(Zuruf des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Das haben Sie auch nicht gemacht. – Ich will nur darauf hinweisen, wir können nicht nur nach dem Motto „Wünsch dir was“ vorgehen, sondern wir müssen auch nach dem Motto vorgehen: Was ist überhaupt möglich? – Souveränität der Nationalstaaten auf der einen Seite, Gesamtverantwortung Europas – so nenne ich das jetzt einmal wertfrei – auf der anderen Seite.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Ich bin Lothar Quanz besonders dankbar, dass er das zweite Thema noch einmal aufgerufen hat. Es ist das Thema demokratische Legitimation in einem gemeinsamen Europa.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, da werden wir wohl zur Kenntnis nehmen müssen, was uns das Bundesverfassungsgericht vor etwas über zwei Jahren ins Stammbuch geschrieben hat. Es hat festgestellt, dass das Europäische Parlament nach den Regeln des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland kein demokratisch legitimiertes Parlament ist. Das ist polemisch in der Debatte bis hin zu der Zeitung mit dem klugen Kopf anders kommuniziert worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verfassung unseres Landes geht davon aus, dass die Wahlen unter anderem gleich sind, dass sie geheim und gleich sind. Aber sie sind nicht gleich, da der Wähler, die Wählerin in Luxemburg aufgrund der Sitzverteilung im Europäischen Parlament eine viel höhere Stimmengewichtung erfährt als z. B. ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Lieber Kollege Lothar Quanz, was drittens in meinen Augen neben der Frage der Souveränität und der Demokratie zu „Quo vadis, Europa?“ gehört, ist das Thema Rechtsstaat.

Wir müssen uns auch in Europa daran gewöhnen – offensichtlich ist es ein etwas schwieriger Prozess, der eben auch mit der Zwischenfrage des Kollegen Schäfer-Gümbel verbunden war –, ich möchte auch, dass wir uns in Europa endlich daran gewöhnen, dass keine Entscheidung heilig ist, sondern dass wir in Europa genauso wie in der Bundesrepublik Deutschland drei Säulen der Demokratie haben. Das ist die erste Gewalt, das Parlament, die zweite Gewalt ist die Landesregierung, die Exekutive, und die dritte Gewalt ist die unabhängige – ich sage bewusst: die unabhängige – Justiz.