Protocol of the Session on October 4, 2011

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zurufe von der CDU: Oh! – Na, na, na! – Zuruf des Abg. Wolfgang Greilich (FDP))

Herr Minister Hahn, Sie hatten Bilanz und Ausblick angekündigt. Wenn das Ihre Bilanz war, ist Ihre Bonität in höchster Gefahr.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn das der Ausblick auf die Zukunft war, dann haben die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes von dieser Landesregierung auch integrationspolitisch nicht mehr viel zu erwarten.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister, das muss man – ich sage ausdrücklich: leider – nach Anhören dieser in Form und Inhalt vollkommen uninspirierten Rede sagen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage „leider“, weil ich eigentlich positiv anfangen wollte. Ich wollte dieses eine Mal nicht der Geist sein, der stets verneint. Ich wollte der Frage aus dem Weg gehen: „Herr Merz, wo bleibt denn das Positive?“, schon allein deswegen, weil die unsterbliche Antwort von Erich Kästner war: „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.“ Ich wollte gleich von Anfang an positiv sein und die Landesregierung loben. Ich wollte sie dafür loben, dass es diese Regierungserklärung überhaupt gibt, dass die Landesregierung überhaupt den Versuch macht – so hatte ich jedenfalls die Überschrift über dieser Regierungserklärung verstanden –, ihre Position zur Integrationspolitik einmal im Zusammenhang vorzutragen und zur Diskussion zu stel

len. Das nämlich ist bis dato schmerzlich vermisst worden.

Der Tag heute wäre ein guter Zeitpunkt dafür. Wir sind am Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit, der gewiss auch Anlass ist, darüber nachzudenken, wer oder was die Nation ist, wer dazugehört, wer dazugehören soll. Gestern nahmen an der Feierstunde in Gießen mit großer Selbstverständlichkeit, wie immer, auch Vertreter des Ausländerbeirats, viele Freundinnen und Freunde aus den Migrantenorganisationen und auch die Repräsentanten aller Gießener Moscheegemeinden teil.

Gleichzeitig fand gestern, wie auch seit vielen Jahren, landauf, landab der Tag der offenen Moschee statt, für den bewusst dieser Termin gewählt wird. Die Menschen mit Migrationshintergrund setzen damit ein Zeichen der Zugehörigkeit, genauer gesagt, sie setzen ein Zeichen des Sich-dazugehörig-Fühlens und des Dazugehören-Wollens.

Unsere Frage heute müsste also lauten: Wie machen wir aus dem Sich-zugehörig-Fühlen und -Wollen ein tatsächliches Dazugehören? Dazu muss man sagen, dass die Frage, wer zu dieser deutschen Nation gehört und wer dazugehören soll, nicht leicht zu beantworten ist. Das zeigt auch ein Blick auf ein anderes Datum.

Ende dieses Monats wird der 50. Jahrestag des Abschlusses des Anwerbeabkommens mit der Türkischen Republik begangen. Wir alle wissen, dass sich die meisten Integrationsdebatten ausgesprochen oder unausgesprochen um die Integration der türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes drehen, Bürgerinnen und Bürger der ersten, zweiten und dritten, manchmal schon der vierten Generation. Im engeren Sinne drehen sich viele Debatten auch – so ist es auch hier wieder angeklungen – um die Rolle des Islam in diesem Land, den gerade diese Angeworbenen – nicht nur sie, aber in größerem Maße sie – nach Deutschland mitbrachten.

Gehören sie, gehört der Islam im wiedervereinigten Deutschland zu Deutschland? Ich will diese Frage ohne Wenn und Aber bejahen. Aus unserer Sicht gehört zu Deutschland, wer hier heimisch werden will, wer hier seine Wurzeln schlagen will oder schon geschlagen hat, wer bereit ist, in diesem Land auf der Grundlage der rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung des Grundgesetzes zu leben und seine daraus resultierenden Rechte und Pflichten wahrzunehmen.

(Beifall bei der SPD – Leif Blum (FDP): Eine bahnbrechende Erkenntnis!)

„Ubi bene, ibi patria“ – wo es mir wohlergeht, da ist mein Vaterland, sagt Cicero. Viele Migrantinnen und Migranten sehen das genauso, zumal sie zu diesem Wohlergehen sehr viel beigetragen haben. Deshalb möchte ich die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, den türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes für den gewaltigen Beitrag zu danken, den sie in diesen vergangenen 50 Jahren zu unser aller Wohlstand geleistet haben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie des Abg. Ismail Tipi (CDU))

Es ist ihnen materiell und ideell nicht immer gedankt worden. Es ist höchste Zeit, ihnen etwas zurückzugeben, damit es ihnen wohlergeht und damit auch deshalb dieses Land ihr Vaterland wird.

Meine Damen und Herren, viele gute Anlässe also für den Versuch einer gründlichen Standortbestimmung und für

die Eröffnung neuer Perspektiven einer zukunftsorientierten Integrationspolitik. Das Dumme ist nur – damit verlasse ich den positiven Teil meiner Rede leider schon –, dass es beim Versuch geblieben ist. Herr Minister, das, was Sie hier heute vorgetragen haben, ist leider hinter den Erwartungen und den Möglichkeiten, vor allem hinter den Notwendigkeiten zurückgeblieben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister, ich habe ganz am Anfang Mephisto zitiert. Sie sind auch nicht Mephisto. Sie sind nicht Teil der Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Herr Minister, Sie sind eher Teil der Kraft, die manchmal Gutes will, das aber selten schafft.

(Heiterkeit bei der SPD – Zuruf des Abg. Leif Blum (FDP))

Genau danach war Ihre Rede heute leider eben auch. Es war dies die sattsam bekannte Mischung aus Eigenlob und ein paar Allerweltsweisheiten. Herr Minister, das führt nicht zu integrationspolitischer Glaubwürdigkeit, es führt nicht zu einer glaubwürdigen Botschaft und schon gar nicht zu einer in sich stimmigen und konsistenten Integrationspolitik. Es war eine Rede nach dem Muster, das uns schon während der gesamten Dauer Ihrer Amtszeit aufregt: ein Hin- und Herschwanken, eine irritierende Unklarheit Ihres grundsätzlichen Standpunktes.

Sie haben Sarrazin kritisiert und ihn gleichzeitig eingeladen. Sie haben in mehreren Debatten hier nicht den Mut aufgebracht, klar und unzweideutig gegen die Tiraden des Kollegen Irmer und gegen die obstruktiven Äußerungen des Herrn Wagner Stellung zu beziehen. Sie haben in der Frage des bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts immer wieder missverständliche Botschaften ausgesendet und damit zu der gegenwärtigen verfahrenen Situation beigetragen.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben bis heute eigentlich nichts vorzuweisen, was den Anspruch, der Integrationsminister des selbst proklamierten Integrationslandes Nummer eins zu sein, in irgendeiner Weise rechtfertigen würde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, das ist natürlich auch kein Wunder, wenn man den inneren Zustand dieser Landesregierung und vor allem den inneren Zustand der Regierungskoalition betrachtet. Denn integrationspolitisch ist diese Regierungskoalition die Wiedervereinigung von Pferd und Hindernis:

(Heiterkeit bei der SPD)

Hier ist der Minister, der wie Fury unternehmungslustig schnaubt und sich mal hierhin und mal dorthin vergaloppiert; und da unten sitzt, jedenfalls wenn sie sitzen, der Doppeloxer, bestehend aus den Herren Wagner und Irmer. Und wenn sich der Kollege Bellino, der jetzt auch nicht da ist, einmal querlegt, dann haben wir eine Mauer mit Birkenrick oder, wie sie im Hamburger Reit- und Fahrderby sagen, Pulvermanns Grab.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf diese Weise kommt man natürlich nicht vom Fleck.

Meine Damen und Herren, Sie sind – das muss zu Ihrer teilweisen Entschuldigung gesagt werden – mit einem Koalitionspartner geschlagen, der, wie ich es einmal ausdrücken möchte, die Integrationspolitik nicht gerade zu einem erklärten Schwerpunkt seiner Politik gemacht hat.

(Günter Rudolph (SPD): Das können Sie schon zugeben, Herr Irmer!)

Das sind eine Partei und eine Fraktion, für die schon die Aussage des Bundespräsidenten, dass der Islam zu Deutschland gehört, ein unglaublicher Affront war, in denen die verfassungsrechtliche Notwendigkeit und Möglichkeit eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts im Grundsatz bestritten wird und

(Leif Blum (FDP): Jetzt kommt gleich, was die SPD will! – Judith Lannert (CDU): Da bin ich gespannt!)

die in jedem bekennenden Muslim einen potenziellen Extremisten und in jeder Frau mit Kopftuch eine potenzielle Extremistin sehen. Kollege Tipi hat erst vor Kurzem wieder gesagt, dass er das Kopftuch für ein Integrationshindernis hält.

(Zurufe von der CDU)

Ich sage: Integrationshindernisse sind diejenigen, die muslimische Frauen mit Kopftuch diskriminieren. Das geschieht leider jeden Tag. Erst letzte Woche war ich in meiner Sprechstunde mit einem konkreten Fall konfrontiert.

Das sind eine Partei und eine Fraktion, die von allen Muslimen in Deutschland erwarten – so zuletzt Herr Kollege Bellino in diesem Landtag –, dass sie sich von allem distanzieren, was irgendwann und irgendwo auf dieser Welt von einem Muslim gemacht worden ist, ohne dass sie bei gegebenem Anlass Gleiches von den Islamkritikern, auch von denen in den eigenen Reihen, verlangen würden.

Schließlich sind das eine Partei und eine Fraktion, die sich noch jeder Verbesserung des Staatsangehörigkeits-, des Aufenthalts- und des Asylrechts widersetzen und die Veränderungen des Härtefallgesetzes hier mit den Worten begründet haben, mit der weichen Linie gegenüber kriminellen Ausländern sei nun Schluss. Mit einer solchen Partei und einer solchen Fraktion im Regierungslager ist integrationspolitischer Fortschritt nun einmal nicht zu machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN – Leif Blum (FDP): Jetzt kommt, was die SPD will!)

Nein, jetzt beziehe ich mich immer noch auf das, was der Herr Minister hier als Bilanz vorgetragen hat. – Deshalb käme es darauf an, dass der Integrationsminister dieses Landes eine feste Haltung, eine klare Analyse der Probleme und einen konsistenten Lösungsansatz in der Integrationspolitik hat, diese Position laut und deutlich formuliert und sie endlich in dieser Koalition durchsetzt. Genau das macht er nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN – Leif Blum (FDP): Jetzt kommt, was die SPD will!)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Herr Minister, es ist nicht alles schlecht, was aus Ihrem Haus kommt.

(Zuruf von der FDP: Wie großzügig!)

Es gibt auch in anderen Häusern dieser Landesregierung durchaus verdienstvolle Ansätze in dieser oder jener integrationspolitisch relevanten Frage.

Es ist anzuerkennen – die beiden wissen auch, dass wir das anerkennen –, dass sich die beiden Staatssekretäre redlich um einen Erfolg in der Frage des islamischen Religionsunterrichts bemühen. Es ist gut, dass mit den Kollegen Bauer und Mick auch in den Reihen der Koalitionsfraktionen engagierte und kenntnisreiche Verfechter einer zukunftsorientierten Integrationspolitik arbeiten. Leider genügt das alles aber nicht, um das Gesamtbild nachhaltig aufzuhellen.

(Zuruf des Abg. Leif Blum (FDP))

Wenn man fragt, wo man in Hessen in Sachen Integrationspolitik tatsächlich vorangekommen ist, wird als Ers tes immer darauf hingewiesen, dass wir jetzt ein Integrationsministerium hätten. Nun haben wir schon, als es um die Namensgebung des jetzt wieder so heißenden Sozialministeriums ging, die Frage erörtert, was der Name eines Ministeriums über Qualität und Inhalt der Politik aussagt. Wir haben feststellen müssen, dass die Korrelation zwischen Name und Inhalt eher nicht signifikant ist. Herr Minister, das gilt leider auch für Ihr Haus.