Protocol of the Session on March 3, 2011

Jetzt möchte ich noch in der verbleibenden Zeit ein paar Bemerkungen zur Frage des Spracherwerbs machen. Die Äußerungen von Herrn Erdogan zu dieser Frage sind zweideutig und entsprechend auch unterschiedlich interpretiert worden. Ich will vor dem Hintergrund der Anhörung und der sehr intensiven Debatten in der Enquetekommission Folgendes sagen, was unstreitig zu sein scheint oder was mir zumindest in der Wissenschaft und der Sprachpädagogik unstreitig zu sein scheint:

Erwiesen scheint mir, dass das gleichzeitige Erwerben von Muttersprache und deutscher Sprache den Erwerb beider Sprachen eher fördert, zumindest aber den Erwerb der deutschen Sprache nicht behindert. Es scheint mir erwiesen, dass mehrsprachige Angebote im Kindergarten der Sprachförderung insgesamt dienlich sind. Es scheint mir erwiesen, dass die meisten Kinder mit Migrationshintergrund von vornherein in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen, sodass sich die Frage: „Zuerst das, dann das?“ in der Realität meist nicht stellt.

Es scheint mir erwiesen, dass es ein unveräußerliches Recht auf das Erlernen und den Gebrauch der Muttersprache gibt, was übrigens historisch auch von deutschen Minderheiten in anderen Ländern reklamiert worden ist, und zwar zu Recht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Der europäische Referenzrahmen Fremdsprachen besagt, dass jedes Kind in der EU zukünftig drei Sprachen beherrschen soll. Schon allein deshalb wäre es nicht wirklich klug, den Kindern eine Sprache, die sie schon mitbringen, erst einmal auszutreiben.

Drittes Thema. Würden wir eine Sprachen- und Sprachförderung betreiben, die diesen Anforderungen gerecht würde, dann würde es sich vielleicht bald erübrigen, das Thema Integration versus Assimilation zu diskutieren. Natürlich ist es richtig, dass niemand, der sich ernsthaft an der Integrationsdebatte beteiligt, noch von Assimilation spricht. Natürlich ist es auch richtig – z. B. Cem Özdemir hat darauf hingewiesen –, dass die Frage letztendlich von den Menschen selbst beantwortet wird. Aber richtig ist auch, dass es bei den Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor vielfach Angst vor Entfremdung von den eigenen kulturellen, sprachlichen und religiösen Wurzeln gibt, Angst vor der Entfremdung der Kinder von ihren Familien und ihren Elternhäusern.

Herr Merz, die sechs Minuten sind erreicht.

Das ist eine Angst, die nicht nur Migrantenfamilien kennen. Wir hier alle müssen durch praktische Politik dazu beitragen, dass der Resonanzboden dafür nicht geschaffen, sondern dass er entzogen wird. Das wäre Anlass zu Diskussionen und zum Handeln. Dann müssten wir uns wahrscheinlich nicht mehr mit den mehr oder weniger fragwürdigen Äußerungen türkischer Ministerpräsidenten beschäftigen. Wir haben auch mit fragwürdigen integrationspolitischen Äußerungen im eigenen Haus schon genug zu tun. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herr Merz, vielen Dank. – Als Nächste spricht Frau Cárdenas für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Erdogan hat besten türkischen Wahlkampf für die türkischen Parlamentswahlen am 12. Juni geboten – und das in Düsseldorf auf deutschem Boden. Seine Anhänger hat Erdogan einmal mehr mit Warnungen vor Islamophobie und Ausländerfeindlichkeit begeistern können. Dass er damit bei den hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund an real vorhandenen Ängsten anknüpfen kann, muss auch uns zu denken geben. Herr Tipi, es geht nicht um Fernsteuerung. Es ist der Denkzettel für eine jahrzehntelange Politik der Ausgrenzung.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU) – Willi van Ooyen (DIE LINKE): Gegen Ausländerfeindlichkeit haben wir etwas!)

Aber auch die Hessische Landesregierung weiß seine Rede und das Thema Integration für ihre innenpolitischen Zwecke zu missbrauchen. Statt sich an dem nationalkonservativen Ministerpräsidenten zu reiben und Hessen als angebliches Musterland der Integration zu betiteln, sollte sie sich lieber handfest um die Verbesserung der Lebensbedingungen der hier lebenden Migrantinnen und Migranten kümmern, die immerhin ein Viertel unse

rer Bevölkerung in Hessen darstellen, mit wachsendem Anteil.

Die Expertenberichte in der Enquetekommission des Landtags haben gezeigt, dass Migrantinnen und Migranten häufiger erwerbslos und überproportional von Leih arbeit betroffen sind.

(Ismail Tipi (CDU): Wer ist schuld daran?)

Insbesondere die Situation von Migrantinnen und Migranten ohne deutschen Pass ist dramatisch. Von einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt kann keine Rede sein. Wir stoßen in der Enquetekommission immer wieder darauf, dass in erster Linie soziale Ursachen der Grund für Integrationsprobleme von Migrantinnen und Migranten, auch türkischer Herkunft, sind. Sie lassen sich deshalb nicht mit dem von der CDU vorgebeteten Allheilmittel, nämlich mit dem Beherrschen der deutschen Sprache, lösen. Aus der Praxis wissen wir, dass deren Kenntnis zwar wichtig, aber nicht ausreichend für eine gute Integration ist; denn viel zu viele kompetent mehrsprachige, also auch kompetent deutschsprachige Migrantinnen und Migranten haben trotzdem nicht die gleichen Chancen, bekommen hier keinen Ausbildungsplatz und keinen Arbeitsplatz.

Wir sagen: Es geht doch nicht um eine Entscheidung der Eltern zwischen Muttersprache oder deutscher Zweitsprache, wie von der CDU und von Herrn Tipi etwas abgeschwächt suggeriert wird. Richtig ist vielmehr: Eltern sollen die Sprache als Familiensprache für ihre Kinder wählen, in der sie sich am sichersten fühlen und die sie qualitativ am besten vermitteln können.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Petra Fuhr- mann (SPD))

Das ist inzwischen in vielen Familien der zweiten oder dritten Generation Deutsch. In manchen Familien ist es aber auch Türkisch oder Urdu oder Farsi oder Kurmandschi, oder was weiß ich. Die Hauptsache ist, dass die erste Sprache von guten Sprachvorbildern vermittelt wird und dass die Nachbarschaft, Kita und Schule, auf dieser Grundlage mit weiterer Sprachförderung aufbaut und damit die Grundlage für eine kompetente Mehrsprachigkeit legt, die von Europa auch gefordert wird, wie Herr Merz es ausgeführt hat.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die Sprachdebatte lenkt deshalb von den wahren Problemen der Migrantinnen und Migranten in Deutschland ab.

(Holger Bellino (CDU): Sprachprobleme sind die Ursache!)

Sie sind von den sozialen Problemen im Bildungssystem stärker betroffen. Sie werden diskriminiert und ausgegrenzt. Verantwortlich dafür ist die Politik der Bundesund Landesregierung der letzten Jahre.

Die hessische CDU spricht sich dafür aus, Integration mithilfe eines sogenannten Integrationsmonitorings messen zu wollen, wie es gerade die Stadt Wiesbaden macht. Gemessen werden sollen Sprache, Bildung und Arbeitsmarktintegration. Ein Monitoring aber, so meinen wir, welches nicht in einen grundlegenden Politikansatz für gleiche Teilhabe aller hier lebenden Menschen eingebunden ist, läuft Gefahr, wenig aussagekräftig zu sein oder gar kontraproduktiv zu wirken. Meine Damen und Herren, bei einer Messbarkeit muss die Perspektive geändert werden.

Wir denken und wissen, dass die sozialen Ursachen mangelhafter Integration berücksichtigt werden müssen, um passgenau Ziele und Methoden formulieren zu können, mithilfe derer Integration erreicht werden soll und erhalten werden kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Integration will, muss Ausgrenzung und Diskriminierung verhindern. Die sprachliche Entwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund verbessern zu wollen, bedeutet, sich für einen Rechtsanspruch auf kostenlose ganztätige Kita- und Kindergartenplätze einzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN – Holger Bellino (CDU): Alles kostenlos!)

Wer geringere Bildungserfolge von Migrantinnen und Migranten kritisiert, muss ganztägige Gemeinschaftsschulen bis zur Klasse 10 als Regelschulen und darin individuelle Förderung anbieten.

(Mario Döweling (FDP): Schwachsinn!)

Wer die fehlende oder mangelhafte Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kritisiert, muss eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Um die wachsende Armut von Migrantinnen und Migranten zu beheben, muss die Bundesregierung einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 € einführen und den Regelsatz von Hartz IV auf mindestens 500 € anheben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein letzter Punkt. Herr Bellino, wer mangelnde Integrationsbereitschaft beklagt,

(Holger Bellino (CDU): Ich habe auch Integrationshintergrund! Ich bin auch assimiliert!)

muss Möglichkeiten der Teilhabe und demokratischen Partizipation wie das kommunale Wahlrecht oder eine erleichterte Einbürgerung schaffen. Das wären kluge Schritte zur Integration. – Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Petra Fuhr- mann (SPD) – Horst Klee (CDU): Thema verfehlt!)

Vielen Dank, Frau Cárdenas. – Für die FDP-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Mick.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich muss gestehen, ich finde, das ist eine sehr merkwürdige Debatte. Frau Cárdenas, lassen Sie mich zunächst auf Sie eingehen.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Offensichtlich ist Ihnen jedes Thema recht, um wieder die Platte mit dem Mindestlohn aufzulegen. Das zu verknüpfen, ist schon eine ganz besondere Leistung.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen, dass ich Sie ansonsten schätze und dass wir in vielen Punkten einer Meinung sind. Aber das war wirklich sehr skurril.

(Demonstrativer Beifall der Abg. Mürvet Öztürk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ui!)

Meine Damen und Herren, die erneute Rede des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan hat die Wogen in der Integrationsdebatte wieder einmal hochschlagen lassen.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Ich möchte das nicht weiter befeuern, sondern versuchen, ein bisschen zur Sachlichkeit der Debatte beizutragen. Deswegen möchte ich zunächst einmal klarstellen, dass wir durchaus die Reformen in Richtung Marktwirtschaft und in Richtung Menschenrechte, die auch und gerade unter der Regierung des Ministerpräsidenten Erdogan in der Türkei vorangetrieben worden sind, sehr anerkennen und sehr schätzen. Ich denke, das gehört zur Wahrheit dazu.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Zum anderen möchte ich darauf hinweisen, dass auch einige vernünftige Passagen in dieser Rede enthalten waren, z. B. das Bekenntnis zum gegenseitigen Respekt und zum Dialog und auch das Bekenntnis zur Integration der in Deutschland lebenden türkischen Menschen. Das sind positive Aspekte, die ich nicht unerwähnt lassen möchte.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)