Protocol of the Session on November 17, 2010

Pro Tag machen die Kraftwerke ab dem 01.01.2011 1 Million € Gewinn. Die Laufzeitverlängerung schafft mindestens 4.000 t mehr Abfall, für dessen Entsorgung aber nicht die Kernkraftwerke, sondern wir bezahlen. Eine sichere Entsorgung für 1 Million Jahre ist ein Zeitraum wie vom Homo erectus bis heute. Es gibt aber auf der ganzen Welt noch kein Endlager. Es läuft alles nach dem Motto: Nach mir die Sintflut. Die Vorschläge in der aktuellen Woche, dass man das jetzt nach Russland, in die verstrahlten Gebiete verschicken könne, zeigt mir nur allzu deutlich, wie unsinnig diese Debatte inzwischen geführt wird. Es ist ein Stück aus dem Tollhaus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer für die Atomkraftwerksbetreiber ist, sieht dann in Marburg eine Öko-Diktatur, weil sie Hauseigentümern eine Warmwasseranlage aufs Dach zwingt. Herr Lenders hat hierzu gestern, zumindest nach dem, was ich am Lautsprecher mitverfolgen durfte oder musste, einen grandiosen Beitrag gebracht: Es sei eine Öko-Diktatur. – Die Solarsatzung in Marburg ist in Hessen aber ein Energieleuchtturm: der Bundessieger Luftqualität 2006, Deutscher Solarpreis 2008, Preisträger kommunaler Klimaschutz 2009, Aufstieg in die Solarbundesliga 2009. Der Dank für diese beeindruckende Bilanz gilt Herrn Oberbürgermeister Egon Vaupel und der rot-grünen Koalition in Marburg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das sehen die Bürger in Marburg aber anders!)

Herr Wagner, diese beispielhafte Satzung wollen Sie kippen. Sie versuchen hier im Landtag mit allen Mitteln und Wegen,

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Mit rechtsstaatlichen Mitteln!)

die kommunale Selbstbestimmung auszuhöhlen, damit sich die kommunale Familie Ihrem Diktat als parlamentarischer Arm der Konzerninteressen von RWE nicht entzieht. Genau das ist der Kern, um den es heute geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, ich habe Sie am Wochenende schriftlich aufgefordert, sich im Bundesrat aktiv einzu

bringen und diesen Irrweg zu beenden. Wir haben von Ihnen bis heute keine Antwort. Sie werden uns heute sicherlich ausführlich erklären, warum das, was in Berlin gerade passiert, mit den Länderinteressen, mit der Frage der Entwicklung dieses Landes nichts zu tun haben wird.

Wenn Sie uns das aber nicht glaubhaft machen können – ich habe keine Vorstellung davon, dass Sie es wirklich könnten, weil es eine Nebeldebatte ist, die Sie hier geführt haben –, fordere ich Sie noch einmal auf – dazu haben Sie hier und heute die Möglichkeit –, zu erklären, dass Sie im Bundesrat gegen die Entscheidungen des Deutschen Bundestages und der dortigen Mehrheit Widerspruch einlegen und dass Sie die Laufzeitverlängerung stoppen, mit Ihrem politischen Gewicht, das Sie jetzt nach der Wahl vom vergangenen Montag haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will nun zum Punkt des Geldes kommen, der im Moment politisch am interessantesten ist und über den viel gestritten wird.

(Leif Blum (FDP): 20 Minuten Haushaltsrede!)

Herr Blum, Sie wissen, dass es eine Grundsatzdebatte über die Grundlinien der Politik ist. Die Haushaltsdebatte für das Finanzressort werden wir auch noch im Detail führen; und deswegen ist der finanzielle Teil ein Teil der Generaldebatte. Dass allerdings ausgerechnet Sie über Geld reden wollen, verwundert mich sehr, weil Sie als Schuldenkönige Hessens am allerwenigsten etwas von Geld verstehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will aber mit einem anderen Punkt beginnen, weil es manche gibt, die im Moment nicht ganz ernsthaft meinen: „Kaum ist Karlheinz Weimar weg, schon sprudeln wieder die Einnahmen.“

Herr Weimar, wir beide waren uns schon am Wochenende einig: Das ist nicht fair; dafür können Sie wirklich nichts. Sie können im Großen und Ganzen weder etwas für die Wirtschafts- und Finanzkrise, noch können Sie etwas dafür, dass es jetzt bei den Einnahmen anders kommt. Fakt ist aber auch – Herr Blum, ich habe das eben wegen Ihres qualifizierten Zwischenrufes gesagt –, dass Sie als hessischer Schuldenkönig der schlechteste Vertreter einer nachhaltigen Finanzpolitik sind. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Unter Ihrer Verantwortung hat dieses Bundesland ein Drittel seiner Staatsverschuldung aufgehäuft. Sie jammern heute mit aller Inbrunst über den Länderfinanzausgleich – den Länderfinanzausgleich, den Sie selber ausgehandelt haben, für den Sie sich hier haben feiern lassen. Über den jammern Sie heute. Ich kann ja verstehen, dass es besonders wehtut, wenn man von den eigenen Politik-„Erfolgen“ eingeholt wird. Ich sage Ihnen aber: Redlich ist das nicht.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU)

Sie führen eine überteuerte Verwaltungssteuerung ein, die Hunderte von Millionen € gekostet hat. Sie kürzen im Moment den Städten und Gemeinden die finanzielle Substanz weg: 360 Millionen € weniger im Kommunalen Finanzausgleich. Ihre Ankündigung, einen Schutzschirm aufzuziehen – der natürlich erst ab 2012 gelten wird –, ist nur ein Placebo. All das sind Scheinelemente, die davon

ablenken sollen, dass Sie finanz- und wirtschaftspolitisch abgewirtschaftet haben. Sie sind daher die schlechtesten Berater.

Deshalb will ich an dieser Stelle noch etwas zu unseren Haushaltvorschlägen sagen. Sie haben uns immer vorgehalten, wir könnten aus dem Parlament heraus keinen vollständigen Haushalt ausarbeiten. Deshalb haben wir uns darauf konzentriert, unsere Vorschläge so zu gestalten, dass sie real finanziert sind. Sie finden in unseren Haushaltsänderungsvorschlägen keine Luftbuchungen. Sie können mit uns darüber streiten, ob bestimmte Instrumente richtig sind oder nicht, aber Sie können mit uns nicht darüber streiten, dass Luftbuchungen enthalten seien. Wenn man Finanzpolitik nachhaltig und ernsthaft betreiben will, ist der entscheidende Punkt, dass es keine Luftbuchungen mehr gibt, dass es keine Sonntagsversprechungen mehr gibt, wie Sie sie beispielsweise in Berlin gerade machen. Nachdem Sie in Ihrer Industriepolitik eine falsche Entscheidung bei der Kürzung der Subventionen für energieintensive Industrien, beispielsweise Erdöl-Cracker und andere, getroffen haben, nehmen Sie diese jetzt zurück und refinanzieren das über die Verbrauchsteuern. Sie wissen genau, dass das am Ende nicht aufgehen wird. Sie haben als FDP selber von „Rasen für die Rente“ gesprochen, als die Ökosteuer eingeführt wurde. Die Position von Guido Westerwelle ist heute: „Quarzen für den Profit“. So machen Sie im Moment Steuerpolitik in Berlin.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Haushaltsvorschläge sind durchfinanziert. Sie sind solide. Das macht Finanzpolitik aus. Deshalb will ich am Ende des finanzpolitischen Teils meiner Rede etwas zum Thema Schuldenbremse sagen. Ich habe den Herrn Ministerpräsidenten vorhin direkt auf seine Moderationsrolle in dieser Frage angesprochen. Ich habe gesagt: Wir brauchen dort mehr Orientierung. – Ich will Folgendes hinzufügen: Es darf nicht passieren, dass die abstrakte Debatte über eine Schuldenbremse zu einer Entpolitisierung anderer Fragen führt. Ich habe einmal formuliert – darüber regt sich Herr Wagner gelegentlich auf –, dass ich keine Bildungspolitik nach Kassenlage machen will. Sie halten das für falsch, ich halte das ausdrücklich für richtig. Ich will keine Bildungspolitik nach Kassenlage machen,

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Ohne Rücksicht auf die Kasse!)

weil die Aufgaben, die vor uns liegen, zu bedeutend sind, weil es uns nichts nützt, Herr Wagner, wenn wir ab 2025 zwar schuldenfrei sind, aber keine Lösungen für die Bildungsfragen haben. Man könnte es auch polemischer sagen: Es führt zu nichts, wenn die nachfolgenden Generationen zwar schuldenfrei, aber dafür dümmer sind als die heutigen. Das ist der Kern der Debatte, um die es geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen muss dieses Spannungsverhältnis in der Formulierung der Schuldenbremse deutlich werden, Herr Ministerpräsident. Es muss klar sein: Wir werden auch um die Einnahmen ringen müssen, weil wir z. B. auch die öffentlichen Aufgaben in den Bereichen Bildung, Sicherheit, Infrastruktur und kommunale Daseinsvorsorge im Auge haben müssen. Es darf nicht passieren, dass aufgrund von Einzelinteressen einer einzigen politischen Gruppierung am Ende ein Wahlprogramm in die Verfassung geschrieben wird und damit Verfassungsrang be

kommt. Wir sind dem Allgemeinwohl und nicht den Partikularinteressen einer politischen Gruppe verpflichtet. Das will ich vor den jetzt folgenden Gesprächen sehr deutlich sagen, damit klar ist, was am Ende herauskommen muss. Sonst werden wir das Ergebnis nicht mittragen. Wir wollen, dass das Allgemeinwohl im Blick bleibt und wir eine Verfassungsregelung schaffen, die genau diesem Anspruch gerecht wird.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Damit das für die Freundinnen und Freunde von der FDP noch einmal klar ist: Herr Engels, der Chef des Bundesrechnungshofs, hat gestern in aller Klarheit und unmissverständlich gesagt – das hilft Ihnen vielleicht ein bisschen bei Ihren koalitionsinternen Debatten –, es gebe keine Spielräume für Steuersenkungen. Begreifen Sie es endlich.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das, was Sie machen, ist Ideologie pur. Ich biete der Union ausdrücklich eine Koalition der Verantwortung im Interesse der Aufgaben an, die ich zu beschreiben versucht habe, auch bei der Verfassungsänderung, die wir zu diskutieren haben werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muss leider zum Schluss kommen. Es gäbe noch viel zu sagen.

(Zurufe von der CDU und der FDP: Oh!)

Ich hatte gehofft, Sie am Ende noch einmal motivieren zu können, Herr Wagner.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Ich bin hoch motiviert! – Weitere Zurufe von der CDU)

Es gäbe noch sehr viel zu sagen. Mein Manuskript ist deutlich länger als das, was ich vorgetragen habe.

(Zurufe von der CDU und der FDP)

Wenn es nicht so traurig wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnte man in großes Gelächter ausbrechen, weil die Regierung eine nicht enden wollende Skandalvorstellung gibt. Jeden Tag erleben wir eine seltsame und seltene Mischung aus Dilettantismus, offenem Streit, Klientelpolitik und verpassten Chancen. Was könnte man nicht alles machen in äußerst wichtigen Bereichen – in A wie Arbeit, B wie Bildung, C wie Chancengerechtigkeit bis zu W wie Wirtschaft und Z wie Zuwanderung, wenn es um die Zukunftssicherung unseres Landes geht.

Sie werden sagen, Deutschland steht prima da. Die Wirtschaft kommt in Schwung, und das Land steht besser da als vor einem Jahr. – Das ist an manchen Stellen so. Genauso richtig ist aber, dass ein Viertel aller Beschäftigten in prekärer Beschäftigung tätig ist, dass 65.000 Jugendliche ohne Abschluss von den Schulen gehen, dass 4.000 t Atommüll zusätzlich produziert werden. Wer sich der Lebenswirklichkeit verweigert, der verspielt die Zukunfts chancen unseres Landes. Die Windeln, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe, sollten Sie als Symbol dafür nehmen, dass es um Menschen geht, nicht um Machterhalt. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Ab- geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN)

Vielen Dank, Herr Schäfer-Gümbel.

Bevor ich Herrn Ministerpräsidenten Bouffier das Wort erteile, darf ich auf der Zuschauertribüne einen Ehrengast herzlich begrüßen. Mein Willkommensgruß gilt dem französischen Generalkonsul Pierre Lanapats. Er ist in Begleitung unseres Präsidenten, Herrn Kartmann, besichtigt unseren Landtag und führt Gespräche. Herzlich willkommen.

(Allgemeiner Beifall)

Jetzt hat Herr Ministerpräsident Bouffier Gelegenheit, zu reden.

Zunächst muss ich mich entschuldigen: Ich bin erkältet.

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Lieber Herr Schäfer-Gümbel, Sie haben jetzt rund eine Stunde lang gesprochen. Ihre Rede kann man so zusammenfassen: ein misslungener Versuch, den Ministerpräsidenten zu entzaubern, 80 % der Rede quer durch die Bundespolitik und der Rest verteilt auf Beleidigungen der Landesregierung und einiger Kollegen hier im Haus. Das ist der Inhalt dessen, was Sie vorgetragen haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und bei Abge- ordneten der FDP)

Ich will es einmal so sagen: Es geht nicht ums Zaubern, sondern um harte Arbeit für unser Land. Das erkennen die Menschen an.

(Zurufe von der SPD)