Protocol of the Session on September 29, 2010

Gefahr für Europa, bis sie alle von dem Mut, der Kraft, dem Bewusstsein und dem Einheitswillen der Menschen im Sturm hinweggefegt wurden.

Meine Damen und Herren, da war es sehr von Vorteil, dass eine Bundesregierung als Partner für die Menschen in der DDR zur Verfügung stand, die aus tiefer Überzeugung tatkräftig diese Chance ergriff. So war und so ist die deutsche Einheit letztlich auch ein Gemeinschaftsprodukt von besonnenen Menschen auf der einen Seite, die alles wagten und mit heißen Herzen standen, und Politikern in der Bundesrepublik, die den Mantel der Geschichte erst ertasteten, dann fester zugriffen und ihn schließlich nicht mehr losließen.

Dies galt insbesondere für Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, aber später auch für Willy Brandt.

(Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, dass unser Bundesland Hessen, mit Walter Wallmann an der Spitze und getragen von allen Fraktionen des Landtags, in der schnellen und unbürokratischen Hilfe für Thüringen einen wichtigen und vor allem wirksamen Beitrag leistete, darf uns gemeinsam stolz machen und mit Dankbarkeit erfüllen.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Die internationale Begleitung und Unterstützung der deutschen Einheit durch unsere Freunde im Westen und durch das Zusammenwirken mit den Partnern im Osten bildeten den völkerrechtlichen Rahmen für das Gelingen des Ganzen. Wir hatten in gut 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durch Handeln und Verhalten Vertrauen in ein stabiles und demokratisch gefestigtes Deutschland erworben. Spätestens die Reaktionen der vier Mächte und die Hilfestellung, die wir international erzielten, zeigten, wie unsinnig es damals war und heute ist, unser Vaterland nur auf die dunkelsten Stunden unserer Geschichte zu reduzieren.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Es war und ist sicherlich nicht der Platz für deutsche Großmannssucht, Überheblichkeit und Arroganz, schon gar nicht für ständige Selbstbeschädigung und den gebeugten Gang in Sack und Asche. Wir sind heute, gerade auch durch die Art und Weise, wie wir zur deutschen Einheit gelangten, ein anerkanntes und geachtetes Mitglied in der großen demokratischen Völkerfamilie.

Die eine oder andere Fehleinschätzung – ich erinnere an die Worte der Landtagspräsidentin Diezel am gestrigen Abend – hat es naturgemäß von allen Seiten gegeben. Heute, aus 20-jährigem Abstand und abgeklärter Rückschau, stellt sich manches einfacher dar als in der Eile und Hektik. Eile und rasches Handeln waren allerdings geboten, weil historische Fenster nicht ewig geöffnet sind und aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ das Bekenntnis „Wir sind ein Volk“ wurde und sich übermächtig Bahn schaffte. Meine Damen und Herren, es gibt nicht überall blühende Landschaften, aber es gibt heute viel mehr blühende Landschaften, als in 20 Jahren zu erwarten waren.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir Deutschen sind sehr gut beraten, wenn wir das Geschenk der deutschen Einheit hüten, es mit Leben und konkretem Inhalt für alle Menschen füllen und den Stänkerern auf der einen Seite und den Besserwissern auf der anderen Seite die Konjunktur vermasseln.Wir im Westen hatten das Glück und den Vorteil, seit Ende des Zweiten

Weltkriegs in einer Demokratie zu leben. Die Menschen in Thüringen, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern sowie in Ostberlin genießen diese Vorzüge erst seit 1989/90. Sie hatten Jahrzehnte einer bitteren und unmenschlichen Diktatur hinter sich. Deshalb sage ich sehr deutlich: Jede Verklärung der DDR-Verhältnisse heute ist gänzlich fehl am Platz.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie verfälscht die Geschichte und wird den tatsächlichen Gegebenheiten in der Diktatur nicht gerecht. Meine Damen und Herren, es stimmt schon, wir müssen uns immer wieder und immer besser aneinander gewöhnen.Wir sind auf dem besten Weg, gerade wenn die jungen Menschen zueinander finden wie hier in den Schulen. Wir müssen uns immer besser aneinander gewöhnen. 80 Millionen Menschen in einer geeinten und freien Nation – für uns alle gilt, auch für die Zukunft: Einigkeit und Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU, der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Lortz. – Nächster Redner ist Herr Kollege Quanz für die SPD-Fraktion.

Verehrte Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Besucherinnen und Besucher! Drei Vorbemerkungen.

Erstens. Wir haben keine Feierstunde und schon gar keinen Festakt, gleichwohl sollte die Freude über das Ereignis vor 20 Jahren über allem stehen. Wir wollen keine Unterschiede in den einzelnen Bewertungen verwischen, aber die großen Linien der Gemeinsamkeit müssen heute Morgen im Mittelpunkt stehen.

(Allgemeiner Beifall)

Zweitens.Die Anträge machen es deutlich,die beiden ersten Reden machen es deutlich, wir alle reden etwas am Thema vorbei, nämlich zu den Entwicklungen von 1989, die zur Einheit 1990 führten. Wir sollten aber nicht vergessen, was 1990 tatsächlich passierte: wesentliche Entwicklungen mit Entscheidungen in der Volkskammer, mit der Bildung der neuen Länder, mit den ersten freien Wahlen. Gerade diese großartigen Leistungen, die verfassungsrechtlich zum Beitritt der neuen Länder führten, dürfen an diesem Morgen nicht vergessen werden.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Wir bedauern den Alleingang von CDU und FDP mit dem Entschließungsantrag; ich bin ganz nah bei meinem Kollegen Frank Lortz. Aber ein Alleingang an dieser Stelle macht wenig Sinn.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Position zum Thema Wiedervereinigung ist glasklar:Wir haben alle das gemeinsame Erbe, wir haben alle die gemeinsame Verantwortung für die Sicherung von

Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir werden alle Bestrebungen zurückweisen,die eine einseitige parteiische Vereinnahmung des Erfolgs der beispiellos geglückten Revolution von 1989 vornehmen wollen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Meine Damen und Herren,wir erinnern an ein einmaliges glückliches Ereignis, eine friedliche und letztlich erfolgreiche Revolution in Deutschland. 20 Jahre deutsche Einheit sind Anlass für uneingeschränkte Freude. Sie ist uns Deutschen nicht in den Schoß gefallen. Es bedurfte ganz vieler Anstrengungen, wichtiger politischer Weichenstellungen, aber letztlich waren es die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, die mit der Bürgerrechtsbewegung dafür sorgten, dass ein marodes totalitäres System abgeschafft wurde.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb muss es uns bei den Feierlichkeiten im Andenken an dieses Datum zuallererst darum gehen, der Menschen zu gedenken, die mit ihrer Haltung, mit dem Mut zum aufrechten Gang, mit dem Mut, Rückgrat zu zeigen, als es noch gebrochen werden konnte, indem sie die Stirn boten, als Kopf und Kragen noch riskiert wurden, schließlich Mauer und Stacheldraht durchbrachen.Wir gedenken der Menschen, die mit Kerzen vorangingen und skandierten: „Wir sind ein Volk“, und damit den Weg der Einheit ebneten.

Es bedurfte vieler glücklicher Umstände und besonderer kluger politischer Weitsicht. Insbesondere sei Michail Gorbatschow genannt, der letztlich diese politische Entwicklung zuließ und maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die Macht der Kerzen über die Macht der Gewehre siegen konnte.

(Allgemeiner Beifall)

Wir erinnern auch daran, dass die Mauer zuvor löchrig wurde, dass Fenster in diese Mauer gestemmt worden waren durch eine kluge Politik der Regierung Brandt/Scheel und anschließend Schmidt/Genscher. Dadurch wurde der KSZE-Prozess gefördert, und auf diese Art und Weise wurden Frieden und Verständigung auf neue Grundlagen gestellt. Das waren die Voraussetzungen dafür, dass sich die Bürgerrechtsbewegungen und andere Initiativen in den Staaten des Warschauer Pakts auf die Menschenrechtsakte von Helsinki berufen konnten. Solidarnosc, Charta 77 um Václav Havel,die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR konnten auf die Menschenrechtsakte aufbauen. Es gehört zu den großen Fehlern der Geschichte der CDU, dass sie diesen Prozess ablehnte und gegen die Schlussakte von Helsinki stimmte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es geht mir insbesondere um die Gefährdung von Freiheit. Um jeder Fehlinterpretation zuvorzukommen: Die DDR war ein Unrechtsstaat ohne Wenn und Aber.

Ein Staat, der grundlegende Menschenrechte vorenthielt, der grundlegende Freiheiten nicht gewährte, kann nicht relativierend in Teilen vielleicht doch rechtsstaatlich genannt werden.Allen Verharmlosungsversuchen treten wir entschlossen entgegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wenn ich sage: „Es geht um die Gefährdung der Freiheit“, dann bedeutet das, dass wir auch nicht zulassen dürfen, dass Entwicklungen in Gang kommen, die das Vertrauen in demokratische und rechtsstaatliche Institutionen erschüttern. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr spaltet, in der der Anteil der Verlierer deutlich zunimmt, in der sich immer mehr Menschen ausgegrenzt fühlen,in der eine soziale Schieflage entsteht, die Menschen ausschließt, die Freiheiten und Verantwortungen wegen fehlender materieller und sozialer Grundlagen gar nicht wahrnehmen können, zweifeln immer mehr Menschen an der Gerechtigkeit und an der Legitimation des Staates. Auch dort sind Freiheit und Demokratie gefährdet.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Noch einmal: Es geht um die Gefährdung der Freiheit. Deswegen brauchen wir eine Erinnerungskultur. Wir brauchen eine objektive und umfassende Darstellung dessen, was in der DDR Grundlage des totalitären Systems war. Deshalb sind unsere Gedenkstätten Schifflersgrund und Point Alpha so wichtig und müssen auch finanziell entsprechend ausgestattet sein, damit sie ihren Bildungsauftrag erfüllen können. Allerdings geht es nicht nur darum,die Landeszentrale für politische Bildung zu stärken. Für mich ist dieses Kapitel der Geschichte ein umfassender Bildungsauftrag für alle Schulen. Das gehört in jedes Curriculum an allen Schulen.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Damen und Herren, nur wer seine Geschichte kennt, kann auch die richtigen Lehren daraus ziehen. Das heißt auch – da bin ich erneut bei Frank Lortz –, dass parteiliche Einflussnahme auf Geschichtsschreibung unterbleiben muss, dass eine parteiisch einseitige Darstellung eben nicht ein umfassendes und objektives Bild liefert. Deshalb ist es schon ärgerlich, dass die CDU meint, einen Premiumanteil an diesem Prozess der Einigung beanspruchen zu können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Es stellt erneut die Glaubwürdigkeit der Politik infrage. Ein konkretes Beispiel ist, wenn sich Franz Josef Jung als eine der großen Gestalten der deutschen Wiedervereinigung feiern lassen möchte:

(Zurufe von der SPD: Eieiei!)

Was mich an dieser Stelle am meisten ärgert, ist, dass dabei der Anteil der Bürgerrechtler relativiert wird. Das werden wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es waren die Menschen in Leipzig und in anderen Städten, die den Prozess herbeigeführt und erfolgreich haben werden lassen. Das schmälert nicht die Leistungen, die viele westdeutsche Politiker beim demokratischen Aufbau in den neuen Ländern geleistet haben – völlig unstrittig. Aber die Relation in der geschichtlichen Bewertung darf nicht außer Kraft gesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Deshalb ist es für die Glaubwürdigkeit unendlich wichtig, dass eben nicht nur die Rolle der SED, sondern selbstverständlich auch die Rolle der Blockparteien beleuchtet und kritisch angegangen wird. Da hat sich niemand nicht schuldig gemacht, wenn möglicherweise auch in unterschiedlicher Qualität, aber durchaus immer beteiligt an der Stabilisierung eines Unrechtsregimes.