Frank Lortz

Appearances

18/1 18/56

Last Statements

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 20. Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober ist für uns alle hier im Haus und draußen ein Tag großer Freude, ein Datum, bei dem wir im Rückblick Dankbarkeit, aber immer wieder auch ungläubiges Staunen mit einem Ereignis verbinden, das in Deutschland über viele Monate hinweg, vom Herbst 1989 bis zum Oktober 1990, Geschichte im besten Sinne des Wortes geschrieben hat.
Entgegen früheren Stationen der deutschen Geschichte war die Revolution vor 20 Jahren ein zutiefst friedlicher Vorgang. Die Macht und die Kraft des Wortes, um Havel zu zitieren, die Standfestigkeit, der Mut und die Überzeugung der Handelnden, ohne Gewalt ein Ende, einen Übergang und einen Neuanfang zu erreichen – dies waren Markenzeichen der guten deutschen Revolution.
Die Bilder in den Medien,die emotionalen Ausprägungen von Glücksgefühlen auf beiden Seiten einer zunächst durchlässiger werdenden, dann bröckelnden und zum Schluss in atemberaubendem Tempo sich auflösenden Begrenzung, Tausende Menschen mit Kerzen auf den Straßen Leipzigs und anderer Städte, die übervollen Kirchen und die zurückweichende Allmacht eines totalitären, verbrecherischen Staates, der am Ende nur noch Karikatur war – meine Damen und Herren, wir waren Zeitzeugen, und wir waren stolz ohne die üblicherweise geäußerten Vorbehalte und Kleingläubigkeiten,Deutsche zu sein.Die Kraft der friedlichen Revolution gab Impulse für unser ganzes Land.
Meine Damen und Herren, allen Menschen, die damals unter Gefahr für Leib und Leben auf die Straße gegangen sind und für ihre Überzeugungen eingetreten sind und die das Ende der Diktatur so eindrucksvoll eingeläutet haben, allen diesen Menschen gelten heute unser Dank, unsere tiefe Anerkennung und großer Respekt.
Meine Damen und Herren, es waren insgesamt bewegende Momente deutscher Geschichte: der befreite Aufschrei der Menschen in der Prager Botschaft – Kollege Greilich hat davon gesprochen –, die Ankunft der DDRFlüchtlinge in der Bundesrepublik, die Großdemonstration in Ostberlin, der Auftritt Schabowskis im Fernsehen und der Abtritt Mielkes in der Volkskammer, der Fall der Berliner Mauer und die Öffnung der Grenze am 9. November, die Demonstranten, die die Stasizentrale stürmten.Wer wird dies je vergessen?
Als im Deutschen Bundestag spontan von Abgeordneten aller Fraktionen die Nationalhymne angestimmt wurde, spätestens dann wusste jeder: Hier und jetzt findet ein kolossales Stück Geschichte statt. Wir konnten sagen: Wir sind dabei gewesen.
Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit gehört nicht einer Partei. Wer hier politisch vereinnahmen will, zerstört den Wert des Stattgefundenen.
Er degradiert einen besonders herausragenden Teil deutscher Geschichte zu parteipolitischer Manövriermasse, und er wird der Bedeutung nicht gerecht.
In der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 heißt es:
Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Dieser Grundgesetzauftrag war in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit etwas aus der Mode gekommen. „Ein Relikt der Nachkriegszeit“, „Die Einheit Deutschlands ist ein Phantom, nur noch Ewiggestrige können sich daran berauschen“, „Es wird Zeit, sich den Realitäten anzupassen“ – so und ähnlich lauteten die Parolen.
Meine Damen und Herren, in den meisten Parteien hatte man die deutsche Einheit glattweg abgeschrieben oder zumindest in weite Zukunft vertagt.Ich sage dies hier sehr deutlich: Auch und sogar in der Union gab es vereinzelt diese Stimmen. Sie bildeten nur eine Minderheit, aber sie waren vernehmbar.
Ungeachtet dessen war es aber die Union – das ist die historische Wahrheit –, die trotz Anfeindungen und zum Teil übler Beschimpfungen und Verleumdungen in den Achtzigerjahren an dem Ziel der deutschen Einheit festgehalten hatte, unbeirrbar und zu Recht.
Es ist auch geschichtliche Wahrheit, dass das beharrliche Festhalten am NATO-Doppelbeschluss, bei dem die Sozialdemokraten leider ihren Kanzler Helmut Schmidt einsam im Regen stehen ließen, eine Voraussetzung für den Zerfall und die Erosion der verbrecherischen Regime im Osten Europas war.
Prominente deutsche Politiker der Linken äußerten sich noch 1989 und 1990 kritisch und ablehnend zur deutschen Einheit. Der bekannte Chor der intellektuellen Bedenkenträger distanzierte sich und projizierte eine deutsche
Gefahr für Europa, bis sie alle von dem Mut, der Kraft, dem Bewusstsein und dem Einheitswillen der Menschen im Sturm hinweggefegt wurden.
Meine Damen und Herren, da war es sehr von Vorteil, dass eine Bundesregierung als Partner für die Menschen in der DDR zur Verfügung stand, die aus tiefer Überzeugung tatkräftig diese Chance ergriff. So war und so ist die deutsche Einheit letztlich auch ein Gemeinschaftsprodukt von besonnenen Menschen auf der einen Seite, die alles wagten und mit heißen Herzen standen, und Politikern in der Bundesrepublik, die den Mantel der Geschichte erst ertasteten, dann fester zugriffen und ihn schließlich nicht mehr losließen.
Dies galt insbesondere für Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, aber später auch für Willy Brandt.
Meine Damen und Herren, dass unser Bundesland Hessen, mit Walter Wallmann an der Spitze und getragen von allen Fraktionen des Landtags, in der schnellen und unbürokratischen Hilfe für Thüringen einen wichtigen und vor allem wirksamen Beitrag leistete, darf uns gemeinsam stolz machen und mit Dankbarkeit erfüllen.
Die internationale Begleitung und Unterstützung der deutschen Einheit durch unsere Freunde im Westen und durch das Zusammenwirken mit den Partnern im Osten bildeten den völkerrechtlichen Rahmen für das Gelingen des Ganzen. Wir hatten in gut 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durch Handeln und Verhalten Vertrauen in ein stabiles und demokratisch gefestigtes Deutschland erworben. Spätestens die Reaktionen der vier Mächte und die Hilfestellung, die wir international erzielten, zeigten, wie unsinnig es damals war und heute ist, unser Vaterland nur auf die dunkelsten Stunden unserer Geschichte zu reduzieren.
Es war und ist sicherlich nicht der Platz für deutsche Großmannssucht, Überheblichkeit und Arroganz, schon gar nicht für ständige Selbstbeschädigung und den gebeugten Gang in Sack und Asche. Wir sind heute, gerade auch durch die Art und Weise, wie wir zur deutschen Einheit gelangten, ein anerkanntes und geachtetes Mitglied in der großen demokratischen Völkerfamilie.
Die eine oder andere Fehleinschätzung – ich erinnere an die Worte der Landtagspräsidentin Diezel am gestrigen Abend – hat es naturgemäß von allen Seiten gegeben. Heute, aus 20-jährigem Abstand und abgeklärter Rückschau, stellt sich manches einfacher dar als in der Eile und Hektik. Eile und rasches Handeln waren allerdings geboten, weil historische Fenster nicht ewig geöffnet sind und aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ das Bekenntnis „Wir sind ein Volk“ wurde und sich übermächtig Bahn schaffte. Meine Damen und Herren, es gibt nicht überall blühende Landschaften, aber es gibt heute viel mehr blühende Landschaften, als in 20 Jahren zu erwarten waren.
Wir Deutschen sind sehr gut beraten, wenn wir das Geschenk der deutschen Einheit hüten, es mit Leben und konkretem Inhalt für alle Menschen füllen und den Stänkerern auf der einen Seite und den Besserwissern auf der anderen Seite die Konjunktur vermasseln.Wir im Westen hatten das Glück und den Vorteil, seit Ende des Zweiten
Weltkriegs in einer Demokratie zu leben. Die Menschen in Thüringen, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern sowie in Ostberlin genießen diese Vorzüge erst seit 1989/90. Sie hatten Jahrzehnte einer bitteren und unmenschlichen Diktatur hinter sich. Deshalb sage ich sehr deutlich: Jede Verklärung der DDR-Verhältnisse heute ist gänzlich fehl am Platz.
Sie verfälscht die Geschichte und wird den tatsächlichen Gegebenheiten in der Diktatur nicht gerecht. Meine Damen und Herren, es stimmt schon, wir müssen uns immer wieder und immer besser aneinander gewöhnen.Wir sind auf dem besten Weg, gerade wenn die jungen Menschen zueinander finden wie hier in den Schulen. Wir müssen uns immer besser aneinander gewöhnen. 80 Millionen Menschen in einer geeinten und freien Nation – für uns alle gilt, auch für die Zukunft: Einigkeit und Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland. – Herzlichen Dank.
Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.