Protocol of the Session on January 27, 2010

Herr Präsident! Herr Bocklet, ich frage mich, ob Sie mir überhaupt zugehört haben, als ich zu Sanktionen gesprochen habe.

(Minister Jörg-Uwe Hahn: Er hört auch jetzt nicht zu!)

Genau, er hört auch jetzt nicht zu.

(Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich höre immer zu!)

Jemand, der sich hierhin stellt und mit solcher Polemik argumentiert, hat überhaupt nicht mehr das Recht, hier von sachlicher Politik zu sprechen, Herr Bocklet.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vielleicht sind Sie in Ihrem Redegeschick so untalentiert, dass Sie es nicht schaffen, nachdem Sie sich gemeldet haben, Ihre Rede noch zu verändern. Sie haben meinen letzten Satz nicht gehört. Ich habe in meinem letzten Satz gesagt: Wir brauchen keine platte Polemik, sondern kluge Lösungen. – Ihr Beitrag war nur platte Polemik. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Vielen Dank, Herr Rock. – Wir fahren in der Rednerliste fort. Frau Kollegin Schott erhält das Wort für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Rock, ich finde es schon spannend, wenn Sie anfangen, darüber zu spekulieren, was Herr Koch gemeint haben könnte, und zu interpretieren.Ich dachte eigentlich,Sie reden miteinander.Vielleicht ist das doch nicht so.

Wenn Sie denn spekulieren, dann füge ich einfach eine Spekulation hinzu: Vielleicht meinte Herr Koch das auch im Sinne von Herrn Sinn, dass es völlig abgeschafft wird, dass Menschen überhaupt keine Grundsicherung kriegen und arbeiten gehen müssen und dabei über die öffentliche Hand auch noch verliehen werden können.Meinte er vielleicht das? Vielleicht kriegen wir eine Antwort, was er meinte.

(Leif Blum (FDP): Ihre Wahlkreismitarbeiter waren alle abgesichert!)

Denn im Grunde spricht er von einer Arbeitspflicht und davon, dass der Druck auf die Erwerbslosen erhöht werden müsse. Das Ganze setzen Sie trotz des Gegenwindes fort, Herr Koch, und nennen es pervers, dass der Einkommensabstand zwischen Hilfebeziehern und Erwerbstätigen so gering ist.

(Die Rednerin muss sich räuspern. – Ministerpräsi- dent Roland Koch: Das hat Ihnen wohl die Sprache verschlagen?)

Diese Debatte kann einem die Sprache verschlagen. – Es erscheint Ihnen nicht pervers, dass immer mehr Menschen trotz Vollzeitbeschäftigung nicht von ihrem Einkommen leben können.Herr Koch,aber genau das ist pervers.

Herr Bartelt, wenn Sie an der Stelle davon sprechen, dass das Mittel der Sanktionen mehr benutzt werden müsse, dann sage ich Ihnen: Zu den Sanktionen, die ausgesprochen worden sind, gab es in etwa 10 % Widersprüche – eine grobe Zahl –, und von diesen 10 % war die Hälfte erfolgreich. Das heißt, die Sanktionen, die ausgesprochen werden, werden häufig zu Unrecht ausgesprochen. Wir müssen dieses Mittel also nicht verstärkt einsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will es hier in aller Deutlichkeit sagen, auch wenn es heikel ist. Die Forderung nach einer Arbeitspflicht hat gerade in Deutschland vor dem Hintergrund der Geschichte, in der es einen Reichsarbeitsdienst gegeben hat, unangenehme Assoziationen. Ich finde, es ist einer modernen Gesellschaft nicht würdig, in einem Land, das so reich ist wie dieses, über derartige Dinge zu debattieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen hat Deutschland 1956 das Übereinkommen der ILO ratifiziert. Darin heißt es:

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, den Gebrauch der Zwangs- oder Pflichtarbeit in all ihren Formen möglichst bald zu beseitigen.

Ich glaube, wir sind hier auf einem Rückwärtsweg. – Noch darüber steht das Grundgesetz mit Art. 12. Ich gehe einfach davon aus, dass Sie den kennen und ich ihn nicht zitieren muss.

Herr Koch, die Forderung, die Sie aufstellen, grenzt an Rechtsbruch.Aber Sie sind offensichtlich so rückwärtsgewandt, dass Sie hinter all diese Vereinbarungen zurück wollen. Dass sie bindend sind, interessiert Sie wohl nicht. Das Ergebnis einer Studie von Max Kern, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung entstanden ist, lautet:

Die Heranziehung zu Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsvariante... führt... [häufig] zu einem Verstoß gegen das... Übereinkommen …

Sie wollen Instrumente einsetzen, „damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht“. Da bleibt mir nur übrig, festzustellen, dass Sie in Sphären leben – da kann ich dem Bild mit dem Blick durch die Windschutzscheibe durchaus zustimmen –, die sich so weit von den Alltagserfahrungen der Menschen auch in Hessen entfernt haben, dass Sie als Ministerpräsident fehl am Platze sind.

(Beifall bei der LINKEN – Ministerpräsident Ro- land Koch: Der Meinung waren Sie doch schon vor- her!)

Ja, der Meinung war ich schon vorher, aber Sie bestätigen sie immer wieder. – Glauben Sie ernsthaft, die Menschen, die an den Tafeln Schlange stehen, die in den Suppenküchen zum Essen gehen, die für 3,50 c arbeiten und ergänzende Leistungen beziehen, betrachten Hartz IV als angenehme Variante? Glauben Sie das ernsthaft?

Offensichtlich nehmen Sie die Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung noch nicht einmal wahr, wonach von den jungen Arbeitslosen 90 % sofort eine Arbeit aufnehmen würden, wenn ihnen eine Stelle angeboten würde. Statt Erwerbslose zu diffamieren, sollten Sie Stellen für diese 90 % schaffen.Alleine in Hessen fehlen rechnerisch rund 170.000 Stellen.

Herr Koch, Sie treiben einen gefährlichen Spaltpilz in die Gesellschaft und verletzen die Würde der Betroffenen aufs Tiefste.

(Beifall bei der LINKEN – Hermann Schaus (DIE LINKE):Wieder einmal!)

Auch wenn einige in diesem Hause wieder der Meinung sein werden, ich moralisiere: Ein wenig Moral schadet der Politik nicht. Es stünde Ihnen gut an, sich zu entschuldigen. Wenn Sie jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, im Zweifel auch einer niederwertigen Arbeit in einem Zweig öffentlicher Beschäftigung,dann heißt das nichts anderes,als dass der Ministerpräsident in Hessen seine Linie der „Operation düstere Zukunft“ fortsetzen will.Sie haben dabei rund 10.000 Arbeitsplätze verloren. Die Arbeit bleibt liegen oder wird jetzt von Ein-Euro-Jobbern gemacht. Das ist, als würde man die Bezahlung eines großen Teils der öffentlich Beschäftigten abschaffen. Wieso einen Friedhofsgärtner bezahlen, einen Bademeister, eine Gemeindeschwester, wenn das doch die Arbeitslosen erledigen können?

Richtig wäre an dieser Stelle, den Sektor der öffentlichen Beschäftigung auszuweiten, statt ihn ständig weiter zurückzufahren. Würden wir uns schwedischen oder finnischen Verhältnissen annähern, also eine mehr als doppelt so hohe Zahl von Menschen im öffentlichen Dienst beschäftigen, hätten wir keine Arbeitslosen mehr. Längst ist erwiesen, dass sogenannte Ein-Euro-Jobs reguläre Arbeit verdrängen. Sie sind keineswegs immer zusätzlich und gemeinnützig. Fast die Hälfte aller Ein-Euro-Jobs ist nichts anderes als reguläre Arbeitsplätze, die nicht mehr bezahlt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu diesem Ergebnis kam übrigens eine Studie der Bundesagentur für Arbeit. Wir hatten in Hessen im Jahr 2008 8.380 Ein-Euro-Jobs. Das ist eine Form moderner Sklavenarbeit. Sie muss in reguläre Beschäftigung umgewandelt werden.

(Holger Bellino (CDU): Was haben Sie denn für Arbeitsverträge geschlossen? – Weitere Zurufe von der CDU)

Lassen Sie doch diese alte Mär, an der vorne und hinten nichts stimmt. Noch einmal: Ich habe genau den Stundensatz gezahlt, den dieses Haus beschlossen hat. Herr Wintermeyer, wenn Sie der Meinung sind, dass das Haus die Mitarbeiter zu schlecht bezahlt, dann habe ich kein Problem damit, wenn wir diese Bezahlung erhöhen.

(Zurufe von der CDU)

„In Zeiten wie diesen kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz“,heißt es auf einem CDU-Wahlplakat.In Zeiten wie

diesen drangsalieren wir jeden Arbeitslosen, müsste es heute heißen.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Herr Koch, Sie sagen, es könne kein funktionierendes Arbeitslosenhilfesystem geben, das nicht auch ein Element der Abschreckung enthält; ein solcher Druck sei notwendig.Dass Sie hier einen Begriff aus der Militärsprache und aus dem Strafgesetzbuch wählen, zeigt deutlich, wie Ihre Äußerungen einzuordnen sind. Erwerbslose sind durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes hart betroffen. Ihre wirtschaftliche Situation verschlechtert sich, ihre Zukunftspläne geraten durcheinander, ihr Selbstbewusstsein leidet. Sie brauchen keine kriegsähnlichen Zustände der Angst und keine Strafe, sondern sie brauchen unsere Unterstützung.

(Beifall bei der LINKEN – Judith Lannert (CDU): Ihre mit Sicherheit nicht!)

Im „Stern“ vom Oktober 2004 heißt es: Vor dem Hintergrund dauerhafter Massenarbeitslosigkeit nimmt die psychische Belastung der Menschen, die noch einen Arbeitsplatz haben, ständig zu. – Es heißt weiter: Schätzungen zufolge verursacht der Stress am Arbeitsplatz in der Europäischen Union 50 bis 60 % aller Krankheitstage und damit jährliche Kosten in dreistelliger Milliardenhöhe. – Im „Tagesspiegel“ vom 30. November 2009 heißt es: Angst vor Arbeitslosigkeit. Die Krise macht krank. – Nein, Herr Koch, wir brauchen weder mehr Druck noch Zwangsarbeit.

Allerdings muss ich mich auch über die Argumentation der Sozialdemokraten am heutigen Tage ein bisschen wundern. Begonnen hat das Hartz-IV-Elend doch mit Ihnen und den GRÜNEN, und das Erwerbslosen-Bashing hat doch Herr Schröder eingeführt.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD)

Alles,was Herr Koch jetzt fordert,ist doch längst möglich. Sie haben es möglich gemacht. Herr Schäfer-Gümbel, wenn Sie hier heute Morgen Mindestlöhne fordern, muss ich eigentlich lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Sie wissen so gut wie ich:Wir hätten Mindestlöhne, wenn Ihre Partei es ernst meinen würde.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sollten uns als Landtag dennoch gemeinsam gegen jegliche Form von Zwangsarbeit von Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern aussprechen.Stattdessen brauchen wir mehr gute Arbeit durch Umwandlung von Ein-EuroJobs in sozialversicherungspflichtige und tariflich bezahlte Dauerarbeitsplätze sowie die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Man muss dann auch eine Zahl nennen – 10 c pro Stunde –, damit das Ganze einen Sinn ergibt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das würde die Zahl der Leiharbeiter und der Aufstocker deutlich verringern, und die Menschen könnten von ihrem Einkommen leben. Hinzu käme die Umverteilung der vorhandenen Arbeit durch Arbeitszeitverkürzungen. Auch darüber müssen wir reden. Es ist genug Arbeit vorhanden.Das Leben der Arbeitslosen würde durch eine sofortige Erhöhung des Arbeitslosengeldes II auf 500 c und bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Jugendliche deutlich verbessert.

Frau Schott, die Redezeit ist um. Bitte kommen Sie zum Schluss.