Frau Ministerin, wenn Sie nicht mit der Tatsache umgehen, dass in der Amtszeit von Karin Wolff die Schülerzahlen an den Förderschulen für Erziehungshilfe um 130 % gestiegen sind, dann werden Sie nicht die richtigen Antworten formulieren können. Wenn die Bilanz so ist, wie sie ist, Frau Ministerin, dann muss man doch nach zehn Jahren Politik,die diese Ergebnisse produziert hat und dafür verantwortlich ist, dem Hause sagen, was man anders machen will, und nicht das „Weiter so“ propagieren.
Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren. Ich hatte den Schlager von 1972 erwähnt: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“. Darin gibt es in Bezug auf das, was mit Ihnen,Frau Henzler,auf dem Weg von der Opposition auf die Regierungsbank passiert ist, was Ihren Bezug zur schulischen Wirklichkeit und zu den Problemen, die unsere Schulen haben, angeht, eine schöne Zeile.
Der Kollege Irmer freut sich schon.Die Passage aus dem Lied heißt: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo mit mir allein als Passagier. Mit jeder Stunde, die vergeht, führt er mich weiter weg von dir“ – nämlich von der schulischen Realität, Frau Ministerin. Das ist bedauerlich. Wir brauchen einen Aufbruch für unsere Schulen und kein „Weiter so“. – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Wagner. Bis zur Sicht des Titels Ihres Buches wusste ich nicht, dass auch im Englischen eine Rechtschreibreform stattgefunden haben soll.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Ministerin Henzler! Ich werde erst zur Regierungserklärung sprechen und dann auf den Antrag der SPD eingehen.
Frau Ministerin Henzler, Sie versprechen den Schulen in Ihrer Regierungserklärung zur selbstständigen Schule Ruhe und Verlässlichkeit. Ich komme mir vor wie bei Adenauers erhobenem Zeigefinger: keine Experimente, Ruhe als erste Bürgerpflicht. Leiden Sie eigentlich unter Realitätsverlust?
Wir LINKE wissen, was auch die Bildungsstreiks sowie die Proteste der Lehrerschaft und der Elternschaft der letzten Monate gezeigt haben: Angesichts aller verheerenden Ergebnisse der internationalen und nationalen Studien der letzten Jahre, des Wissens um die Ineffizienz und Ungerechtigkeit unseres Schulsystems brauchen wir einen Aufbruch, eine Umkehr, einen neuen Anfang und nicht einfach ein „Weiter so“.
Zunächst zu Ihren Erfolgsmeldungen. Frau Henzler, ich will mit Ihnen nicht über Zahlen streiten und glaube Ihnen, dass Sie persönlich davon überzeugt sind, dass Sie den Schulen nur Gutes tun, dass Sie für bessere Rahmenbedingungen gesorgt haben, dass es den hessischen Schulen noch nie so gut ging wie heute. Im Vergleich zu den letzten Jahren der CDU-Alleinregierung mögen Sie recht haben. Nur, es reicht doch trotzdem hinten und vorne nicht.
Ob man die strukturelle Unterfinanzierung im Bildungsbereich akzeptiert oder – wie in den skandinavischen Ländern – dem Bildungsbereich einen anständigen Anteil am Bruttoinlandsprodukt – in Höhe von 6, 7 oder 8 % – zur Verfügung stellt, ist eine ganz entscheidende Frage für die Qualität der Bildung. Hessen lag 2006 mit 3 % Anteil am BIP immer noch weit unter dem Anteil Deutschlands mit 4,1 % insgesamt. Schauen wir mal, wie sich das 2009 darstellt, wie hoch dann der Anteil sein wird.
Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder sehr ausführlich unsere Forderungen für notwendige Rahmenbedingungen dargestellt – dafür bin ich in diesem Hause regelmäßig belächelt worden –, die eine gute Pädagogik erst möglich machen, die tatsächlich eine individuelle Beurteilung und Förderung der Schülerinnen und Schüler zulassen, ohne den dadurch zusätzlich notwendigen Arbeitsaufwand auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer auszutragen. Abiturientinnen und Abiturienten, die überlegen, den Lehrerberuf zu ergreifen, sind abgeschreckt von den Schilderungen angehender Lehrer; das zeigt sich auch in den Bewerbungen für die Lehramtsstudiengänge.
Ich weiß, Sie wollen die Warnungen der Lehrergewerkschaft GEW nicht hören, ich führe sie trotzdem noch einmal an: Aus Sicht der GEW, die wir teilen, ist selbst eine 105-prozentige Abdeckung – wenn sie bis Ende der Legislaturperiode erreicht würde – nicht ausreichend; denn es besteht allein ein Zusatzbedarf von 5 % für Vertretungen.Wie soll dann mit 100 %, geschweige denn den 96 %, die momentan als real erreicht gelten,noch ein individuell zugeschnittener und an Vorstellungen von Inklusion orientierter Unterricht, wie sollen aber auch die vermehrten Auflagen wie Lernstands- und andere Erhebungen, Vergleichsarbeiten, Zielvereinbarungen, Inspektionen, Zertifizierungen, Rankings, Teaching-to-the-Test usw. funktionieren?
Sie selbst haben in Ihrer Regierungserklärung von den drei Schwächen der hessischen Schulen gesprochen, die
sich bei den Schulinspektionen gezeigt haben. Dazu gehören die individuelle Förderung und die interne Evaluation. Beides – das wissen Sie – sind sehr arbeitsintensive Aufgaben, die eine gut ausgebildete, gut vorbereitete und gut kooperierende Lehrerschaft erfordern. Beides werden Sie selbst mit einem besseren Management der Schulleitung nicht nach vorne bringen können, und das wissen Sie. Diese Schwächen werden Sie weiter mitschleppen, wenn es keine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen gibt. Und da es sie nicht geben wird, sind Ihre selbstständigen Schulen in erster Linie sich selbst überlassene Schulen.
Diese sich selbst überlassenen Schulen müssen die verfehlte Politik Ihrer Landesregierung ausbaden.Wir haben immer vor Ihrer Art selbstständiger Schule gewarnt. Die Schulen werden dahin gehend selbstständig gemacht, dass sie ihre weiterhin gegebene finanzielle Unterversorgung und die daraus resultierenden Mängel selbst beseitigen sollen oder – wenn das nicht geht – wenigstens selbst verwalten dürfen.
Die FDP arbeitet ein weiteres Mal mit dem in der Politik so beliebten Mittel der Neubelegung von vorher positiv konnotierten Begriffen: Wer hat schon etwas gegen Selbstständigkeit, vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff Schule, die den Auftrag hat, unsere Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen? Sie aber meinen die Politik des Neoliberalismus, der Deregulierung. Sie wollen Schule deregulieren, zunehmend aus der staatlichen Verantwortung holen und mit privaten Partnern versehen,die von Ihren neuen „Führungspersönlichkeiten“ – Zitat –, also den Schulleiterinnen und Schulleitern, akquiriert werden. Wahrscheinlich werden eher bestimmte Schulen von privaten Partnern akquiriert. Dabei werden Schulen in guten Wohnvierteln natürlich andere Erfolgschancen haben als z. B. die Sterntalerschule in meiner Heimatstadt Dietzenbach, die Sie, Frau Henzler, kürzlich besucht haben, in der über 90 % der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben.
Das ist kein guter, sondern ein gefährlicher Weg.Wir wollen nicht, Frau Henzler, dass Schulen demnächst wie Betriebe geführt werden, dass mit der Bildung ein Geschäft gemacht werden kann, dass bürokratische und verwaltungstechnische Effizienz zum zentralen Kriterium für eine gute Schule wird.
Ich befürchte, dass es hier so gehen wird wie mit vielen Public-Private-Partnership-Projekten, bei denen die Kommunen erst auf den neoliberalen Schmu mit den starken privaten Partnern hereingefallen sind, sich und ihren Bürgerinnen und Bürgern damit Wünsche erfüllt oder auch nur längst überfällige Aufgaben angepackt haben, die wegen der Finanzknappheit der Kommunen liegen geblieben waren, und jetzt mühsam den Weg der Rekommunalisierung gehen, um die Abhängigkeit und Fesselung über 20 Jahre und länger, die dann insgesamt viel teurer kommt, zu beenden. Die Privatisierung der Hochschulen ist bereits in vollem Gange, und es scheint, Sie wollten jetzt auch die Schulen entsprechend freisetzen.
Unseres Erachtens wollen Sie mit Ihrer Stabsstelle Selbstständige Schule/SV+ und Ihrer neuen Abteilung Z mit den beiden Unterabteilungen zur neuen Verwaltungssteuerung die Schulen genau auf diese Schiene der Verbetriebswirtschaftlichung und Privatisierung setzen.
Sie wollen staatliche Aufgaben zunehmend auf private Partner übertragen. – Überzeugen Sie mich vom Gegenteil. Und: Haben Sie Ihren Koalitionspartner sowie die einzelnen Abgeordneten der konservativen – was ja auch „bewahrend“ heißt – und staatstragenden CDU eigentlich bereits davon überzeugt,dass unsere Befürchtungen unberechtigt sind, dass Sie auch langfristig nicht auf einen Ausverkauf der öffentlichen Schullandschaft aus sind?
Ich möchte Ihnen gern sagen, wie nach unserer Meinung Selbstständigkeit der Schulen aussehen sollte:
Wir Psychologen wissen seit Langem, dass nur die individuelle Engagiertheit beim Lernen – das ist inzwischen nachgewiesen bereits für die ganz Kleinen unter drei Jahren – zu nachhaltigen Lernerfolgen führt.Also müssen Pädagogen individuelle, selbstständige Lernprozesse initiieren; sie müssen die Kinder dort abholen, wo sie sich befinden. Das heißt, dass sie z. B. ein mehrsprachiges Diplomatenkind, das gleich mit zwei oder mehr Sprachen aufgewachsen ist, anders abholen müssen als ein Kind marokkanischer Eltern aus dem Rifgebirge, die gebenenfalls selbst nur drei Jahre in Marokko in arabischer Sprache und Schriftsprache alphabetisiert wurden und auch in ihrer Umgebung selten ein gutes Deutsch vernehmen können. Ein solches Kind kommt mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten und versteht und spricht Deutsch,wenn überhaupt, nur in Schlagwörtern; es versteht nämlich das System der deutschen Sprache nicht. Diesen Kindergarten besuchen wegen des richtigen Prinzips der Wohnortnähe der Grundschulen wiederum vor allem Kinder mit Migrationshintergrund.
In meinem Wahlkreis, im Kreis Offenbach, aber auch im Main-Kinzig-Kreis, gibt es eine Reihe von Schulen, die zu über 90 %, bis 98 %, von Kindern mit Migrationshintergrund besucht werden. Die Sterntalerschule in Dietzenbach gehört dazu. Diesen vielschichtigen Herausforderungen müssen die Schulen demnächst unbedingt besser begegnen können – aber nicht, indem sie von Managern geführt werden, sondern indem die Schulen tatsächlich Unterstützung bekommen, angesichts der Herausforderungen von Sprachförderung, Integration, Inklusion und Aufbau eines Ganztagsschulsystems unter den oftmals sehr schwierigen Bedingungen an den Schulen, gerade auch in sozial schwachen oder konfliktbehafteten Stadtteilen, wie z. B. im Landkreis Offenbach.
Die Schulen kennen sehr genau ihre Probleme, und sie können sehr genau ihre Bedarfe definieren – sei es das Etablieren von Schulsozialarbeit, eine Chance, echte, rhythmisierte Ganztagsschule zu werden, mit integrierter, von Lehrern verantworteter Hausaufgabenbetreuung, bilingualen Unterricht einzuführen, Mediation bzw. Streitschlichterprogramme zu etablieren, etc. Die Schulgemeinschaften kennen ihre Schwächen und ihre Stärken, und sie kennen ihre Elternschaft, ihre Lehrerschaft, ihr Gemeinwesen. Was liegt da näher, als eigene, neue Wege anzusteuern, sich von demokratischen Gremien wie Schulkonferenz und Gesamtkonferenz beauftragen zu lassen, um die von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und Schulleitung gemeinsam erkannten Ziele anzusteuern?
Das wäre unseres Erachtens der richtige Weg.Aber genau da wird plötzlich der Riegel vorgeschoben, bleibt Schule nämlich unselbstständig:
Geschehen an den Gesamtschulen, die mit einem Mehrheitsvotum der Eltern wieder zu G 9 zurückkehren woll
ten oder als große Schulen auch G 8 und G 9 parallel anbieten wollten, damit die Mehrheit aller Eltern, die ein Zurück zu G 9 wollen, die sich auch nie aktiv für G 8 entschieden hatten, ebenfalls eine Option bekommen sollte. Selbstständige Schule? – Nein, so selbstständig bitte auch wieder nicht.
Geschehen auch an der Kerschensteinerschule in Frankfurt, die meines Wissens jahrgangsübergreifenden Unterricht und Verzicht auf Notengebung anbieten wollte.Auch da: Diese Form von Selbstständigkeit wollen wir nicht.
Geschehen an den Schulen, die schon vor Jahren gleich gebundene Ganztagsschulen werden wollten, weil sie dieses Konzept für ihre Klientel am sinnvollsten fanden. Die Beratung durch die Schulämter ging dahin, maximal die offene Form zu wählen, am besten aber dem Mainstream zu folgen, der ein langsames Wachsen aller Schulen hin zu einer Übermittagsbetreuung als der billigsten und mit dem Familienbild der CDU am ehesten zu vereinbarenden Form von Ganztagsbetreuung vorsah. In grauer Zukunft, auch Sankt-Nimmerleins-Tag genannt, hätte dann die gebundene Form der Ganztagsschule kommen sollen,
(Abg.Dirk Landau (CDU) spricht mit Kultusministerin Dorothea Henzler. – Janine Wissler (DIE LINKE):Vielleicht kann die Ministerin zuhören!)
Ich bitte, die Gespräche zu der Regierungsbank zu unterlassen. Die Rednerin fühlt sich gestört. Herr Landau, bitte.
die hier in Hessen – und nur hier – von politisch interessierter Seite schon früh mit Vorstellungen wie „Fesselung“ und „Zwang“ verbunden worden war und deshalb jetzt von Befürwortern lieber als rhythmisierte oder echte Ganztagsschule bezeichnet wird.
Wie gesagt, diese Anträge auf Ganztagsschulen in gebundener Form mussten jährlich erneuert werden. Statt die Schulen, die diese Anträge selbstständig gestellt hatten, ernst zu nehmen, wurden sie dahin gehend beraten, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen und lieber erst einmal kleine Brötchen zu backen.
Frau Henzler, ist dies Ihr Verständnis von „Selbstständigkeit“? Eine wirkliche Entscheidungsfreiheit ist nicht gewünscht, so müssen wir feststellen.
Nach unserer Auffassung – damit komme ich zu unserem Gegenkonzept – muss Selbstständigkeit, muss selbstständiges Handeln einer Schule generell verbunden werden mit einer demokratisch legitimierten Entscheidung der gesamten Schulgemeinde.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Boddenberg (CDU): Genau, jeden zweiten Abend Elternabend, und zwar in voller Besetzung!)
Die Lehrergewerkschaft GEW spricht in diesem Zusammenhang von einer demokratisch verfassten Schule. Nicht nur das, sie muss immer auch eingebunden sein in eine gemeinsame regionale Planung, um Benachteiligungen einzelner Schulen auszugleichen.
Das heißt, wir brauchen eine regionale Steuerung, statt die einzelnen Schulen in eine Konkurrenz untereinander um knappe Ressourcen zu bringen. Wir brauchen auf allen Ebenen zwischen den Schulen und innerhalb der Schulen mehr Kooperation statt Wettbewerb, mehr Teamteaching statt interner Rankings. Schulaufsicht soll sich gegenüber den Schulen als Unterstützungssystem präsentieren und nicht mehr als Kontrollinstanz. Schulleiterinnen und Schulleiter sollen ihre Schulen weiterhin kollegial und mit pädagogischem Blick leiten, statt zu Managern zu mutieren, ebenso wie Lehrerinnen und Lehrer sich in ihrer Rolle als Unterstützer,Anreger und Begleiter von Lernprozessen verstehen sollen denn als Unterrichtsbeamte. Die gesamte Schulgemeinde von Lehrerschaft, Schüler- und Elternschaft darf nicht entmündigt werden, sondern muss im Gegenteil ermuntert werden, an der Gestaltung von Schule aktiv mitzutun und die Mitwirkungsrechte zu nutzen und gegebenenfalls auch auszuweiten.
Ich möchte nicht, dass es demnächst statt „Bildung ist ein Menschenrecht“ heißt: Bildung ist teuer, Bildung ist käuflich, und Bildung zu kaufen ist ein Kundenrecht.