Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hahn, zunächst ganz herzlichen Dank für die Regierungserklärung zur europäischen Integration.
Die europäische Einigung ist ein historisch einzigartiges Friedens-, Freiheits-, Demokratie- und Fortschrittsprojekt. Niemals zuvor waren Frieden und Wohlstand fester auf unserem Kontinent verwurzelt als heute. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Frieden und Wohlstand sind nie selbstverständlich. Sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden, auch in Europa.
Europa als Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft: Dies ist der ursprüngliche Gedanke zur europäischen Einigung, die große Hoffnung, die am Anfang der Einigung stand. Es ist ein Gedanke, der weiterhin aktuell bleibt: für Frieden und Wohlstand in Europa und – was im globalen 21. Jahrhundert verstärkt hinzukommt – auch für Frieden und Wohlstand außerhalb von Europa. Für beides brauchen wir eine starke Europäische Union.Deshalb sind wir für Europa, für ein friedliches Europa.
Staatsminister Hahn hat zu Recht auf die Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für die Entwicklung von Frieden und Freiheit, Demokratie und Sicherheit hingewiesen,auch für die deutsche Einheit und die weiter gehende Verständigung zwischen Ost und West.
Ich will daran erinnern, dass dieser Erfolg auch durch die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt vorangetrieben wurde.
„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Dieser Programmsatz gilt nicht nur für die deutsche Einheit, sondern auch für die europäische Integration. Deshalb ist die Europäische Union auch kein marktradikales Projekt, wie sie von manchen diffamiert wird, sondern in ihrer historischen Tradition ein demokratisches, freiheitliches und friedliches Projekt.Auch wenn man gelegentlich durchaus Kritik an der Europäischen Union äußern darf – zuweilen muss man es auch –: Kritik darf aber nie zum Selbstzweck verkommen, schon gar nicht zu polemischer Generalkritik und antieuropäischem Populismus. Unsere Haltung ist eine andere.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die europäische Einigung und ihre Institutionen sind bei aller Kritik im Detail ein Wert an sich, ein Wert für Freiheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand.Wer wüsste das besser als die Deutschen? Wie kaum ein anderer Staat hat gerade Deutschland von der europäischen Einigung profitiert. Die Einbindung Deutschlands in die europäische Zusammenarbeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland den Weg aus der fatalen Isolation gebahnt,in die der Fanatismus und die verheerende Kriegstreiberei
der Nazis geführt hatten. Dass Deutschland heute wieder ein respektierter und geschätzter Partner in der Gemeinschaft der demokratischen und freien Staaten der Welt geworden ist, verdanken wir nicht nur, aber auch der Einigung Europas. Deutschland ist damals eine großartige Chance in einem Augenblick unserer Geschichte zuteil geworden, als wir eigentlich längst alle Chancen auf einen Neuanfang in Freundschaft und Partnerschaft verspielt hatten.
Hieran zu erinnern, gerade auch wenn wir in diesem Jahr den 60. Gründungstag der Bundesrepublik Deutschland feiern, ist von ungeschmälerter Bedeutung.
Doch nicht nur politisch, auch wirtschaftlich hat die europäische Einigung Deutschland erhebliche Chancen eröffnet und Vorteile gebracht. Als exportorientierte Volkswirtschaft in der Mitte Europas profitiert Deutschland ganz besonders vom erleichterten Handel im Europäischen Binnenmarkt. Fast zwei Drittel der deutschen Ausfuhren gehen in Staaten der Europäischen Union. Dass Deutschland Exportweltmeister ist, verdanken wir damit auch dem Europäischen Binnenmarkt mit seinem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.
Die EU-Erweiterungen 2004 und 2007 um insgesamt zwölf Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie dem Mittelmeerraum haben den Europäischen Binnenmarkt weiter wachsen lassen. Die historische Bedeutung der Europäischen Union wiegt aber schwerer. Sie bedeutet das Ende des Eisernen Vorhangs und ein Europa der offenen Tür mit starken Brücken.
All dies zeugt davon: Europa und die Europäische Union liegen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Das galt bis hierhin, und das gilt auch weiterhin. Deshalb brauchen wir Europa.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,im globalen 21. Jahrhundert kommt ein weiterer, und zwar entscheidender Grund hinzu, der für Europa spricht. Dort, wo die Nationalstaaten gegenüber global entfesselten Märkten an die Grenzen ihrer Gestaltungsmacht stoßen, kann und muss ein gemeinsames Europa mit seinem starken Gewicht helfen, den Vorrang der Politik gegenüber den freien Kräften des Marktes durchzusetzen. Dabei geht es z.B.um vernünftige Verkehrsregeln für die Finanzmärkte, die Spekulation ohne Blick für die Risiken und ohne Verantwortung für das Allgemeinwohl einen Riegel vorschieben.
Dabei geht es auch darum, soziale Rechte und Standards im internationalen Handel durchzusetzen und für einen fairen Welthandel zu sorgen.
Es geht außerdem um einen neuen Wurf, einen New Deal im Umwelt- und Klimaschutz, der unsere Welt auch für die nachkommenden Generationen als lebenswerten Raum erhält.
Bei alledem gilt:Wenn Europa seine Kräfte bündelt, kann es mehr erreichen und einen Unterschied in der Welt machen.Wir wollen, dass Europa durch eigenes Beispiel und gemeinsamen Einfluss ein neues Bündnis von Wirtschaft, Arbeit und Umwelt schmiedet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Erkenntnis liegt auch der vermeintliche Bruch zwischen der Landesregierung und mindestens der sozialdemokratischen Landtagsfraktion.Wir sind davon überzeugt, Herr Staatsminister, dass das Europa von morgen sich nicht ausschließlich in seinem historischen Erfolg, einigen wenigen Einzelprojekten und dem Verweis auf den Bürokratieabbau erschöpfen darf.Dann wird Europa scheitern.Europa muss ein politischer Raum sein, der voll entwickelt wird. Ihre Regierungserklärung war weder ambitioniert noch zielführend.
Europa ist kein Verwaltungszentrum.Europa ist kein Projekt der politischen Bildung. Es ist auch keine sonderpädagogische Einrichtung, sondern politischer Raum, der gestaltet werden muss,der mit Leben gefüllt werden muss. Deshalb haben wir Ihnen heute einen weitreichenden inhaltlichen Antrag vorgelegt.
Die internationale Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die derzeit die Welt tief erschüttert, bestätigt unsere Einschätzung: Gerade in der Krise wird offenbar, wie wichtig ein politisch starkes Europa ist, das in der Lage ist, den globalen Markt in die Schranken zu weisen. Die Zeiten, in denen die Allmacht des Marktes als Allheilmittel beschworen wurde, sind unwiederbringlich vorbei. Das Jahr 2008 hat einen Zeitenwechsel eingeläutet. Wir brauchen jetzt eine Rückkehr gestaltender Politik,national,europäisch und international. Als entscheidende Ebene dazwischen brauchen wir die Europäische Union.
Deshalb unsere Botschaft:Wir sind nicht etwa für ein politisch schwaches Markteuropa, sondern für ein politisch starkes soziales Europa als gestaltende Kraft in der Globalisierung. Das ist unser Leitbild für das Europa des 21. Jahrhunderts.
Weil es ein politischer Raum ist, muss an dieser Stelle auch politisch Position bezogen werden. Dabei lernen manche schneller als andere und manche nie. Es ist noch nicht lange her, da konnte manchem die Politik in Deutschland und Europa nicht marktradikal genug sein. Als Franz Müntefering im Mai 2005 – aus heutiger Sicht nahezu visionär – vor den Auswüchsen des internationalen Finanzkapitalismus gewarnt und das Geschäftsmodell von Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften massiv kritisiert hat, wurde er vom heutigen CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla als Neandertaler-Sozialist gescholten.
Dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament widerfuhr Ähnliches. Er wurde
von den Liberalen im Europäischen Parlament als Voice of the Past, als Stimme der Vergangenheit, verspottet, als er 2007 zusammen mit seiner Fraktion mehr Transparenz und eine verbesserte Regulierung auf den Finanzmärkten gefordert hat. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Peter Ramsauer, hat noch im April 2008 Forderungen der SPD nach Regeln für Managergehälter als einen Schritt zurück in die Denkschule der DDR abgetan.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nach dem Kollaps der internationalen Finanzwirtschaft wollen manche dies alles mittlerweile nicht mehr gesagt haben. Wer so schnell dem Zeitgeist hinterherläuft, dem ist nicht zu trauen, dass er die Spur hält, wenn es darauf ankommt, wenn auf schöne Worte Taten folgen müssen, wenn es gilt, Ankündigungen in Gesetze zu gießen, sei es in Deutschland oder in Europa.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise bedroht Wohlstand, soziale Sicherheit, Arbeitsplätze und Unternehmen in Deutschland und Europa mit einer bisher nicht gekannten Geschwindigkeit. Ursache der Krise waren Regulierungslücken, gepaart mit unverantwortlichem Handeln auf den internationalen Finanzmärkten, das allzu oft einzig von der Gier nach möglichst hohen Renditen bestimmt wurde.
Für uns steht fest: Märkte brauchen Regeln; denn sie regulieren sich nicht selbst und schon gar nicht zum Wohl der Allgemeinheit.
Finanzmärkte müssen eine dienende Funktion für die Realwirtschaft haben. Die Finanzwelt darf kein Schattenreich sein, das sich der Kontrolle durch Politik und Gesellschaft entzieht.Wir können und wollen nach der Krise nicht zurück zur Tagesordnung gehen.Es geht nicht um einen Betriebsunfall, sondern es geht um eine systemische Krise.
In einer großen Anstrengung haben wir Wirtschaft und Unternehmen durch staatliche Finanzmittel gestützt, um eine Verschlimmerung der Lage zu verhindern. Ein „Weiter so“ kann und darf es nach der Krise nicht geben. Es geht jetzt darum, eine neue Finanzmarktarchitektur aufzubauen, durch die derartige Krisen künftig verhindert werden. Durch engagiertes Einbringen in die Diskussion um eine neue Finanzmarktarchitektur wollen wir Frankfurt zum führenden Finanzplatz in Europa machen, und da habe ich Ihre Worte so verstanden, dass wir da nicht nur an einem Strang,sondern auch in die gleiche Richtung ziehen.
Wir wollen für Manager Vergütungssysteme, die sich am langfristigen Erfolg des Unternehmens orientieren, das bewährte deutsche Bankensystem mit Privatbanken, öffentlich-rechtlichen Sparkassen sowie Genossenschaftsbanken erhalten, Steueroasen trockenlegen, Ratingagenturen, Hedgefonds und Private Equity Fonds stärker regulieren sowie die Banken- und Finanzmarktaufsicht europäisch und international weiter stärken und – auch da sind wir uns einig – in Frankfurt konzentrieren.
Wir stehen für eine sozial regulierte Marktwirtschaft in Deutschland und in Europa. Das war so, und das bleibt so, lieber Kollege Milde. Nicht Gewinnmaximierung für einige wenige, sondern Wohlstandsmehrung für möglichst
Bislang stand die wirtschaftliche Integration im Zentrum der europäischen Einigung – mit dem Binnenmarkt und mit der gemeinsamen Währung. Beides waren und bleiben wichtige Projekte. Für sich genommen reichen sie aber nicht aus. Wir dürfen in Europa nicht bei bloßer Marktbeschaffung stehen bleiben. Auch im europäischen Binnenmarkt muss das Wirtschaften in eine politische und soziale Ordnung eingefasst sein.Wirtschaft und Soziales – und auch die Umwelt – gehören für uns zusammen. Wir fordern mit Nachdruck die weitere Umsetzung der Lissabon-Strategie, die Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftraum ausbauen will. Eine solche Strategie auf dem Weg zur langfristigen Dynamisierung von Wachstum, Beschäftigung und Innovation kann jedoch nur gelingen, wenn wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung gleichermaßen wie soziale und ökologische Verantwortung berücksichtigt werden. Die sozialen Grundrechte müssen im Konfliktfall vorgehen.