Das Bundesverfassungsgericht bevorzugt auch eine dezentrale Struktur. Mit zentralen Vorgaben lässt sich kein Fallmanagement betreiben. Wir brauchen kein neues Bundessozialamt, bei dem die Gefahr einer überbordenden Bürokratie droht und das weit entfernt von den Menschen ist.
Der Vorschlag der kooperativen Jobcenter ist politisch nicht akzeptabel, und er ist rechtlich nicht haltbar. Auch FDP, GRÜNE, der Landkreistag, viele Kommunen und die Landesregierung kritisieren dies.
Hessen hat eine besondere Verantwortung.Wir haben mit Initiativen auf Bundesebene,mit dem OFFENSIV-Gesetz und dem Existenzgrundlagengesetz, die Arbeitsmarktreform maßgeblich gestaltet. Ihre dezentrale Struktur und das Optionsmodell sind Ausdruck der hessischen Handschrift.
Wir konnten die Ansätze einer neuen Kultur der Hilfe, des Förderns und Forderns, einbringen, die die hessischen Kommunen in Pionierarbeit entwickelt haben.
Hessen kommt auch bei der Umsetzung der Reform eine Schlüsselrolle zu. Wir haben mit zwölf Kreisen und der Stadt Wiesbaden die meisten Optionskommunen. In der anderen Hälfte der Gebietskörperschaften werden die Langzeitarbeitslosen von den Argen betreut. Die Erfahrungen mit den Kommunen sind bei beiden Modellen gut. Alle optierenden Kommunen – in ihnen sind in unterschiedlichen Konstellationen die vier im Hessischen Landtag vertretenen demokratischen Parteien in der Verantwortung – wollen weitermachen. Wir plädieren deshalb dafür, das Optionsmodell fortzuführen, zu öffnen und zu entfristen.
Das Bundesverfassungsgericht hat bis Ende 2010 Zeit gegeben. Dieser Rahmen sollte nicht ausgeschöpft werden. Wir brauchen keine juristischen Winkelzüge wie die kooperativen Jobcenter, sondern zeitnah eine fundierte, tragfähige Lösung.
Die Arbeits- und Sozialminister haben jetzt eine BundLänder-Arbeitsgruppe eingesetzt. Im Interesse der Betroffenen muss sie bald Klarheit, Planungs- und Rechtssicherheit schaffen. Wir treten für eine dezentrale Struktur ein, für Leistungen aus einer Hand und eine aktive, starke Rolle der Kommunen. – Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Müller-Klepper. – Nächster Redner ist Herr Kollege Dr. Jürgens für die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! In Hessen beziehen fast 450.000 Menschen in 218.000 Haushalten Leistungen nach SGB II. Das sind vor allem das Arbeitslosengeld II sowie Eingliederungsleistungen in Arbeit, gut bekannt unter Hartz IV. Um diese Menschen geht es uns, wenn wir über die künftige Organisation der Hilfe diskutieren. Wir haben nicht über irgendwelche bürokratischen Vorlieben zu diskutieren, sondern darüber, wie wir diesen Menschen möglichst passgenaue Hilfen zur Verfügung stellen können.
Im SGB II wurden die alte Sozialhilfe und das alte Arbeitslosengeld in einem neuen einheitlichen Leistungssystem zusammengeführt. Jetzt sind die Arbeitsgemeinschaften, die diese neue Leistung vor allem verwaltungsmäßig abgebildet haben, vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden. Jetzt droht in der Tat – Frau Müller-Klepper hat es schon angesprochen – das sogenannte kooperative Jobcenter. Das ist jedenfalls der Vorschlag von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz.
Was würde das bedeuten? Kommunen und Arbeitsagenturen würden jeweils ihre Aufgaben selbst wahrnehmen, nach dem Motto: „§ 1, jeder macht seins“. Das geschieht zwar unter einem Dach,aber für die Betroffenen würde es bedeuten: Sie müssten erst einmal im Büro der Arbeitsagentur den Regelsatz nach Hartz IV beantragen. Sie müssten dann nach nebenan zum Büro des Sozialamtes der jeweiligen Kommune gehen, um die Wohnungskosten zu beantragen. Wenn sie Arbeitsvermittlung oder zusätzliche Leistungen haben wollen, müssen sie wieder zurück zur Agentur. Die sogenannten sonstigen weiteren Leistungen müssen sie wieder bei der Kommune beantragen. – Dieser Sozialslalom macht aus unserer Sicht überhaupt keinen Sinn,
auch dann nicht, wenn die sozialbürokratischen Slalomstangen unter einem Dach angesiedelt sind. Deswegen gibt es im Übrigen auch fast keinen Fachmann, der das Modell von Herrn Scholz gut findet.
Wir sind der Meinung, die Hilfe für die Betroffenen muss weiter aus einer Hand erbracht werden und nicht nur unter einem Dach. Deswegen ist eine einheitliche Zustän
digkeit für die einzelne Person für alle Leistungen nach dem SGB II für uns zwingende Voraussetzung für eine vernünftige Lösung. Wir wollen andererseits aber auch nicht den Bund aus seiner Verantwortung entlassen. Er muss weiterhin ein einheitliches, bundesweit geltendes Leistungssystem zur Verfügung stellen, und er muss sich vor allem auch entsprechend stark an den Kosten beteiligen.
Aber die Leistungen müssen nach unserer Überzeugung dezentral unter wesentlicher Verantwortung der Kommunen erbracht werden. Wir erleben gerade im Zusammenhang mit den sogenannten sonstigen weiteren Leistungen, welche fürchterlichen Folgen bürokratisch engstirnige Vorgaben des Bundesministeriums bzw. der Bundesagentur für die Betroffenen haben. In der letzten Woche konnte man es in der „Frankfurter Rundschau“ nachlesen. Künftig soll z. B. die Nachholung eines Hauptschulabschlusses für Personen, die noch keinen Hauptschulabschluss haben und ihn für die Verbesserung ihrer Chancen am Arbeitsmarkt brauchen, nicht mehr aus Mitteln des SGB II gefördert werden. So ist die zentrale Vorgabe. Das führt in Frankfurt dazu, dass viele junge Menschen, die den Hauptschulabschluss nachmachen wollen, ab dem 1. September vor dem Aus stehen und ihre Ausbildung abbrechen sollen. Das macht aus unserer Sicht keinen Sinn.
Die Lehrerkooperative, die bisher mit einer Erfolgsquote von über 90 % die jungen Menschen ausgebildet hat,steht praktisch vor dem Aus. Sie muss auf jeden Fall ihre Arbeit stark reduzieren. Das kann so nicht bleiben.
Das ist darauf zurückzuführen, dass es zentrale Vorgaben gibt, wo die Bundesagentur bzw. das Bundesministerium die Steuerungssysteme des SGB III, in dem der Kernbereich der Bundesagentur zur Arbeitsförderung geregelt ist, einfach überträgt auf das SGB II und dabei übersieht, dass es sich hier um Personen handelt, die gerade aus dem Leistungsbereich und Steuerungssystem des SGB III herausgekommen sind, weil es für sie nicht ausgereicht hat. Deswegen sind sie Langzeitarbeitslose. Sie brauchen intensivere Hilfe nach dem SGB II, und die kann insbesondere kommunal gesteuert, verwaltet und zur Verfügung gestellt werden.
Wir wollen also keine zentralistischen Vorgaben, sondern Entscheidungsmöglichkeiten vor Ort, wobei ich mich allerdings schon ein bisschen gewundert habe, Frau Müller-Klepper, über Ihre einseitige Lobhudelei für die Optionskommunen in der Presseerklärung von letzter Woche. Wir haben bisher von der Landesregierung immer noch keine verlässlichen statistischen Vergleiche der Erfolge der Optionskommunen einerseits und der Arbeitsgemeinschaften andererseits. Wir haben selbst einmal gerechnet und dabei festgestellt, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit von Dezember 2005 bis Dezember 2007 bundesweit bei 18,2 % lag. Bei den hessischen Arbeitsgemeinschaften in Ihrem Zuständigkeitsbereich lag er bei 16,9 % und bei den Optionskommunen nur bei 15,5 %.
Es ist also keine Rede davon, dass nachgewiesen ist, dass die Optionskommunen immer besser arbeiten. Es gibt wahrscheinlich sowohl bei den Optionskommunen als auch bei den Arbeitsgemeinschaften eher Gute und eher Schlechte.
Wir wollen den Kommunen Wahlmöglichkeiten eröffnen. Wir wollen vor allem auch ermöglichen, dass die Zusammenführung der kommunalen Kompetenz und der Kompetenz der Arbeitsagenturen in einem Jobcenter vor
Ort weiterhin möglich ist. Wenn dafür das Grundgesetz geändert werden muss, was nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wahrscheinlich ist, dann sollten wir dies im Interesse der Menschen auch tun. Passgenaue Hilfe zu leisten sollte unser Ziel sein.– Danke schön.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sage mal, was Herr Scholz für einen Unsinn vorgeschlagen hat!)
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kern der Hartz-Reformen, also die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, war richtig. Ich glaube, da sind wir uns ausnahmsweise in diesem Hause alle einig.
Jede und jeder Arbeitsuchende soll moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt erhalten. Die Hilfen sollen passgenau und schnell erfolgen, individuell sein, und die materielle Absicherung soll gewährleistet sein.
Jetzt hat uns das Bundesverfassungsgericht – Herr Dr. Jürgens hat darauf hingewiesen – ein Urteil beschert, das die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung in den sogenannten Arbeitsgemeinschaften als verfassungswidrige Mischverwaltung verbietet und dem Bund aufgegeben hat, bis zum Jahr 2010 eine Neuregelung vorzulegen. Hartz IV hat für viele langzeitarbeitslose Menschen Jobperspektiven eröffnet. Was zuvor von engagierten sozialdemokratischen Landräten und Oberbürgermeistern in Hessen schon im Rahmen der Hilfe zur Arbeit oder im Rahmen des Landesprogramms „Arbeit statt Sozialhilfe“ gemacht worden ist, wurde jetzt in Argen und Optionskommunen fortgeführt.
Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass die Organisationsfrage eine nachrangige Frage ist und dass der Mensch im Mittelpunkt stehen muss. Wichtig für die Betroffenen ist,dass sie eine Anlaufstelle haben – das hat Herr Dr.Jürgens richtig gesagt – und dass passive Geldleistungen,Arbeitsförderung und soziale Hilfen in einer Hand gebündelt vorhanden sind.
Es war falsch, dass die CDU-geführte Landesregierung einseitig auf das Optionsmodell gesetzt hat. Frau Lautenschläger hat möglichst viele Schilder mit der Aufschrift „Optionskommune“ an hessischen Landratsämtern angebracht, aber darüber wurde vergessen, was eigentlich Aufgabe des Landes ist. Wir sind hier nicht im Deutschen Bundestag, sondern im Hessischen Landtag.
Die Landespolitik ist verantwortlich dafür, dass der Prozess der Zusammenlegung, egal in welcher Organisationsform, vernünftig begeleitet wird und die Rahmenbedingungen, die vom Land zu bestimmen sind, eingehalten werden. Die Landesregierung ist dafür verantwortlich, dass ein ausreichendes Kinderbetreuungsangebot zur
Verfügung steht, weil nur die Menschen in Arbeit vermittelt werden können, die eine gute Kinderbetreuung vorfinden.
Ich will aber daran erinnern, dass diese Landesregierung dem Bereich Kinderbetreuung Jahr für Jahr 50 Millionen c entzogen und anschließend mit dem BAMBINI-Programm in die Kassen der Kommunen gegriffen hat,um ihr Versagen zu kaschieren. Die Landespolitik ist dafür verantwortlich, dass kein ausreichendes Angebot an sozialer Infrastruktur zur Verfügung steht, sodass Menschen, die überschuldet sind, oder Menschen, die ein Suchtproblem haben, schwer in Arbeit zu vermitteln sind. Was hat Frau Lautenschläger getan? Sie hat – Stichwort „Operation düstere Zukunft“ – 30 Millionen c aus dem Sozialetat gestrichen – bei den sogenannten freiwilligen sozialen Leistungen, die für die Sozialstruktur in Hessen unverzichtbar sind.
Die Landespolitik hat außerdem die Aufgabe, die für die Arbeitsvermittlung und Qualifizierung zuständigen Institutionen bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Was ist hier getan worden – außer Schilder mit der Aufschrift „Optionskommune“ anzubringen? Ein runder Tisch für genau diese Optionskommunen wurde eingerichtet und ein Pseudotreffen mit den Arbeitsgemeinschaften durchgeführt.
Meine Damen und Herren, die Landespolitik muss dafür sorgen, dass gesicherte Erkenntnisse und Zahlen vorliegen, auf deren Grundlage man Fehlentwicklungen erkennen und korrigieren kann.Was ist hier von der Landesregierung getan worden? Nichts, keine Zahlen. Herr Dr. Jürgens hat schon darauf hingewiesen. Im Zweifelsfall war die Software oder die Bundesagentur für Arbeit für das Fehlen von Statistiken verantwortlich.
Es ist wirklich erstaunlich – ich will es hier noch einmal zitieren –: Wir haben im Sozialausschuss im Rahmen der Beantwortung eines Berichtsantrags zum Thema Vogelgrippe von Frau Lautenschläger mitgeteilt bekommen, dass es in Hessen insgesamt 2.130.525 Hühner gab und dass davon 45.353 in 63 Haltungen lebten, die zwischen 500 und 1.000 Tiere umfassten. Im Rahmen der Beantwortung der Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Umsetzung von Hartz IV konnte uns die Landesregierung aber nicht sagen, wie viele Arbeitslose in welcher Kommune in Arbeit vermittelt wurden, und sprach trotzdem beharrlich von den Vorzügen der Optionskommunen. Sie konnte uns nicht sagen,ob und in welchem Umfang in den hessischen Kommunen, ob optierend oder nicht, die Schuldnerberatung, die Suchtberatung und die Familienberatung angeboten wurden. Auf die Frage, in welchen Bereichen es 1-c-Jobs gibt – das ist ja auch eine wichtige Frage –, wurde ebenfalls keine Antwort gegeben. Stand heute, Mai 2008, haben wir noch immer keine vernünftigen Antworten, was die Umsetzung des SGB II in Hessen betrifft.
Entschuldigung, Frau Fuhrmann, Sie haben nicht „noch eine Minute“. Wir sind in einer Aktuellen Stunde. Da ist die Redezeit noch präziser einzuhalten. Ich bitte Sie, jetzt schnell zum Schluss zu kommen.
Jetzt ist eine halbe Minute um.– Ich bin dafür,die Debatte zu entschleunigen. Die Zeit ist nicht knapp. Wir sollten eine sachliche Diskussion führen. Wir sollten abwarten, was die Arbeitsgruppe an Ergebnissen bringt, und wir sollten klar an dem Kernstück der Reform festhalten,dem Prinzip der Hilfe aus einer Hand, der prinzipiellen Verantwortung des Bundes, der Verantwortlichkeit der Kommunen –wirklich auf Augenhöhe mit dem Bund.Wir sollten auch einfordern, dass die hessische Arbeitsmarktpolitik wieder einen eigenständigen Beitrag in Form zielgruppenspezifischer Programme leistet. Das ist bisher nicht geschehen.