Protocol of the Session on May 15, 2008

Absurd erscheint die Weiterführung des Rechtsstreits in vielerlei Hinsicht. So hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil anerkannt, dass die Familie Kazan in die bundesdeutschen Lebensverhältnisse fest integriert war. Die Kinder haben allein das soziale Bezugssystem der BRD kennengelernt und sind zu faktischen Inländern geworden. – Zitat. – Eine Integration in die Türkei ist für die Kinder dagegen nicht möglich. Sie sprechen kein Türkisch. Den Kindern wird Schulbildung vorenthalten. Eine Rückkehr zum Schuljahresbeginn ist zwingend erforderlich. In der Türkei haben sie keine Perspektive. Ein Sohn leidet an einem angeborenen Herzfehler. Hier sind weitere regelmäßige ärztliche Behandlungen notwendig.

(Peter Beuth (CDU): Das bekommt er in der Türkei auch!)

Ganz besonders wichtig: Der Helferkreis hat sich verpflichtet, sämtliche Kosten für die Lebenshaltung der Familie zu übernehmen. Meine Damen und Herren, vom Helferkreis wurde im letzten Jahr ein bürgerschaftliches Engagement an den Tag gelegt, das seinesgleichen sucht und das es zu würdigen gilt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Dementsprechend müssten im Fall der Wiedereinreise außer Kindergeld keine staatlichen Leistungen in Anspruch genommen werden. Herr Innenminister, bitte lenken Sie ein, und ermöglichen Sie den Kindern mit der zügigen Wiedereinreise eine Lebensperspektive und das Ende einer bereits viel zu langen Leidenszeit. Für die Familie drängt die Zeit. Ich appelliere an Sie: Respektieren Sie das Urteil, und weisen Sie Ihre Behörde an, die eingelegten Rechtsmittel zurückzunehmen. Gute Integration muss belohnt werden. Jetzt liegt es an Ihnen, das zu bekräftigen. – Ich danke Ihnen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Degen. Das war auch gleichzeitig die erste Rede im Hessischen Landtag. Herzlichen Glückwunsch.

(Beifall)

Das Wort hat Herr Kollege Staatsminister Bouffier.

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Degen,das,was Sie ausgeführt haben, nehme ich sehr, sehr ernst. Ich bin in einer etwas schwierigen Lage. Ich kenne diesen Fall seit Jahren intimst. Ich habe mich auch mit dem Unterstützerkreis getroffen. Ich respektiere Engagement. Ich weiß sehr wohl, dass hier viele mit sehr viel Herzblut engagiert sind.

Ich habe allerdings das Problem, dass in den Medien und überall sehr viel über diesen Fall berichtet wird, mir die Fachabteilung aber alle drei Zeilen aufschreibt, dass ich zu diesen Dingen öffentlich all das nicht sagen darf, weil

dem der Datenschutz entgegensteht. Deshalb muss ich mich auf sehr allgemeine Bemerkungen beschränken.

Herr Kollege Beuth hat darauf hingewiesen, dass um diese Familie und ihr Bemühen um ein Aufenthaltsrecht in dieser Republik eine Vielzahl von Verwaltungsverfahren und anderen Gerichtsverfahren gelaufen ist. Sämtliche kamen immer zu dem gleichen Ergebnis, nämlich dass ein Aufenthaltsrecht nicht gewährt werden kann. Sie haben sämtlich immer zum Ausdruck gebracht, dass eine gelungene Integration dieser Familie nicht vorliegt. Die Gründe sind den meisten sehr wohl bekannt, die sich mit dem Fall beschäftigen.

Dieser Fall hat zwei Dimensionen. Herr Kollege Greilich hat aus meiner Sicht zu Recht darauf hingewiesen: In einer Aktuellen Stunde ist es sehr, sehr schwierig, das angemessen zu behandeln. Die sachliche Seite, wie es wirklich war, werde ich Ihnen, soweit es mir möglich ist, im Innenausschuss darlegen.

Eines bleibt: Wir haben uns mit außerordentlich großer Mühe um diese Sache gekümmert. Ich darf einmal darauf hinweisen: Im letzten Sommer war der Petitionsausschuss unter meiner Begleitung in Istanbul. Wir haben uns bei dem dortigen Generalkonsulat, der dortigen ärztlichen Vertretung des Generalkonsulats intensiv über genau diesen Fall informiert. Es ist keineswegs so, dass hier aus Sturheit oder aus mangelnder Sensibilität ein Weg gehalten würde, weil man ihn einmal eingeschlagen hat. Es waren seinerzeit auch Kollegen dabei, die auch diesem Parlament wieder angehören.

Deswegen halte ich zunächst einmal fest:Diese Familie ist zurzeit in Istanbul. Sie ist weder in Gefahr noch in Not. Mit mir braucht niemand darüber zu streiten, dass die Verhältnisse in der Türkei zum Teil anders sind als im Main-Kinzig-Kreis. Das haben wir aber oft. Die Frage, um die es hier geht, ist eine andere.

Der Main-Kinzig-Kreis hat seine Abschiebeentscheidung darauf gestützt, dass eine Integration dieser Familie nicht vorliege. Das war im vergangenen Jahr.

Auch diese Entscheidung wurde verwaltungsgerichtlich überprüft, und das Verwaltungsgericht hat dies ausdrücklich bestätigt. Das war die Sachlage. Nun haben wir eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt, die einen neuen Aspekt aufweist. Das Verwaltungsgericht hat die Kernfrage, um die es in diesem Fall und in vielen anderen Fällen geht, behandelt: Ist ein Bleiberecht, das sich aus dem Gesetz nicht ergibt, wenn aber die Möglichkeit einer eventuellen humanitären Entscheidung besteht, alleine auf die Kinder abzustellen, oder muss die gesamte Familie betrachtet werden?

(Sabine Waschke (SPD): Kinder haben auch Rechte!)

Bisher galt der Grundsatz, dass Kinder und Eltern nicht unterschiedlich behandelt und beurteilt werden können, in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland einheitlich, insbesondere auch beim Verwaltungsgerichtshof Kassel.

Er ist auch die Grundlage des von mir durchgesetzten Bleiberechtsbeschlusses der Innenministerkonferenz Deutschlands, in dem ausdrücklich in einer Passage festgehalten ist – Sie wissen, wir beschließen immer einstimmig –, dass die Kinder das Schicksal der Eltern teilen und umgekehrt. Davon gibt es Ausnahmen, die sind genau beschrieben, die liegen aber hier nicht vor.

Wer sagt, nur die Kinder sollten bleiben, muss auch eine Antwort darauf geben, was wir mit den Eltern machen. Das Neue an dieser Entscheidung ist, dass das Verwaltungsgericht erstmals aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein unmittelbares Aufenthaltsrecht ableitet. Dies ist bisher noch nie so entschieden worden.

Wenn daraus direkt ein Aufenthaltsrecht folgen würde – nur bei Betrachtung der Kinder –, dann brauchten wir uns um Bleiberechtsregelungen nicht mehr zu kümmern. Dann ist alles das, was wir beschlossen haben, im Deutschen Bundestag und im Deutschen Bundesrat, überflüssig. Dann könnte ich alleine auf diese Rechtsfolge abstellen. Das ist eine so grundsätzliche Entscheidung, dass es weit über diesen Fall hinaus erforderlich ist, eine entsprechende höchstrichterliche Entscheidung dazu zu bekommen.

(Gernot Grumbach (SPD): Das ist der falsche Fall! – Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Das Verwaltungsgericht hat selbst ausdrücklich die Berufung zugelassen, weil die Richter wissen, dass dies eine Abkehr von der bisherigen Haltung ist. Ich will darauf hinweisen;Wenn das wirklich richtig wäre, dann würde es in der Konsequenz dazu führen, dass mit dem Hinweis, dass die Kinder hier gelebt haben, unter völliger Zurückstellung des Verhaltens der Eltern, den Kindern das Aufenthaltsrecht gegeben wird. In der Folge wird es ebenso der Mutter gegeben,da die Kinder hier nicht alleine leben können. Schließlich kann der Mann im Wege der Familienzusammenführung einreisen.

Wenn Sie das so wollen, dann schlage ich vor, dass die Frage,wie sich Eltern und Teile von Eltern in diesem Land verhalten haben – in dem vorliegenden Fall ist das von großer Bedeutung –, in Zukunft nicht mehr zu beachten ist. Ich halte das für nicht richtig.

Ich bedauere,dass ich hier zu den Einzelheiten nicht mehr vortragen kann.

(Zuruf des Abg. Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich will mich ausdrücklich auf den zweiten Teil beschränken. Es wird nicht nur von mir für richtig gehalten, es ist meine Pflicht als verantwortlicher Innenminister, bei einer so grundlegenden Veränderung der Entscheidungspraxis zum Ausländerrecht dafür Sorge zu tragen, dass die Behörden, aber auch die Betroffenen wissen, was in diesem Land gilt.

Herr Staatsminister, die Redezeit ist abgelaufen.

Das ist nicht nur meine Überzeugung, das ist auch meine Pflicht. Deswegen werde ich die Anweisung zur Einlegung der Berufung nicht zurücknehmen.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Staatsminister Bouffier. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

(Zuruf des Abg. Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Zu dieser Aktuellen Stunde haben wir den Dringlichen Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucks. 17/185, mitbehandelt. Die Antragsteller haben signalisiert, dass dieser Antrag zur weiteren Beratung an den Innenausschuss überwiesen werden soll.Wird dem widersprochen? – Herr Wagner, zur Geschäftsordnung.

Herr Präsident, das ist ein gemeinsamer Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.Wir haben uns darauf verständigt, ihn zur abschließenden Beratung an den Innenausschuss zu überweisen.

Wird dem widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Dann geben wir diesen Antrag, wie Kollege Wagner eben gesagt hat, an den Innenausschuss zur abschließenden Beratung.

Meine Damen und Herren, ich darf feststellen, dass diese Aktuelle Stunde abgehalten ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:

Antrag der Fraktion der CDU betreffend eine Aktuelle Stunde (Keine Zentralisierung beim Arbeitslosengeld II – Leistung aus einer Hand muss bleiben) – Drucks. 17/181 –

Ich erteile Frau Müller-Klepper für die CDU-Fraktion das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Einrichtung der Jobcenter sind eine sozialpolitische Reform, die diesen Namen verdient. Die Langzeitarbeitslosen werden jetzt besser betreut und durch die Arbeitsgemeinschaften, in denen Bund und Kommunen gemeinsam Verantwortung tragen, und durch die 69 Optionskommunen, die eigenverantwortlich die Aufgaben wahrnehmen, in Arbeit vermittelt.

Der Erfolg ist greifbar durch zusätzliche Chancen auf ein Leben in Beschäftigung und Eigenverantwortung für Menschen, die vielfach bereits abgeschrieben waren. Dies darf jetzt nicht durch eine falsche organisatorische Weichenstellung aufs Spiel gesetzt werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das Bundesverfassungsgericht hat die Argen als verfassungswidrige Mischverwaltung eingestuft und fordert eine Neuregelung. Die kooperativen Jobcenter, die Bundesminister Scholz jetzt ohne Gesetzesänderung auf den Weg bringen will, sind die falsche Antwort. Es wäre eine getrennte Aufgabenwahrnehmung von zwei Trägern unter einem Dach. Das löst das Problem nicht, sondern schafft weitere Schwierigkeiten.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Es wird im Moment umfassende bürgerfreundliche Hilfe aus einem Guss und einer Hand gewährt. Kooperative Jobcenter machen dies zunichte. Nachdem endlich die sachwidrige und teure Aufsplittung in zwei Systeme und damit Verschiebebahnhöfe und Reibungsverluste been

det sind, sollen nun wieder Doppelstrukturen entstehen und Abläufe verkompliziert werden. Das ist eine Rolle rückwärts, ein Rückfall in alte Fehler.

Die derzeitigen Jobcenter sind ein Erfolgsmodell, auch weil sie vor Ort angesiedelt sind und die örtlichen Strukturen der Hilfe in ihrer ganzen Vielfalt nutzen.Sie können schnell und individuell die Hilfen auf den Einzelnen zuschneiden.

Regionalisierte Arbeitsmarktpolitik,lokale Strategien zur Qualifizierung und Eingliederung, Fallmanagement für den Einzelnen – auf diese Weise kann Langzeitarbeitslosen geholfen werden.Nicht aber wie bei den kooperativen Jobcentern durch eine Zentralisierung der Verantwortung. Das Modell beinhaltet keine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe. Es degradiert die Kommunen zu arbeitsmarktpolitischen Statisten. Es sieht die Zukunft der Aufgabenwahrnehmung eindeutig bei der Bundesagentur für Arbeit. Dies wird der Bedeutung der Kommunen und ihrer guten Arbeit nicht gerecht. Stattdessen sollte ihre Stärkung ins Auge gefasst werden.

Das Bundesverfassungsgericht bevorzugt auch eine dezentrale Struktur. Mit zentralen Vorgaben lässt sich kein Fallmanagement betreiben. Wir brauchen kein neues Bundessozialamt, bei dem die Gefahr einer überbordenden Bürokratie droht und das weit entfernt von den Menschen ist.