Protocol of the Session on May 15, 2008

Nun zu meinem zweiten Punkt. Unabhängig davon, dass ich eine Auffassung davon habe – ich denke, das habe ich häufig genug gesagt –, wie der Innenminister letztendlich entscheiden sollte, gibt es auch eine juristische Dimension dieses Falls, die im Übrigen auch eine finanziell sehr wirksame ist. Eines ist klar: Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts stellt fest, und zwar in völliger Veränderung der bisherigen Rechtssprechung, dass Kinder immer dann, wenn sie hier integriert sind, generell nicht abgeschoben werden dürften. Das wäre die Konsequenz, wenn dieses Urteil rechtskräftig würde.Was das letztendlich für unsere ausländerrechtliche Praxis bedeutet für die finanzielle Belastung unserer Kommunen sowie, muss ich an dieser Stelle nicht näher ausführen.

Es wird daher die Aufgabe des Innenministers sein,zu klären, welche Möglichkeiten es für eine humanitär akzeptable Lösung für den Einzelfall gibt, und dafür zu sorgen, dass diese juristische Frage ordentlich geklärt wird. Es geht mir zu weit, hier zu klären, wie dies geschehen könnte. Es gibt Fortsetzungsverfahren, die auch dann durchgeführt werden können, wenn sich der Fall in der Hauptsache erledigt hat. Das werden die Fachleute im Innenministerium entscheiden können. Die politische Botschaft ist ganz klar eine andere als die einer rechtlichen Beurteilung.Wir sind nicht dafür da, über den Einzelfall zu entscheiden. Ich finde auch, dass es nicht ange

messen gewesen ist, diesen Fall überhaupt in der Aktuellen Stunde vorzubringen. Hierauf hätten sich lediglich die entsprechenden Gremien konzentrieren sollen.

(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD)

Herr Kollege Greilich, herzlichen Dank. – Für die Fraktion DIE LINKE erteile ich Frau Kollegin Cárdenas das Wort.

Ich bin sehr froh, dass wir diesen Fall in der Aktuellen Stunde behandeln können.Ich bin selbst mit dem Fall vertraut,da sich mein Wahlkreisbüro in Hanau,also im MainKinzig-Kreis, befindet. Als LINKE möchten wir das Vorgehen des Innenministers Bouffier aufs Schärfste verurteilen, da die Familie Kazan am 13.02.2007 in die Türkei ausgewiesen wurde. Wir wissen nun, dass die Kinder eigentlich nicht hätten ausgewiesen werden dürfen. Der Prozess gegen diese Ausweisung ist am 10.03.2008 gewonnen worden. Die sofortige Wiedereinreise der Mutter Kazan sowie ihrer sechs Kinder, die zwischen sechs und 15 Jahre alt sind, konnte erwirkt werden.

Nachdem Innenminister Bouffier Herrn Landrat Pipa angewiesen hatte, Berufung einzulegen und damit die Wiedereinreise zu verhindern, der Landrat dies aber zurückgewiesen hatte, wurde Herr Innenminister Bouffier aktiv und ging selbst in Berufung. Der Kreis Main-Kinzig geht allerdings davon aus, dass sich der Innenminister gar nicht als Beteiligter definieren durfte sowie selbst gar keine Berufung einlegen konnte. Die Kreistagsfraktionen im Main-Kinzig-Kreis, LINKE, SPD usw., haben sich dafür ausgesprochen,für die Mutter sowie die Kinder Kazan eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes auszusprechen. Herr Landrat Pipa hat dieses Vorgehen ausdrücklich gebilligt und die Unterstützung des Helferkreises, der eine Verpflichtungserklärung für den Lebensunterhalt der Familie eingegangen ist und diese weiterhin aufrechterhält, gewürdigt.

Das Verwaltungsgericht hatte sowohl die Mutter als auch die Kinder als „faktische Inländer“ bezeichnet und den Kindern hervorragende Deutschkenntnisse und gute schulische Leistungen bescheinigt. DIE LINKE fordert daher Herrn Innenminister Bouffier auf, die Mutter und die Kinder Kazan einreisen zu lassen und auf das weitere Einlegen von Rechtsmitteln zu verzichten.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Fraktion DIE LINKE ist überzeugt, dass ein Regierungswechsel und folglich ein anderer Innenminister für die betroffene Familie eine andere Politik umgesetzt hätte.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Innenminister, der nicht bereit ist, einen Asylstopp, den die Legislative beschlossen hat, umzusetzen, ist nicht hinnehmbar. Ein Innenminister, der die Beschlüsse der Exekutive nicht respektiert, ist ebenfalls nicht hinnehmbar. Deshalb unterstützen wir als linke Landtagsfraktion den Dringlichen Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Kollegin Cárdenas,herzlichen Dank.– Für die CDUFraktion erteile ich Herrn Kollegen Beuth das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal ganz kurz darauf zurückkommen, dass wir in unserem Land für Flüchtlinge und Asylbewerber ein sehr großzügiges Recht haben. Ich finde, das ist auch gut so. Allerdings müssen wir dafür Sorge tragen, dass wir die Aufnahmebereitschaft sowie die Akzeptanz dieses sehr großzügigen Asyl- und Flüchtlingsrechts am Ende nicht überstrapazieren. Wir haben viele Tausende Schicksale, die wir in Hessen zu behandeln haben. Das Aufenthaltsgesetz dient dem Prinzip, dass wir den Menschen zum einen Zuflucht bieten können, zum anderen bedingt dieses Prinzip, dass wir am Ende diejenigen, die hier keine Zuflucht mehr benötigen oder kein Zufluchtsrecht haben, wieder in ihr Heimatland zurückschicken können.

Frau Kollegin, in einem Rechtsstaat muss jede einzelne Entscheidung, die es vielleicht zwischenzeitlich gibt, sei es eine Behördenentscheidung oder eine gerichtliche, am Ende einer Überprüfung standhalten. Unser Rechtsstaat sieht vor, dass wir mit Recht und Gesetz umfängliche Möglichkeiten haben, Behörden- und Gerichtsentscheidungen am Ende zu überprüfen. Daran sollten wir uns halten.

Wir sollten unsere Entscheidungen nicht von der Qualität oder Quantität möglicher Unterstützerkreise abhängig machen. Ich glaube, das ist dieser Sache nicht angemessen.

Im Übrigen ist es auch nicht angemessen, diesen Einzelfall in der Aktuellen Stunde des Hessischen Landtags zu präsentieren,weil es denjenigen,die die Entscheidung des Innenministers sowie des Regierungspräsidiums zu verteidigen haben, überhaupt keine Gelegenheit bietet, diesen Sachverhalt vernünftig darzustellen. Der Datenschutz spricht dem entgegen – genau das wissen auch Sie. Daher sage ich Ihnen:Es ist grob unfair,was Sie uns in dieser Aktuellen Stunde zumuten.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren,deswegen können wir hier nur Folgendes andeuten: Die Familie ist im Jahre 1993 mit einem Sohn eingereist,weitere fünf Kinder sind in Deutschland geboren. Der Rechtsstaat hat sich während dieser Zeit um diese Familie hinlänglich gekümmert. In der Regel – ich kann auf den Einzelfall ja nicht eingehen – liegt die Anzahl der Gerichtsverfahren, inklusive der Rechtsmittel, für Verfahren wie dieses, das sich seit dem Jahre 1993 bis zum Jahre 2007 hingezogen hat, im zweistelligen Bereich.

Im Plenarsaal des Hessischen Landtags kann ich mit Ihnen nicht darüber diskutieren, ob die Familie in diesem Zusammenhang ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen ist. Das müsste vom Petitionsausschuss oder in einer Härtefallkommission diskutiert werden. Wir können ja auch nicht klären, ob eventuelle Straffälligkeiten vorgelegen haben; und wir können hier überhaupt nicht miteinander darüber diskutieren, ob dieses Bild der heilen Welt, wie es von Unterstützerkreisen sowie von Ihnen ausgemalt worden ist, wirklich zutrifft. Das ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht diskutabel, weil es im

Widerspruch zu den Persönlichkeitsrechten dieser Familie stünde.

(Beifall bei der CDU)

Wir können im Hessischen Landtag auch überhaupt nicht miteinander diskutieren, ob und in welchem Umfange ein Sozialhilfebezug vorgelegen hat. Daher bleibe ich dabei: Es ist grob unfair, dass Sie diesen Antrag in die Aktuelle Stunde eingebracht haben. Die Frage, inwieweit die soziale Integration gelungen ist, ist an dieser Stelle überhaupt nicht diskutabel.

Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der SPD, ich empfehle Ihnen, sich einmal tiefer mit Herrn Landrat Pipa zu unterhalten.Dieser hat sich hierzu gegenüber „Frontal 21“ im Juni des Jahres 2007 geäußert. Vielleicht lassen Sie sich dieses Schreiben vorlegen,denn dann würden Sie sehr vieles über die Dinge erfahren, die ich soeben angedeutet habe.

(Günter Rudolph (SPD): Es ist bekannt!)

Über diese Dinge können wir hier leider nicht tiefer diskutieren, weil dem die Persönlichkeitsrechte entgegenstehen.

Inwieweit die Integration der Eltern gelungen ist, mögen Sie bitte im Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt selbst nachlesen.

(Günter Rudolph (SPD): Das haben wir gemacht!)

Lieber Kollege Rudolph, dort wird nämlich genau diese Frage verneint. Das ist eine Frage, die das Gericht zu entscheiden hat, aber die wir, weil wir die Chance haben, Berufung einzulegen, noch einmal überprüfen lassen wollen. Das Gericht ist über die Reintegrationsprognose für die Kinder dazu gekommen, dass die Familie hier ein Aufenthaltsrecht hat. Dass es sich um eine grundsätzliche Entscheidung handelt, hat das Verwaltungsgericht Frankfurt sogar selbst festgestellt, weil es nämlich die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ausgesprochen hat. Danach ist eine Berufung nur zugelassen, wenn einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zugemessen wird. In diesem Sinne ist es richtig, dass der Innenminister entsprechend gehandelt hat.Wir folgen Recht und Gesetz.Es wäre klug, wenn Sie das auch täten. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Beuth. – Für die SPDFraktion erteile ich Herrn Kollegen Degen das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn der Hintergrund der Aktuellen Stunde, das Schicksal der Familie Kazan,ein trauriger ist,so liegt doch ein Funken Gutes darin. Denn gerade dem Land Hessen steht es gut an, nach dem vergangenen Wahlkampf auch einmal positive Beispiele gelungener Integration in den Vordergrund zu stellen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Der Fall Kazan ist ein Beispiel für gelungene Integration. Die sechs Kinder, von denen fünf in Deutschland geboren wurden, waren bis zu der Abschiebung im Februar 2007 besser integriert,als man das von manch einem Kind ohne

Migrationshintergrund wünschen würde. Als Abgeordneter des Wahlkreises Main-Kinzig I, in dem die Familie lange gelebt hat, will ich Ihnen das gerne verdeutlichen. „Liebenswürdig, aufgeschlossen, vielseitig interessiert, lebhaft,aber nicht aufdringlich“,so werden die Kinder beschrieben. Sie sorgten für ein gutes Klima in der Schule. Die vier Kazan-Mädchen trugen kein Kopftuch. Sie gingen mit zum Schwimmunterricht. Sie nahmen an Klassenfahrten teil. Eine von ihnen war Klassensprecherin und gewann den Schulvorlesewettbewerb. Meine Damen und Herren, gute Integration hat sich hier nicht nur angebahnt, sie wurde vorbildlich gelebt.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Die Mutter unterstützte diesen Prozess, wo sie nur konnte. Sie hielt intensiven Kontakt zur Schule und gewann zunehmend Anschluss an die Eltern der Mitschüler ihrer Kinder. Leider entwickelte sich der Vater nicht in gleicher Weise und gab durch eine Straffälligkeit Anlass zur Ausweisung der ganzen Familie.

(Hugo Klein (Freigericht) (CDU):Und die Mutter? – Gegenruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Einfach mal zuhören!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Klein, Frau Kazan hat sich mittlerweile von ihrem Mann getrennt. Sie können sich vorstellen, was das für eine Frau mit traditionell kurdischem Hintergrund bedeutet.

(Hugo Klein (Freigericht) (CDU): Sie sollen von der Straffälligkeit der Mutter reden! Was ist mit der Straffälligkeit der Mutter?)

Wollen wir ihre Kinder und sie tatsächlich für das Fehlverhalten ihres Mannes büßen lassen? – Nein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN)

Wenn wir hier eine Wiedereinreise fordern, dann wollen wir ausschließlich Frau Kazan und ihren Kindern den Weg zurück in ihr vertrautes Umfeld bieten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es ist Eile geboten. Frau Kazan lebt in der Türkei in großer Angst vor Entdeckung.Sie und die Kinder verlassen die Wohnung nur, wenn es unbedingt sein muss. Der Helferkreis aus Gründau, der heute hier zu Gast ist, was mich sehr freut, finanziert seither Frau Kazan und ihren Kinder eine Wohnung in Istanbul sowie den Lebensunterhalt und garantiert das auch für die Rückkehr nach Deutschland.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Wie schwierig die Situation ist, zeigt sich auch daran, dass die Kinder in Istanbul nicht einmal die deutsche Schule besuchen dürfen, weil sie keine deutschen Staatsbürger sind. Das macht es noch schlimmer: Sie können keine türkische Schule besuchen, weil die Kinder kein Türkisch sprechen. Die eigentliche Absurdität des Ganzen liegt doch darin, dass gemäß dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom 10. März dieses Jahres Frau Kazan und ihren Kinder eigentlich Aufenthaltserlaubnisse auszustellen sind.Trotz der Unterstützung der zuständigen Ausländerbehörde und auch des Landrates des Main-Kinzig-Kreises

ist das aber nicht möglich, da über den Regierungspräsidenten Widerspruch eingelegt wurde.

(Zurufe der Abg. Peter Beuth (CDU) und Günter Rudolph (SPD))

Absurd erscheint die Weiterführung des Rechtsstreits in vielerlei Hinsicht. So hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil anerkannt, dass die Familie Kazan in die bundesdeutschen Lebensverhältnisse fest integriert war. Die Kinder haben allein das soziale Bezugssystem der BRD kennengelernt und sind zu faktischen Inländern geworden. – Zitat. – Eine Integration in die Türkei ist für die Kinder dagegen nicht möglich. Sie sprechen kein Türkisch. Den Kindern wird Schulbildung vorenthalten. Eine Rückkehr zum Schuljahresbeginn ist zwingend erforderlich. In der Türkei haben sie keine Perspektive. Ein Sohn leidet an einem angeborenen Herzfehler. Hier sind weitere regelmäßige ärztliche Behandlungen notwendig.