Protocol of the Session on September 23, 2008

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Sie haben die Agenda und die Reform zum Erhalt der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland begrüßt. Wenn ich zurückblicke – das sei gestattet – auf die Zeiten vor der rot-grünen Regierungszeit, bevor die Agenda beschlossen wurde,also auf die Regierungszeit von Helmut Kohl,dann kann ich Ihnen nur sagen: Ja, das Aussitzen von Herrn Kohl über 16 Jahre hat den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland massiv geschadet.

(Beifall bei der SPD)

Was ist denn nach der Wiedervereinigung bis zur Abwahl von Herrn Kohl im Jahr 1998 passiert? – Gar nichts. Die Wiedervereinigung wurde angeblich aus der Portokasse bezahlt. Die blühenden Landschaften im Osten – wir haben es alle noch im Kopf. Den Sozialversicherungssystemen wurden die gesamten sozialen Probleme der Einheit aufgelastet. Der Bundeshaushalt wurde so an die Wand gefahren, wie Sie heute den Landeshaushalt an die Wand gefahren haben. Während in allen anderen europäischen Ländern längst Reformen zum Erhalt der sozialen Sicherungssysteme eingeleitet worden sind, hat Helmut Kohl eines gemacht, nämlich nichts. Er hat es ausgesessen.

Also musste die Regierung Schröder zu rot-grünen Regierungszeiten handeln. Es wurde Zeit, dass gehandelt worden ist. Da gab es schmerzliche Einschnitte. Ich will nicht verhehlen, dass mir und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen – meine Vorsitzende gehört dazu, aber eben auch viele andere – manche dieser Einschnitte nicht gefallen haben. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass die Ministerpräsidenten der CDU, insbesondere Herr Koch, in der Nacht der langen Messer, dem Vermittlungsausschuss, auf Einschnitten bestanden haben, die weder Rote noch GRÜNE hätten machen wollen.Auch das gehört zur Wahrheit. Aber ohne den konservativ dominierten Bundesrat ging damals nichts.

Sie begrüßen die Agenda 2010, meinen damit aber nur Hartz IV bzw. die Sie immer interessierende Frage: Optionsmodell oder Arbeitsgemeinschaften? – Die Agenda 2010 war aber sehr viel mehr als Hartz IV. Ein wesentlicher Punkt war das Vorziehen der Steuerreform. Die Bürgerinnen und Bürger sind insgesamt um 56 Millionen c entlastet worden. Der Eingangssteuersatz sank auf 15 %, der Spitzensteuersatz auf 42 %. Davon haben Sie heute nicht gesprochen.

Vor allem Familien mit Kindern haben profitiert. Ihnen kam auch zugute, dass die rot-grüne Bundesregierung endlich das Kindergeld angehoben hat, wie es unter Kohl jahrelang nicht passierte. Auch davon haben Sie nicht gesprochen.

(Beifall bei der SPD)

Mit der Agenda 2010 wurde auch die Handwerksordnung geändert. Die Tatsache, dass viele Gesellen heute ihren eigenen kleinen Betrieb aufmachen können, hat ebenfalls einen positiven Effekt gehabt und ist ein Schritt in Richtung Europa.

(Michael Boddenberg (CDU): Das sehen nur Sie so! Das ist grober Unfug!)

Die Agenda 2010 hat den Startschuss zu einer Ausbildungsplatzoffensive gegeben. Am Ende stand ein verbindlicher Ausbildungspakt, in dessen Rahmen z. B. die Bundesregierung in ihren eigenen Behörden 20 % mehr Jugendliche ausgebildet hat,als diese massenweise auf der Straße standen. Davon haben Sie nicht gesprochen, Frau Lautenschläger.Hier ist die Regierung nicht einmal bereit gewesen, die eigenen Anstrengungen um 10 % zu erhöhen.

Die Agenda 2010 war auch ein riesiges Investitionsprogramm in Bildung und Forschung. Auch davon haben Sie nicht gesprochen, Frau Lautenschläger.

(Beifall bei der SPD)

4 Milliarden c sind allein in den Ausbau von Ganztagsschulen geflossen.Was macht Hessen? Statt sich zu beteiligen, wurde herumgemäkelt. Koch hat gesagt: Das Geld wollen wir nicht, der Bund soll sich aus der Bildungspolitik heraushalten. – Die Kultusministerin hat das Geld erst für die Schulbibliotheken gewollt; dann wurden Mensen gebaut,damit diese verkorkste Reform G 8 kaschiert werden konnte. So war es nicht gedacht.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ziemlich zynisch, wenn Sie die Agenda 2010 so reduziert loben. Sie sollten alles loben.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie reden ganz schön drum herum, Frau Kollegin! Kommen Sie doch einmal zum Thema! – Gegenruf der Abg. Andrea Ypsilanti (SPD))

Ich komme zum Thema, lieber Herr Kollege.

Die Agenda 2010 war auch ein Programm zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Renate Schmidt z. B. hat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz den Kommunen 1,5 Milliarden c mehr gegeben.Auch das ist die Agenda 2010, und auch davon haben Sie nicht gesprochen.

(Beifall bei der SPD)

Aber jetzt komme ich zum Kern der Regierungserklärung, Herr Kollege, zum CDU-Antrag und zur Frage Hartz IV.

(Michael Boddenberg (CDU): Prima!)

Ich sage Ihnen das Gleiche, was ich Ihnen die ganzen letzten fünf Jahre gesagt habe: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war und ist richtig.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Frank Gotthardt (CDU))

Beide Leistungen sind steuerfinanziert. Richtig ist auch: Wir haben heute weniger Arbeitslose und werden vielleicht erfahren, wenn die wissenschaftliche Untersuchung abgeschlossen ist, welche Arbeitsmarkteffekte letztendlich auf die Reformen zurückgehen – ganz eindeutig.

Aber, Frau Lautenschläger, wenn Sie anführen, es sei schon ein Zeichen für gute Arbeit, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach oben gegangen ist, kann ich nur sagen: Na ja, da zählt jeder Jugendliche mit, der einen Ausbildungsvertrag hat, und jeder Job über 400 c. Also sagen diese Zahlen nicht unbedingt sehr viel aus.

(Michael Boddenberg (CDU): Haben die früher nicht dazugezählt?)

Wir haben es nach anfänglichen, ziemlich schweren Kinderkrankheiten endlich geschafft, die Beratung und Vermittlung sicherzustellen und zu verbessern, und wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden, die sicherstellt, dass in Zukunft Optionskommunen und Argen auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiter arbeiten können.

Für die Regierung Koch waren in dieser Debatte drei Punkte immer zentral: erstens, die Zumutbarkeit für die Annahme von Arbeit zu schleifen,zweitens das Absenken der Regelsätze und drittens die Organisationsfrage.

Herr Koch hat in dieser Kampagne, genau wie in früheren Kampagnen, die Sündenböcke gesucht und gefunden, nämlich die angeblich nicht Arbeitswilligen. Diese sollten sich, das sind sinngemäße Zitate,

(Axel Wintermeyer (CDU): Jetzt wirds gefährlich!)

auf ein sehr bescheidenes Leben, bis hin zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, einstellen. Statt von Sozialhilfe in Saus und Braus zu leben, sollten sie lieber Krabben pulen. Das war ein wahrlich christlich mitfühlender Sozialpolitiker, der damals aus Wisconsin heimkehrte.

(Marjana Schott (DIE LINKE): Er hört gerade nicht zu!)

Er hört nicht zu,das macht nichts.Dann kann er es nachlesen.

(Michael Boddenberg (CDU): Das kann er sich sparen!)

Wo ist er? – Herr Koch,ich begrüße Sie.Sie sind aber nicht in meinem Rücken.

Dass die übergroße Mehrheit der Arbeitslosen sich alle Finger nach einer Arbeit leckte, dass es aber keine für sie gab, haben Sie immer bestritten. Sie und die CDU haben im Vermittlungsausschuss durchgesetzt, dass die Zumutbarkeitsregeln für die Aufnahme einer Arbeit verschärft wurden.

(Michael Boddenberg (CDU): Klar!)

Sie sind auch heute noch dafür, dass Menschen für Hungerlöhne arbeiten sollen

(Michael Boddenberg (CDU): Quatsch! Das ist eine Unverschämtheit, Frau Kollegin!)

Sie können mir ja widersprechen –, und Sie wollten im Zuge der Verlängerung des Bezugs des Arbeitslosengeldes für ältere Menschen eine kostenneutrale Version, was konkret geheißen hätte, dass die Jüngeren hätten bluten müssen.

(Zuruf von der SPD: Ungeheuerlich!)

Wir haben heute, ich sagte es bereits, weniger Arbeitslose in Deutschland. Aber wenn wir genauer hinsehen, und dazu sind wir verpflichtet, müssen wir auch erkennen – Frau Lautenschläger, da können Sie noch so lange herumdiskutieren –, dass wir eine massive Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen haben.Wir haben Menschen, die für einen Stundenlohn unter 5 c arbeiten müssen.Wir haben Menschen, die dauerhaft immer nur befristet beschäftigt werden. Wer will darauf eine Familie gründen oder eine halbwegs gesicherte Existenz begründen? Wir haben eine erhebliche Zunahme der Leiharbeit,und diese wird schlechter bezahlt als die Stammbelegschaften. Wir haben eine deutliche Zunahme von Minijobs, die Ganztagsarbeitsplätze verdrängen. Wir haben mehr WorkingPoor wie in den USA, also Menschen, die mehrere Jobs haben, damit sie sich überhaupt über Wasser halten können. Frau Lautenschläger, wenn Sie sagen, man solle die Augen aufmachen und würde blühende Landschaften sehen, dann weiß ich nicht, wo sie als Sozialministerin hinschauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Sehen Sie nicht,dass in jeder Kommune Tafeln entstehen? Überall entstehen Bedarfe, wo Menschen von dem, was sie bekommen, nicht einmal mehr Lebensmittel kaufen können. Wo schauen Sie hin? Machen Sie die Augen auf, und nehmen Sie wahr, dass wir Armut in diesem reichen Land haben.

Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend einen gesetzlichen Mindestlohn, der verhindert, dass der Wettbewerb inzwischen über den niedrigsten Preis geht. Wir wollen, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, davon auch sich und ihre Familie ernähren können.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Hier sind es wieder die Christdemokraten, die das verhindern.

Gestatten Sie Zwischenfragen?

Sie behaupten, dass es Menschen gäbe, deren Arbeit eben nur einen Hungerlohn wert sei. Abgesehen von dem objektiven Zynismus, der in einer solchen Haltung zum Ausdruck kommt – Tatsache ist, dass sehr viele Menschen, die heute zu Niedriglöhnen arbeiten müssen, ausgebildete Fachkräfte sind, aber der Arbeitsmarkt ihnen keine Chance bietet.

Wir brauchen nicht nur den gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen auch eine Begrenzung der Leiharbeit, und wir müssen dafür sorgen, dass Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer nach der Einarbeitung genauso bezahlt werden wie die Stammbelegschaften, und müssen damit den schwarzen Schafen unter den Arbeitgebern Einhalt gebieten.