Als ich die Pressemeldungen der letzten Tage vernommen habe, bin ich schon etwas stutzig geworden, denn die Behindertenverbände wollen dieses Gesetz nicht. Ich habe heute Nachmittag die Teilnehmer der Demonstration gefragt, ob sie mit dem zufrieden sind, was für Behinderte getan wird, ob wir auf dem richtigen Weg sind, ob ihre Wünsche erfüllt werden, ob wir gar kein Gesetz mehr brauchen. Herr Dr. Jürgens, bei diesen Gesprächen ist mir der Verdacht gekommen, hier wurde wohl ein Stück weit nachgeholfen, dass es zu der Entscheidung einer Demonstration gekommen ist.
(Dr.Walter Lübcke (CDU): So ist es! – Petra Fuhrmann (SPD): Also wirklich! Ohne Worte! – Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie lassen sich vor den Karren spannen!)
Die großen Verbände, von denen heute Nachmittag niemand da war, haben mich angerufen und gesagt: „Frau Dörr, wir wollen das Gesetz, und wir wollen die Grundlage, damit behinderte Menschen künftig einklagbare Rechte haben.“
Nein. – Herr Dr. Jürgens, ich nehme nicht an, dass Sie so verwegen waren, hier vielleicht in Gesprächen nicht alles auf den Tisch des Hauses zu legen. Ich habe festgestellt, dass Sie die Änderungen, die wir in erster und zweiter Lesung eingebracht und die wir im Sozialpolitischen Ausschuss sehr ausführlich besprochen haben, den Betroffenen nicht mitteilen.
Es wurde wohl nichts davon gesagt, dass wir Änderungen eingebracht haben und dass wir gemäß dem Bundesgleichstellungsgesetz das Instrument der Zielvereinbarungen anwenden. Wir haben durch Änderungsanträge noch weitere Entlastungen in den vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen, die den Betroffenen, die heute hier waren, nicht bekannt waren. Ich hätte von Ihnen der Fairness halber schon erwartet, dass Sie die Änderungen, die wir in vielen Gesprächen und in den Sitzungen des Sozialpolitischen Ausschusses eingebracht haben, den Menschen zumindest mitteilen.
Wir haben heute zur Beschlussfassung in dritter Lesung den Gesetzentwurf für ein Hessisches Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vorliegen. CDU und FDP stimmen dem Gesetzentwurf der Landesregierung zu.Wir haben entsprechende Änderungen eingebracht, die auch vonseiten der Landesregierung in dem nunmehr zu verabschiedenden Gesetzentwurf verankert wurden. Ich darf Sie bitten, diesem Gesetzentwurf ebenfalls zuzustimmen.
Frau Kollegin Dörr,ich finde – das wird bei den Debatten, die wir hier mit Ihnen führen, immer deutlicher –, dass bei Ihnen offensichtlich die Arroganz der Macht schon so weit fortgeschritten ist,
dass Sie hier permanent die Menschen,die ihre Interessen und Forderungen an Sie formulieren, in dieser Art und Weise diskreditieren und abwerten.
Wenn Sie sich hierhin stellen und sagen, das sei eine zielgeleitete und gesteuerte Aktion von Menschen gewesen, die wirklich Betroffene in diesem Verfahren sind und die Ihnen ganz klipp und klar ins Stammbuch schreiben, dass sie lieber nichts hätten als die Regelung, die Sie hier vorlegen, wenn Sie sich in diesem Verfahren hierhin stellen und sagen, das seien gesteuerte Veranstaltungen, dann finde ich das wirklich unter aller Granate.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))
Frau Kollegin Dörr, es wäre eigentlich angebracht, dass Sie sich bei den Behindertenverbänden, die heute hier demonstriert haben, dafür entschuldigen.
Herr Kollege Frömmrich, ich habe zu Beginn meiner Rede Herrn Kollegen Dr. Jürgens gebeten, dass er, wenn er künftig wieder Worte von mir hier vorträgt, bitte alles vorträgt. Das muss ich an Sie genau so weitergeben. Das, was Sie hören wollten, haben Sie gehört, denn das hat Ihnen gerade so gepasst.
Ich habe nämlich gesagt: „Für mich drängt sich der Verdacht auf“. Nur für mich, und ich habe sonst niemanden angegriffen.
Mit dieser Aussage setze ich mich auch in personam mit Herrn Dr. Jürgens auseinander. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Nur möchte ich künftig, wie gesagt,
hier alles, was gesagt wird, vorgetragen haben und nicht nur das, was Ihnen passt, was draußen vielleicht gerade gut ankommt.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:Wir wären den beiden Geschäftsordnungsanträgen zu Beginn der Debatte besser gefolgt. Das wäre eindeutig der bessere Weg gewesen, denn die Debatte stellt nach meinem Empfinden einen Tiefpunkt des Parlamentarismus dar.
Frau Kollegin Dörr, bei aller Freundlichkeit möchte ich Ihnen sagen, Sie haben in Ihrer ganzen Rede vielleicht drei konkrete Sätze gesagt. Alles andere waren Füllsel, Absichtserklärungen und Wiederholungen der Aussage, wir seien alle gute Menschen. So kann man Politik natürlich auch machen. Ich glaube aber nicht, dass das sehr hilfreich ist.
Herr Kollege Rentsch, da die FDP-Fraktion weder in Ihrer Person noch in einer anderen Person an der Demonstration und an der kleinen Podiumsdiskussion hier im Hessischen Landtag, als wir mit den Demonstrierenden gesprochen haben, beteiligt war – ich habe Sie jedenfalls nicht gesehen –, muss ich Ihnen sagen: Sie sollten den Mund nicht ganz so voll nehmen.
Wenn Sie das alles vehement verteidigen, was die CDU und die Landesregierung vorgelegt haben, dann sollten Sie sich auch den Betroffenen stellen, die heute ganz klar erklärt haben, dass sie dieses Gesetz nicht wollen.
Eigentlich wollte ich sagen, dass heute ein ganz besonderer Tag ist, an dem sich die Forderung erfüllen sollte, ein vernünftiges hessisches Landesgleichstellungsgesetz zu verabschieden. Eigentlich sollte das ein Tag der Freude sein. Leider haben wir zur Freude überhaupt keinen Grund. Das haben wir mehrfach diskutiert, in der ersten Lesung, in der zweiten Lesung, im Ausschuss, heute mit den Betroffenen und in der Anhörung. Tatsache ist, der Landesregierung ist nicht nur kein großer Wurf gelungen, es ist ihr noch nicht einmal ein mittelprächtiger, sondern nur ein sehr schlechter Wurf gelungen.
Alle guten Appelle, alle guten Vorschläge der Oppositionsfraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ich nehme die FDP-Fraktion explizit aus –, alle Appelle der Betroffenen, alle Appelle der Verbände, alle Appelle in der Anhörung, die ausgesprochen gut gelaufen ist, haben bei Ihnen kein bisschen Nachdenken hervorgerufen. Das ist schade, weil in der Behindertenpolitik Hessen immer vorn war. Darauf waren wir alle stolz. Das ist jetzt leider nicht mehr der Fall.
Tatsache ist auch, dieses Gesetz wäre schon vor zwei Jahren in einem Diskussionsprozess entwickelbar gewesen. Sie haben alles abgelehnt, was in diese Richtung ging, und haben gesagt:Wir werden alle Landesgesetze überprüfen. – Das war das erste Placebo,Frau Kollegin Dörr.Nach wie vor liegt dem Parlament der Abschlussbericht der Überprüfungsgruppe nicht vor. Ich fordere Sie noch einmal auf, dem Parlament den Abschlussbericht vorzulegen, damit wir sehen können, welche Anregungen Sie aufgegriffen haben.
Sie haben sich mit Ihrem Gesetzentwurf an keiner Stelle getraut, klare Regeln und zwingende Vorschriften aufzunehmen. Ich sage Ihnen, das ist in der Behindertenpolitik einfach zu wenig. Sie haben komplett gekniffen.
Wenn Sie die Kommunen explizit ausnehmen und jetzt lächerliche Aussagen treffen wie die, man könne ja Zielvereinbarungen mit den Kommunen schließen, dann sagen Ihnen nicht nur die Betroffenen, sondern alle Beteiligten: Zielvereinbarungen hätten wir schon seit 20, 30, 40 Jahren schließen können. – Sie wissen ganz genau: Gesetze sind dazu da, diejenigen zu zwingen, die das Schlusslicht bilden, die sich aktiv verweigern, die keine Zielvereinbarung treffen, die keine Behindertenbeauftragten benennen, die keinen Behindertenbeirat einrichten, die sich allen guten Argumenten widersetzen. Für die sind die Gesetze da. Genau das wollen der Bundesgesetzgeber und die meisten Landesgesetzgeber erreichen. Die anderen Bundesländer haben hier leider die Nase vorne. Hessen ist ganz weit hinten.
Der Kollege Rentsch hat erneut darauf hingewiesen, dass es im Gleichstellungsgesetz von Rheinland-Pfalz heißt:
Die Behörden einschließlich der Gerichte des Landes sowie die Behörden der Gemeinden, der Gemeindeverbände und der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts haben im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs das in § 1 genannte Ziel zu berücksichtigen und aktiv zu fördern.
Wenn jetzt immer wieder die Langspielplatte aufgelegt wird, das könne alles nicht gemacht werden, weil wir das Konnexitätsprinzip in die Hessische Verfassung aufgenommen haben, dann kann ich Ihnen nur sagen: Was Rheinland-Pfalz kann, was Bayern kann, das können wir auch. Es ist eine Frage des Wollens. Ich habe mehrfach angeregt, dass wir als Ausschuss ein oder zwei Gutachten in Auftrag geben, um prüfen zu lassen, ob dies ein Fall für das Konnexitätsprinzip ist. Ich bin und bleibe aber der Auffassung,das ist kein Fall für das Konnexitätsprinzip,da es sich um einen ganz klaren Grundgesetzauftrag handelt. Das Grundgesetz gilt allumfassend und nicht für die Länderbehörden, sondern auch für die Gemeindebehörden. Deswegen hätte man diese Bestimmung ohne Probleme aufnehmen können. Man hätte es anschließend gerichtlich überprüfen lassen können. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, den Einbezug der Kommunen aufzunehmen und darauf zu warten, was die Kommunen vortragen, ob sie das akzeptieren oder ob sie mit dem Ziel klagen, dass das Konnexitätsprinzip zur Anwendung gelangt.Auch das wäre eine Möglichkeit gewesen.
Herr Kollege, Ihr Zwischenruf war schon unterirdisch. – Sie haben sich in keiner Weise getraut, irgendetwas Verbindliches in das Gesetz aufzunehmen.Ich sage Ihnen,wir lassen unsere Forderung nicht fallen: Es muss vom Hessi
schen Landtag oder vom Sozialpolitischen Ausschuss der Auftrag erteilt werden, zu prüfen, ob ein solcher Fall die Anwendung des Konnexitätsprinzips auslöst oder nicht.
Aber auch wenn man unterstellt, das würde die Anwendung des Konnexitätsprinzips auslösen, täte mir das nicht Leid. Es geht nämlich nicht um große Beträge. Es ist nicht erheblich teurer, barrierefrei zu bauen, und kein Mensch, weder bei den GRÜNEN noch bei der SPD, noch bei den Behindertenverbänden, noch irgendwo sonst, erwartet, dass sofort und auf der Stelle sämtliche öffentlichen Gebäude umgebaut werden. Niemand verlangt, dass der ÖPNV sofort und auf der Stelle behindertengerecht ausgestattet wird. Das ist einfach Unsinn. Das ist eine Mär, die Sie in die Welt setzen. Es geht natürlich nur schrittweise. Aber es geht darum, dass eine klare gesetzliche, nachprüfbare Verpflichtung vorhanden sein muss.
In den letzten 20 Jahren sind viele Forderungen erhoben worden. Wir wissen das als SPD-Fraktion unter anderem auch deshalb gut, weil sich unsere ehemalige Landtagskollegin, Erika Fleuren, auch in diesem Bereich sehr, sehr engagiert hat. Sie war heute hier im Landtag und hat mitdemonstriert.Ich denke,wir sollten darüber reden,dass es berechtigte Forderungen gibt. Die müssen in Gesetzesform gegossen werden – jedenfalls im Jahre 2004, wenn man nicht ewig verstaubt und ewig gestrig sein will, wie es die Mehrheit in diesem Hause offensichtlich sein möchte.