Protocol of the Session on September 15, 2004

Ich denke, dass diese beiden Einschätzungen den Nagel genau auf den Kopf treffen. Es geht Ihnen nicht um die Zukunft der Menschen, sondern um das Wegdrücken der sozialstaatlichen Verantwortung.

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

Sie wollen eine rudimentäre soziale Infrastruktur retten. Sie sagen, das seien die Schulen und andere Bildungseinrichtungen – ich sage: außer Familienbildungsstätten –, Kinderbetreuung, Krankenhäuser und Pflege. Alle anderen Bereiche – das ist offenbar Ihr Fernziel – sollen abgestoßen werden und in Eigenverantwortung handeln.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke, wir können eine solche Zukunft nicht wollen. Wenn das Land nur noch diese „Grundversorgung“ finanzierte, wäre das ein Armutszeugnis. Wir sind nämlich kein Entwicklungsland, in dem jeder Cent dreimal umgedreht werden muss, sondern ein reiches Land.

(Beifall bei der SPD – Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Sagen Sie das einmal Herrn Schmitt!)

Lassen Sie uns betrachten, wie gut Sie bei der Sicherung eines Ihrer so genannten Schwerpunkte sind, die auch in Ihrem Antrag wieder erwähnt werden. Nehmen wir die Kinderbetreuung. Frau Ministerin, Hessen befindet sich bei der Kinderbetreuung und bei den Ganztagsschulen im unteren Mittelfeld.

(Norbert Schmitt (SPD): Unglaublich!)

Den Tagesmütterboom,von dem Sie immer sprechen,gibt es einfach nicht. Kinder bekommen die Leute von alleine, sagte einst Bundeskanzler Adenauer. An dieser Fehleinschätzung arbeiten wir uns heute noch ab. Die Geburtenrate ist in den Keller gesunken. Wir liegen mit 1,34 Kindern pro Frau am Ende der europäischen Skala, nämlich auf dem elften von 15 Plätzen. Das wird sich auch nicht ändern, wenn die Familien weiter im Regen stehen gelassen werden und sie keine verlässliche, gute Kinderbetreuung bekommen.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist die Verantwortung des Landes. Der Bund tut – jenseits seiner eigentlichen Verantwortung – sehr viel in diesem Bereich.Frau Ministerin, Sie dagegen haben lediglich ein paar Feigenblättchen in Form von so genannten Offensiven zu bieten.Was soll das Hohelied auf die angeblich so tolle Kinderbetreuung in Hessen, wenn Lern- und Spielstuben gerade in sozialen Brennpunkten schließen müssen und Hessen immer noch die rote Laterne bei der Kleinstkinderbetreuung hat?

(Beifall bei der SPD)

Sie können nicht einmal sagen, wie viele Betreuungsplätze durch Tagesmütter angeblich gesichert sind. Wir brauchen auch in den Kindertagesstätten verlässliche Angebote.

Was sollen die Lobeshymnen auf das so genannte Familienland Hessen,wenn die Familienberatung vor dem Kollaps steht? Die Nachfrage steigt, aber die Angebote schrumpfen. Das ist täglich in den Zeitungen zu lesen. Es gibt Wartezeiten von mehreren Monaten. Einige Beratungsstellen, darunter zwei in Frankfurt, sind unmittelbar von der Schließung bedroht. Auch das sollten Sie wissen. Die Familienbildungsstätten werden geschlossen, oder sie verringern ihre Angebote drastisch.

Was sollen die Bekenntnisse zur Frauenförderung in Hessen, wenn die Fortbildungsstätten für Frauen schließen oder sich von Monat zu Monat nur noch mühsam über Wasser halten können?

Was sollen die Menschen davon halten, wenn Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander klaffen wie bei dieser Landesregierung? Ich kann es auch etwas brutaler ausdrücken: Ihr Antrag ist Neusprech, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie behaupten nämlich gebetsmühlenartig die Unwahrheit. Mit Ihren Zielen wandeln Sie offensichtlich auf den Pfaden Ludwig Erhards, der gesagt hat – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –: „Soziale Sicherheit ist

gewiss gut und in hohem Maße wünschenswert, aber soziale Sicherheit muss zuerst aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben erwachsen.“

Ja, da kann man noch verhalten zustimmen. Aber was ist mit den Menschen, die diese Kraft nicht haben, die Hilfe brauchen? Diese Menschen lassen Sie brutal im Stich.Wie sozial sind wir als Gesellschaft, wenn wir unsere Verpflichtungen für andere Menschen über Bord werfen? Wie sozial sind wir, wenn wir die sozialen Errungenschaften, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, von Menschen für Menschen in Not, schleifen? Ich sage Ihnen: Aus eiskaltem Kalkül will Hessen auf CDU-Linie sein, den Kurs der Parteispitze von Frau Merkel, Herrn Merz und mit Herrn Stoiber mit vollziehen, Sozialpolitik sei Firlefanz, und die Länder sollten sich auf Kosten der sozial Schwachen sanieren.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Glauben Sie das alles, was Sie da erzählen? – Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

Das kleiden Sie dann in so harmlose Worte wie „Eigenverantwortung“ oder „Hilfe zur Selbsthilfe“. Sie fordern im Chor mit Merkel, Merz und Co. die Eigenverantwortung. Dabei vergessen Sie eines: Menschen müssen in der Lage sein, Eigenverantwortung zu übernehmen. Daher dürfen wir ihnen den Boden unter den Füßen nicht wegziehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie sollen Menschen Eigenverantwortung übernehmen, die drogensüchtig sind, die überschuldet sind, wenn der letzte Rettungsanker, nämlich die Beratungsstelle, geschlossen ist? Das soziale Netz ist weiß Gott keine Hängematte, in die sich Menschen auch noch mit Vergnügen legen, sondern sie ist ein Notnagel, wenn gar nichts anderes mehr geht. Das soziale Netz brauchen die Menschen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht.

Meine Damen und Herren, Menschen in Notlagen müssen sich auf die Solidarität der Gemeinschaft und auf die Unterstützung des Staates verlassen können. Nur Millionäre können sich einen zerfranzten und kaputtgeschlagenen Sozialstaat leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist scheinheilig, so zu tun, als würden die paar Kürzungen nichts ändern, wie Sie es in Ihrem Antrag, dem Neusprech, wieder tun, Herr Kollege.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Klassenkampf pur! 19. Jahrhundert! – Zuruf des Abg. Armin Klein (Wiesbaden) (CDU))

„Klassenkampf pur“ – Herr Kollege, mancher Zwischenruf blamiert denjenigen, der ihn macht.

(Zuruf des Abg. Frank Gotthardt (CDU))

Wir als SPD-Fraktion haben etliche Anhörungen mit den sozialen Trägern durchgeführt. Ich kann Ihnen nur sagen: Was dabei herausgekommen ist, ist erschreckend.

(Zuruf von der SPD: Genau!)

Glauben Sie wirklich – wenn man Ihren Antrag liest, könnte man es denken –, dass die Kürzungen, allein im Stadtgebiet Frankfurt um 3,34 Millionen c auf 144.000 c, keine Auswirkungen auf die Aidsberatung, die Drogenberatung, die Erziehungsberatung, auf Spätaussiedler und

die Kranken haben? Glauben Sie wirklich,wenn allein bei dem Caritas-Verband Limburg 64 Diensten, Einrichtungen und Projekten 60 % der Mittel gestrichen werden, dass das ohne Auswirkungen bleibt?

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Glauben Sie wirklich, dass die Kürzung um rund 800.000 c bei dem Diakonischen Werk Hessen und Nassau und die Kürzung um ungefähr 1,4 Millionen c bei den diakonischen Trägern allein in Hessen und Nassau ohne Auswirkungen bleiben? Meine Damen und Herren, das glauben Sie doch nicht. Ihr Neusprech glauben Sie doch selbst nicht.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ich komme sofort zum Schluss. – Meine Damen und Herren, das Unterlaufen der sozialstaatlichen und sozialpartnerschaftlichen Rollen wirkt sich in dieser Gesellschaft massiv aus. Im „Wiesbadener Tagblatt“ stand ein sehr klarer Satz: „Es wird eiskalt.“ Ich kann nur sagen: In Teilen von Hessen ist es eiskalt geworden. Jeder hat inzwischen begriffen, dass von dieser Landesregierung keine Hilfe zu erwarten ist.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Deswegen haben Sie einen Schal um!)

Meine Damen und Herren, statt zu Ihrer Verantwortung zu stehen, reißen Sie riesige Löcher in das soziale Netz. Diese kaltherzige Politik – wer Rennklubs, Schlösser und Heimatabende für wichtiger hält als die Probleme von Menschen in größter Not – ist einer modernen Gesellschaft unwürdig.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Wer einen Teil der Gesellschaft ins Abseits drängt und den notwendigen Ausgleich zwischen Starken und Schwachen vernachlässigt, wird scheitern. Das ist auch gut so. – Ich bedanke mich.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Das Wort hat Frau Abg. Oppermann für die Fraktion der CDU.

(Frank Gotthardt (CDU): Anne, jetzt sag einmal, wie es wirklich ist!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Fuhrmann, auch dieses Mal wird es Ihnen nicht gelingen, nach draußen den Eindruck zu vermitteln, dieses Land würde nach der Sparoperation in Not und Elend versinken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Sabine Waschke (SPD))

Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger im Lande sind wesentlich weiter in ihrer Einsicht als Sie, dass wir alle sparen müssen.

(Frank Gotthardt (CDU): Die Bundesregierung übrigens auch!)

Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Tatsachen, dass es seit drei Jahren fast kein Wirtschaftswachstum gibt, die Arbeitslosigkeit anhaltend hoch ist und die Steuereinnahmen wegbrechen, nicht folgenlos bleiben können.