Protocol of the Session on September 15, 2004

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 45. Plenarsitzung und stelle fest, dass das Haus beschlussfähig ist.

Erledigt sind die Punkte 1, 2 mit 8, 13, 15, 22, 42, 46, 47 und 64 sowie Tagesordnungspunkt 61. Tagesordnungspunkt 4 wurde bekanntlich von den Antragstellern zurückgezogen.

Wir tagen heute vereinbarungsgemäß bis 18 Uhr,bei einer Mittagspause von zwei Stunden.

Auf Ihren Plätzen wurde der Taschenkalender/Terminplan 2005 des Hessischen Landtags verteilt.

Wir beginnen heute mit Tagesordnungspunkt 39. Danach kommt Tagesordnungspunkt 7, gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 23. Anschließend geht es mit Gesetzeslesungen weiter. Nach der Mittagspause beginnen wir mit Tagesordnungspunkt 6, zusammen mit den Tagesordnungspunkten 10 und 19.

Entschuldigt fehlt heute Herr Staatsminister Jochen Riebel. Er nimmt an der Sitzung des Ständigen Beirats des Deutschen Bundesrats in Bonn teil.

Um 14 Uhr darf ich Sie herzlich einladen zu einer Ausstellungseröffnung „Karikaturen – Was ist sozial?“ Ich habe Ihnen Informationen zukommen lassen. Diese Ausstellung wird von der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ organisiert.Diese Initiative ist parteiübergreifend. Ich weise darauf hin, dass es Botschafterinnen und Botschafter aller Parteien gibt. Eine der Botschafterinnen ist Frau Prof. Dr. Schipanski, die heute Mittag diese Ausstellung eröffnen wird. Ich bitte Sie herzlichst, sich etwas reger an dieser Ausstellungseröffnung zu beteiligen, als die Anmelderliste es bisher erahnen lässt.

Um 13 Uhr haben Sie eine besondere Möglichkeit, im Kleinen Saal an dem Empfang der Schornsteinfegerinnung aus Nordhessen teilzunehmen, deren Innungschor uns mit einem Chorbeitrag erfreuen möchte. Ich hoffe, dass Sie sich vor der Mittagspause, sozusagen als Vorspeise, den Chorgesang gönnen.

Um 19 Uhr wird unsere Fußballmannschaft versuchen, gegen eine Mannschaft des Vorstands – das klingt schon einmal gut – des RSV Germania 03 Pfungstadt zu siegen. Das ist also nicht die 1. Mannschaft dort. Da der Fußballplatz über keine Flutlichtanlage verfügt – das ist eine Mitteilung an die Fußballstars –, werden unsere „Fußballer“ gebeten, möglichst umgehend nach der Plenarsitzung nach Pfungstadt zu fahren. Wenn Sie zu spät fahren, werden Sie sich beim Zusammenspiel nicht mehr sehen.

Wir drücken unserer Mannschaft die Daumen. Ob ich jetzt sagen darf, von wem sie gesponsert wird, weiß ich nicht. Ich muss erst rechtlich feststellen lassen, ob ich sagen darf, dass die Nassauische Heimstätte GmbH die Trikots sponsert.

Jetzt treten wir in die Tagesordnung ein. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:

Antrag der Abg. Fuhrmann, Eckhardt, Habermann, Dr. Pauly-Bender, Schäfer-Gümbel, Dr. Spies (SPD) und Fraktion betreffend soziale Infrastruktur in Hessen retten – Sozialkürzungen zurücknehmen – Drucks. 16/2618 –

gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 69:

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktion der CDU betreffend soziale Infrastruktur in Hessen bleibt erhalten – Drucks. 16/2651 –

Die Redezeit beträgt 15 Minuten. Ich erteile Frau Kollegin Fuhrmann für die Fraktion der SPD das Wort für den ersten Redebeitrag.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, guten Morgen! Der Präsident hat gerade auf eine Ausstellung hingewiesen mit dem Titel „Was ist sozial?“ Wir sprechen jetzt eher über das Thema „Was ist unsozial?“

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heute ist es relativ genau ein Jahr her, dass die beispiellose Giftliste veröffentlicht wurde. Es ist heute Zeit, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Ich will mich dabei an dem Leitfaden orientieren:„Was bedeutet sozialer Frieden,sozialer Ausgleich? Welches Verständnis von einem Sozialstaat steht hinter der Politik?“ Die Landesregierung gefährdet den sozialen Frieden in Hessen und hat mit der „Operation düstere Zukunft“ jede Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit eingebüßt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie hat Menschen verunsichert, sie hat Existenzen zerstört. Der DGB hat geschätzt, dass allein dadurch zwischen 13.000 bis 15.000 Menschen in Hessen arbeitslos geworden sind.

(Beifall bei der SPD)

Die CDU hat sich mit einem regelrechten Donnerschlag aus der Förderung von sozialen Hilfs- und Beratungsangeboten zurückgezogen, nicht wie in dem Land BadenWürttemberg – das wir uns auch nicht als Vorbild nehmen wollen. Aber dort ist der Prozess schleichend verlaufen, sodass sich die Menschen darauf einstellen konnten.

Leidtragende sind alle die, die in dieser Landesregierung überhaupt keine Lobby haben:Migranten,Frauen,Behinderte und ganz allgemein alle Schwächeren in dieser Gesellschaft. – Die Landesregierung kürzt, und wenn diese Landesregierung kürzt, dann schränkt sie sich nicht etwa selbst ein, sondern spart auf Kosten anderer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch wenn das ganze Ausmaß der Auswirkungen der „Operation düstere Zukunft“ heute immer noch nicht zu beziffern ist, weil viele immer noch mit der Rettung beschäftigt sind, können wir eines festhalten: Soziale Einrichtungen im ganzen Land und eine Vielzahl von Beratungsstellen mussten schließen. Das Angebot an sozialen Hilfen hat sich deutlich verschlechtert,und eine Welle von Entlassungen bei den Trägern sozialer Einrichtungen ist die Folge.

Sie setzen den Rotstift bei der Frauenpolitik an. Hier sind gravierende Kürzungen bei den Frauenhäusern, der Frauenbildung, der beruflichen Förderung, den Zuwendungen für die Landesgeschäftsstelle der pro familia – sie werden ganz gestrichen – und des hessischen Mütterbüros zu verzeichnen. Die Frauen werden die Ausfallbürgen für diese verfehlte Politik in Hessen sein.

Ein weiteres Beispiel: Die Verbraucherzentrale Hessen musste ein rigoroses Sparprogramm durchziehen. Beinahe musste sie Insolvenz anmelden. Von 38 Stellen sind zehn gestrichen und sieben gekürzt worden. Sie konnte ein vernünftiges Angebot nur aufrechterhalten, weil sie Projektgelder vom Berliner Verbraucherschutzministerium bekam. Sie kürzen nämlich nicht nur auf dem Rücken der Betroffenen, sondern auch auf Kosten anderer.

Aus Geldmangel mussten etliche Beratungsstellen für Migrantinnen und Migranten schließen. Die Gesellschaft für Migrationsberatung der AWO Südhessen hat Insolvenz angemeldet. In Nordhessen wird die Beratung zum Teil gegen Barzahlung angeboten. Die Situation wäre auch hier noch viel verheerender, wenn nicht die Bundesregierung eingesprungen wäre und trotz der Streichung der Landesmittel weiterfinanzierte. Sie kürzen nicht nur auf dem Rücken der Betroffenen, sondern auch auf Kosten anderer.

(Beifall bei der SPD und der Abg.Evelin Schönhut- Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auch die Kommunen haben die Weigerung der Landesregierung, zu ihrer sozialpolitischen Verantwortung zu stehen,schmerzhaft zu spüren bekommen.Ich will nur einige wenige Beispiele nennen. Wetzlar, Stadtallendorf haben die Integrationsarbeit übernommen. Der Landkreis Gießen hat das Frauenhaus übernommen. Offenbach hat die Migrationsberatung übernommen. Sie kürzen nämlich nicht nur auf dem Rücken der Betroffenen, sondern auch auf Kosten anderer.

Sie kürzen auch auf Kosten der gebeutelten freien Träger. Der Wegfall von lediglich 50.000 c – das ist ein sehr kleiner Betrag im Vergleich zu denen, die in dem ganzen Landeshaushalt stehen – hätte zur Schließung des Dillenburger Suchtzentrums geführt, wenn nicht die Diakonie eingesprungen wäre und versuchte, eine Übergangslösung zu finden. Sie kürzen nämlich nicht nur auf dem Rücken der Betroffenen, sondern auch auf Kosten anderer.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, was ist das für ein Verständnis von Sozialstaat? Erhalt der sozialen Infrastruktur – darum sollen sich die anderen kümmern. Das ist für Sie kein Thema mehr. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Formulierung in Ihrem Antrag, das Land habe bei den freien Trägern lediglich um 7 bis 30 % gekürzt, ist einfach frech. Ich möchte das Geschrei in diesem Hause hören, wenn es sich die Bundesregierung einfallen ließe, 30 % der Straßenbaumittel zu kürzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern sind Ihre Anträge und die darin enthaltenen Formulierungen einfach blanker Zynismus. Das Land schlägt die Strukturen ohne Rücksicht auf die Betroffenen, die Beschäftigten und die gesellschaftlichen Folgekosten kaputt. Wer meint, das alles sei Firlefanz – wie es der Finanzminister und auch die Sozialministerin tun und bisweilen sogar offen sagen –, versündigt sich an dem sozialen Frieden in Hessen.

Bestand denn überhaupt die Notwendigkeit, den Rotstift anzusetzen? Meine Damen und Herren, wir haben es Ihnen schon mehrfach gesagt: Nein, diese Notwendigkeit hat nicht bestanden.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Herr Kollege Milde, Sie haben offenbar vergessen, welche Einsparvorschläge wir Ihnen gemacht haben. Deswegen will ich sie Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen.

Wir haben Ihnen gesagt, dass es bei SAP mindestens 15 Millionen c Einsparpotenzial gibt. Die 80 Stellen in der Staatskanzlei, die seit Beginn der Regierung Koch hinzugekommen sind, sind eine Zumutung für die hessische Staatskasse. Die Mittel für die Luxusausstattung der Staatskanzlei hätte um ein Drittel gekürzt werden können, ohne dass die Mitarbeiter vor IKEA-Schreibtischen sitzen müssten.

Die Verfügungsmittel der Ministerien, die explosionsartig erhöht worden sind, hätten zumindest auf dem Stand von 2003 festgeschrieben werden können.Dabei reden wir gar nicht von 1999.Auf eine Sonderzuwendung an den Rennklub Frankfurt kann man in diesem Land sehr gut verzichten,ganz zu schweigen von der Aufblähung sämtlicher Stabsabteilungen in allen Ministerien dieser Landesregierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Egal ob die Einnahmen dieses Landes steigen oder sinken, ich bin sicher, bei der Vorlage des Haushalts wird es wieder Hiobsbotschaften für die Schwächeren dieser Gesellschaft geben. Warum? Geht es Ihnen um die Zukunftssicherung, die Umverteilung, den Umbau des Sozialstaats, oder geht es Ihnen ganz einfach um die Demonstration von Macht?

(Beifall bei der SPD)

Bevor ich auf die Frage eingehe, will ich zwei Zitate bringen. Der soziale Kahlschlag der Landesregierung habe den Sozialstaat in seinen Grundfesten erschüttert. Die alten Regelungen scheinen nicht mehr zu gelten. Der Staat ziehe sich aus seiner Verantwortung zurück. – Das meinen die Gruppen, die am Samstag demonstrieren, und die sich in dem Bündnis für soziale Gerechtigkeit in Hessen zusammengeschlossen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein weiteres Zitat:

Bislang gab es den Konsens, dass der soziale Ausgleich Staatsaufgabe ist. Die Landesregierung sieht es

ich füge hinzu: jetzt –

als ihre Kernaufgabe an,dort einzuspringen,wo alle anderen Systeme versagen und wo es sich rechnet.

Weiter: Vorbeugende Hilfen, ob monetäre, schutzrechtliche oder soziale, seien kein Thema mehr. – Das sagte Dr. Hejo Manderscheid, der Direktor der Caritas.

Ich denke, dass diese beiden Einschätzungen den Nagel genau auf den Kopf treffen. Es geht Ihnen nicht um die Zukunft der Menschen, sondern um das Wegdrücken der sozialstaatlichen Verantwortung.