Der Ministerpräsident sagt der Öffentlichkeit die Unwahrheit. Einige Tage später wird er auf dem Parteitag ohne Diskussionen mit, ich glaube, 99 % der Stimmen
wieder gewählt. Sie selbst vergleichen im Hessischen Landtag Gewerkschaftsführer mit – ja, das muss man sagen – Nazis, die Judensterne verteilen. Kein Protest hat sich in Ihrer Partei geregt.
Nur jetzt, da es darum geht, einen Antisemiten aus der Partei auszuschließen, hagelt es Proteste und Parteiaustritte.
Selbst Landtagsabgeordnete wie Herr Irmer – der jetzt nicht anwesend ist – oder Herr Reif melden sich nunmehr kritisch zu Wort. Herr Ministerpräsident, merken Sie eigentlich, was das für eine Partei ist, der Sie in Hessen vorstehen?
An der mittlerweile großen Ruhe innerhalb Ihrer Fraktion merke ich, dass einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen befürchten, dass ich Recht habe.
Herr Reif, Sie befürchten, dass ich Recht haben könnte; denn die Liste der politischen Fehleinschätzungen und Missgriffe, die dem Ministerpräsidenten in den letzten acht Monaten unterlaufen sind, ist sehr lang.
Es fing doch schon mit der Regierungsbildung an: statt Sparen ein zusätzlicher Minister. Die 100-Tage-Bilanz: ein leeres Blatt Papier. Sie sind außerdem dabei, den Flughafenausbau in den Sand zu setzen: von Seveso II noch nichts gehört,Ticona übersehen, die Warnsignale aus Manila nicht sehen wollen und die Kommunen nicht angehört. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer so dilettantisch vorgeht, der wird noch nicht einmal die Baugenehmigung für eine Bushaltestelle, geschweige denn für eine Landebahn in einem Ballungsraum bekommen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lebhafte Zurufe von der CDU – Jörg-Uwe Hahn (FDP): Eine Bushaltestelle ist nur anzeigepflichtig!)
hat eine lange Tradition als tolerantes, liberales, soziales und weltoffenes Land. Diese Landesregierung möchte von diesen Traditionen Abschied nehmen. Es wird ihr nicht gelingen. Wir alle werden sie gemeinsam daran hindern.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Clemens Reif (CDU): Bei Bökel haben sie früher genauso lange geklatscht!)
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Walter, wenn man sicher ist, dass man noch mindestens viereinhalb Jahre lang die Oppositionsbänke drücken muss, und wenn man sich in seiner eigenen Partei keineswegs sicher sein kann, wer nach dieser Zeit auf der Regierungsbank sitzen wird,dann wäre jetzt eigentlich eine gute Chance gewesen, etwas über Konzepte zu sagen, statt den Klamauk, den man sechs Wochen vor der Landtagswahl veranstaltet hat, auch noch ein halbes Jahr nach der Landtagswahl fortzusetzen.
Wenn ich mir die Summe Ihrer Redebausteine betrachten – diese Rede haben Sie vor einem Jahr schon einmal gehalten –, dann finde ich es ziemlich enttäuschend, dass Sie nicht wahrnehmen, dass Ihre Kollegen, mit denen ich im Augenblick tagtäglich zu tun habe, die an anderer Stelle Verantwortung tragen, inzwischen eine sehr viel realistischere Sicht der Dinge und auch der Schwierigkeiten als Sie haben. Sie versuchen, öffentlich geltend zu machen, es gebe ein hessisches Sonderproblem, das mit der Haushaltssituation zu tun habe.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Natürlich gibt es das! – Michael Siebel (SPD): Die Haushaltsmisere!)
Am gleichen Tag lese ich, dass Studenten das Büro des Berliner Wissenschaftssenators besetzt halten, lese ich, dass die Landeskirchen in Hessen, ob in Nord- oder Südhessen, wegen der ausgefallenen Steuereinnahmen wesentliche Einrichtungen zur Disposition stellen oder schließen müssen, lese ich, dass in den Ländern, in denen Sozialdemokraten regieren, exakt die gleichen Entscheidungen getroffen werden wie hier – wenn auch an der einen oder anderen Stelle eine kleine Stufe vorsichtiger. Sie aber leben immer noch auf einer Eisscholle und rudern winkend durch die Landschaft, ohne zu bemerken, was tatsächlich los ist. Das ist der Situation nicht angemessen.
Ich finde die Diskussion, die der Deutsche Gewerkschaftsbund heute Morgen in einer Meldung aufgenommen hat, interessant. Frau Engelen-Kefer, eine bekannte Sprecherin der Gewerkschaft, hat gesagt: Wenn die Arbeitsmarktreformen, die im Bund zurzeit diskutiert werden, kommen, dann könnte es zu einem Sinken des Lebensstandards in Deutschland kommen. – Der zweite Teil der Aussage ist richtig, der erste Teil der Aussage ist das Problem: Unser Lebensstandard ist in den letzten drei Jahren gesunken, weil wir in Deutschland kein Wachstum mehr hatten. Wir müssen mit den Folgen dieses Nullwachstums umgehen.
Sie sind im Augenblick dabei – insbesondere in diesem Land, wo Sie keine Verantwortung tragen, aber auch auf nationaler Ebene –, jeder Interessengruppe zu sagen:Wir haben da zwar ein Problem, aber wir werden es schon irgendwie schaffen, dass es nicht ganz so schlimm wird, und wenn ihr betroffen seid, dann ist es auf jeden Fall ungerecht. – Der Bundeskanzler muss zwar einen Teil der Verantwortung übernehmen, weil er ja regiert, aber wenn man den Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei in Hessen zuhört, dann glaubt man, wir könnten in diesem
(Beifall bei der CDU – Michael Siebel (SPD): Sie haben überhaupt nicht zugehört! – Jürgen Walter (SPD): Das ist nicht richtig!)
Sie haben in Ihrem Bundesfinanzminister, Ihrem ehemaligen Landesvorsitzenden und meinem Amtsvorgänger, leider Gottes ein beredtes Beispiel dafür, weil er diesen öffentlichen Eindruck noch vertieft. Das, was vor zwei Tagen und gestern Morgen in Brüssel passiert ist, ist eine Katastrophe für den Euro und eine Katastrophe für den deutschen Ruf.
(Beifall bei der CDU und der FDP – Jürgen Walter (SPD): Es ging um die Wahrnehmung deutscher Interessen! Das wissen Sie!)
Das war das absolute Gegenteil der Wahrnehmung deutscher Interessen. Es war Deutschland unter Helmut Kohl und Theo Waigel, das durchgesetzt hat, dass andere Länder – das war damals unsere Sorge – nicht dauerhaft gegen die Stabilitätskriterien verstoßen dürfen, weil wir als wirtschaftsstärkstes Land in der EU am meisten darunter leiden würden.
Jetzt sind wir diejenigen, die den Stabilitätspakt mit Füßen treten, und wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn das andere in Zukunft ebenfalls tun.
Wenn man das sagt, muss man automatisch die Konsequenz ziehen, dass die Eingrenzung der Verschuldung Priorität vor allen anderen politischen Entscheidungen hat.
Das ist ein wichtiger Streit. Den müssen wir führen. Für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Verschuldung sind in der Hauptsache Sie verantwortlich, weil das eine Angelegenheit der Bundespolitik ist, und wir, die Länder, wirken daran mit. Deshalb müssen wir auch mitentscheiden, an welcher Stelle wir Stopp sagen. Im Jahre 2000 lag die öffentliche Verschuldung bei 27 Milliarden c, im Jahre 2001 bei 47 Milliarden c, und im Jahre 2002 sind wir bei einer Verschuldung von 57 Milliarden c angekommen. Wir waren an dieser Steigerung zwar beteiligt, aber der Bund hatte immer eine doppelt so hohe Steigerungsrate.
Im Jahre 2003 wird es in der Bundesrepublik zu einer weiteren Steigerung der Verschuldung kommen. Herr Kollege Kahl, ausweislich des Nachtragshaushaltes werden Sie nicht bestreiten, dass wir in Hessen die Höhe der Verschuldung im Vergleich zum Vorjahr nicht mehr steigern.
Nachdem Herr Kahl jetzt zugegeben hat, dass in Hessen die Verschuldung vom letzten zu diesem Jahr nicht steigt: Wie sieht trotzdem der Anstieg der Verschuldung in Deutschland insgesamt aus? In der Bundesrepublik Deutschland wird die Verschuldung von 57 Milliarden c auf 90 Milliarden c – oder sogar noch mehr – in einem Jahr steigen. Das ist die Bilanz, mit der wir es zu tun haben.
Deshalb ist die ganz einfache Frage: Ist es verantwortbar, diesen Kurs weiterhin zu fahren? Die ganz einfache Antwort dieser Landesregierung lautet Nein. Deshalb haben wir die Haushaltskürzungen vorgenommen, über die wir zurzeit reden.
Wenn ich Ihre Haushaltsanträge sehe, in denen Sie das Prinzip „Allen Wohl und niemandem Wehe“ durch die Lande tragen, dann muss ich mir einmal überlegen, ob wir das umsetzen könnten.
Ja, aber Sie haben eine Pressekonferenz gegeben. Ich nehme Sie ernst. Herr Walter, ich nehme es ernst, wenn Sie sagen, Sie erwarten eine Mehreinnahme um 250 Millionen c über eine Erhöhung der Erbschaftsteuer.
Ich muss das zumindest für eine Sekunde lang ernst nehmen. Anschließend sage ich Ihnen, dass das aus meiner Sicht für die Bundesrepublik Deutschland grober Unfug und in der Tat ein Verstoß gegen deutsche Interessen im Wettbewerb mit den Ländern ist, mit denen wir konkurrieren.