Wir haben aus vielen anderen Ländern inzwischen eine Vielzahl von Erfahrungen aus Modellvorhaben von einer vernünftigen Berichterstattung, von einer systematischen Auswertung, wie tatsächlich die Gesundheit von Bevölkerung verbessert und gestärkt werden kann. Wir haben in anderen Regionen starke Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation. Auch das ist einer der Punkte, die angesagt sind: sich einfach viel stärker international zu vernetzen. Das gehört zur Aufgabe eines öffentlichen Gesundheitsdienstes.
Meine Damen und Herren, das Ziel: Wozu braucht man einen öffentlichen Gesundheitsdienst? Wie muss man eigentlich ein solches Gesetz gestalten, um dem zu entspre
chen, was europäischer Standard ist? – Die Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist die Sicherung, die Erhaltung und die Förderung von Gesundheit und umfasst alle Planungs-, Steuerungs- und Qualitätssicherungsmaßnahmen, die dafür notwendig sind.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist es wichtig, diese modernen Ansätze, die – wie gesagt – zum State of the Art gehören, hier endlich zur Kenntnis zu nehmen. Dazu gehört ein Umdenken, d. h. eine Orientierung an der Gesundheit und nicht an den einzelnen Krankheitsbildern. Das ist wirklich ein Paradigmenwechsel, der seit den Neunzigerjahren im Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes stattgefunden hat und bei dem es Zeit wird, dass sich Hessen nicht weiter hinterherbewegt.
Ebenso ist es die Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes, bei der Entwicklung gesundheitsfördernder Lebenswelten mitzuwirken. Auch das ist eine wichtige Aufgabe, die auf kommunaler Ebene erbracht werden soll. Diese Aufgabe fehlt in Ihrem Gesetzentwurf völlig. Ich finde auch, dass es eine wichtige Aufgabe ist, wenn man sich die Krankheitsentwicklung und die sozialen Schichtzugehörigkeiten anschaut, dass es ein Recht auf Gesundheit und auf den Ausgleich gesundheitlicher Benachteilung in unserer Gesellschaft gibt.
Auch das gehört dazu, wenn wir über Chancengleichheit und über Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens reden. Die Förderung persönlicher Kompetenz der Menschen hinsichtlich Gesundheit und Krankheit und die Übernahme von sozialer Verantwortung in diesem Bereich – auch dies ist eine der modernen Aufgaben eines öffentlichen Gesundheitsdienstes, die in anderen Ländern längst eine Selbstverständlichkeit sind.
Letztendlich wollen wir nicht alles neu erfinden. Es gibt eine Vielzahl von Aktivitäten: die Förderung von Netzwerkbildung, von ressortträger- und organisationsübergreifender Zusammengehörigkeit, und zwar ausgerichtet an Gesundheitszielen, z. B. – wie wir es seit Langem fordern – spezielle Gesundheitsziele, die der Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen entsprechen. Auch dies ist eine der Aufgaben, die wir in dem Gesetz gerne gefunden hätten.
Es fehlen, wie bei der Landesregierung üblich, andere Formen von State of the Art. Der ganze Bereich GenderMainstreaming ist meiner Meinung nach gerade im Gesundheitswesen, gerade im Zugang zu öffentlichen Gesundheitsleistungen ein ganz wesentlicher Punkt. Hierüber gibt es sehr viel Forschung wie auch eine Vielzahl von ausgewerteten Erfahrungen aus anderen Bundesländern, wo ich mir denke, dass es an der Zeit ist, den Gesetzentwurf dementsprechend zu verbessern, wenn es nicht durch einen eigenen Entwurf von uns zu geschehen hat.
Frau Ministerin, Sie sprachen von der Notwendigkeit der Entbürokratisierung. Da sehen Sie uns immer auf Ihrer Seite. Aber ich sehe eigentlich keinen Punkt, wo Sie die bisher geltende und zum Teil recht ziellose Medizinalstatistik durch eine vernünftige Gesundheitsberichterstat
tung,wie sie in anderen Bundesländern üblich ist,ersetzen wollen. Dieser Begriff fehlt bei Ihnen und wäre eigentlich ein Kennzeichen für ein modernes Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst.
Ein weiterer Punkt, der fehlt und von dem ich denke, dass es bezeichnend ist. Ich denke, zum Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes gehört nicht nur, die Kompetenzen über Krankheit und Gesundheit zu fördern, sondern auch, die Versicherten- und Patientenrechte zu stärken, d. h. den ganzen Bereich des Verbraucherschutzes sehr viel stärker auf öffentlicher Ebene durch unabhängige Patientenberatungsstellen und Gesundheitsverträglichkeitsprüfung zu unterstützen.
Das alles sind Punkte,von denen ich denke,dass man ganz konkret in Einzelfällen sowohl Versicherten als auch den Patienten im System des Gesundheitswesens Hilfestellung leisten kann. Das ist auch eine Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes.
Ein weiterer Punkt, der meiner Meinung nach zu wenig Beachtung findet. Frau Ministerin, Sie hatten zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zunahme von Infektionskrankheiten, und zwar nicht nur der Vogelgrippe, sondern auch anderer Infektionskrankheiten, eine der Herausforderungen der Zukunft werden wird. All dies sind Bereiche, wo der öffentliche Gesundheitsdienst direkt involviert ist. Ich finde, dass es gut ansteht, darauf nicht nur mit polizeilichen Maßnahmen zu reagieren, sondern tatsächlich im weiteren Sinn präventiv zu wirken.Ich denke,Hessen ist besonders gut dazu geeignet, das Zusammenwirken mit der hier angesiedelten chemisch-pharmazeutischen Industrie und der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Infektionskrankheiten sehr viel stärker als bisher zu fördern, d. h. mit ganz konkreten Maßnahmen im Vorfeld, bevor der Ernstfall eingetreten ist, zu sehen, auf welchen Grundlagen und Erkenntnissen der Forschung der öffentliche Gesundheitsdienst aufbauen kann.
Ich komme zum Schluss. – Ich denke, dass wir die Infektionskrankheiten langfristig nicht vernachlässigen sollten. Aber wir sollten aufpassen,dass wir das nicht nur dadurch lösen, dass die Freiheitsrechte von Menschen eingeschränkt werden.
Zum Abschluss, und um das anzukündigen: Wir haben schon beschlossen, eine öffentliche Anhörung zu dem Thema durchzuführen. Ich möchte für meine Fraktion ankündigen, dass wir entweder auf der jetzigen Grundlage und nach der Anhörung umfassende Änderungen vorlegen oder mit einem eigenen Gesetzentwurf zum öffentlichen Gesundheitsdienst antworten werden. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Geschichte des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist eine dreieinhalb Jahrtausende alte Erfolgsgeschichte. Schon in altägyptischen Papyri gibt es Hygienevorschriften. Der Talmud verfügt über eine ganze Reihe solcher Regelungen. Auch das Alte Testament und ein hinduistisches Gesetz aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert können als ein Stück frühes Seuchengesetz und öffentlichen Gesundheitsdienstes tatsächlich gesehen werden.
Ja, Sie lachen. Meine Damen und Herren, aber das ist nicht zum Lachen, denn wenn man dieses Gesetz liest, meint man, viel weiter sei man in Hessen immer noch nicht. Tatsächlich kehrte die Frage des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Europa im 19. Jahrhundert wieder. Spätestens da ist diese Landesregierung stecken geblieben, nämlich beim Seuchenrecht.
Ein großes Gesetz, eine Innovation? – Meine Damen und Herren, was wir hier sehen, ist eine bürokratische Sammlung des Bestandes, eine brave Sekretariatsarbeit, indem das, was schon da war, einmal zusammengestellt und sortiert wird – mehr leider nicht. Kein Esprit, keine Innovation, keine Idee von Gesundheit, von öffentlichem Gesundheitsdienst, von Landesgesundheitspolitik.
Man meint,es ginge in Hessen heute immer noch um Cholera, Diphtherie und sonst nichts. Die Epidemien des 21. Jahrhunderts, die wirklich eine Rolle spielen, sind nicht mehr infektiös. Sie haben in dieser Politik keine Bedeutung. Dabei gäbe es eine ganze Menge zu tun. Die forschenden Arzneimittelhersteller – wahrlich unverdächtig in dieser Hinsicht – haben vor Kurzem festgestellt, dass Deutschland unter den vergleichbaren Nationen einen außerordentlich schlechten Platz belegt,was die Frage der Sicherung von Gesundheit und Lebensqualität und die Prävention angeht.
Diese Landesregierung hat zu keinem Zeitpunkt ein Konzept von Gesundheitspolitik gehabt, und sie hat es auch jetzt nicht. Sie hat kein Konzept von Prävention; stattdessen hat sie ein Präventionsgesetz auf Bundesebene mit verhindert.Meine Damen und Herren,das war ein Fehler, denn es hätte 16 Millionen c Präventionsmittel für Hessen bedeutet. Hat die Landesregierung das kompensiert? Nein, sie hat die Mittel für die Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung halbiert.
Wenn Ideen zur Prävention in dieser Landesregierung einmal aufkommen, ist die Konzeption allenfalls eine, die das individuelle Verhalten betrifft. Dass man heute Welten weiter ist, kann man bei dieser Landesregierung nicht erkennen. In den Fragen der Krankenhausstruktur – ideologisch verblendete Privatisierung. In den Fragen der Ausbildung und Kindergesundheit, des Umgangs mit Armut und einer der größten Unerträglichkeiten in diesem Lande, dass nämlich Menschen, die sozial benachteiligt sind, acht Jahre weniger Lebenserwartung haben als solche, denen es besonders gut geht, angesichts der Tatsache, dass das in anderen Ländern nur zwei Jahre sind – ein Armutszeugnis hessischer Gesundheitspolitik.
Die Zeit ist reif für eine Rückkehr von Gesundheitspolitik überhaupt nach Hessen. Leider wird mit diesem Gesetz kein Beitrag dazu geleistet.
Die Zeit wäre reif für eine Gesundheitspolitik, die sich tatsächlich wieder als Querschnittsaufgabe begreift, die im Sinne der WHO-Definition von Gesundheit als körperlichem, seelischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden die kommunalen Gesundheitsämter organisieren. Nichts davon ist diesem Gesetz zu entnehmen. Die Zeit wäre reif,die Ziele und Planungen,wie sie vor 20 Jahren in der Ottawa-Charta als Konzept festgelegt wurden, endlich auch in Hessen zu implementieren,
also Gesundheitsziele zu definieren, Planungen zu ihrer Umsetzung zu entwickeln,alle daran Interessierten an der Entwicklung dieses Konzepts zu beteiligen, Ergebnisse zu implementieren und zu evaluieren usw.
Man könnte auf kommunaler Ebene eine ganze Menge tun. Frau Schulz-Asche hat darauf verwiesen, dass manche Gesundheitsämter in Hessen dies durchaus tun, und zwar nicht wegen, sondern trotz dieser Landesregierung.
Meine Damen und Herren, die Zeit wäre seit Langem reif für die Einführung einer regionalen und kommunalen Gesundheitskonferenz, in der die Akteure mit- und nicht gegeneinander sprechen, in der das Primat des Gemeinwohls und der Versorgungssicherung in der Region sichergestellt wird und an der sich alle beteiligen: Patienten zuallererst – das sind diejenigen,die am liebsten vergessen werden –, die medizinischen Fachberufe, aber genauso die kommunale Verwaltung, die Wirtschaft und andere.
Meine Damen und Herren, wir haben das in diesem Hause schon mehrfach vorgeschlagen, aber leider bislang kein Gehör gefunden.Dabei kann man in Bundesländern, die länger sozialdemokratisch regiert wurden, wie z. B. Nordrhein-Westfalen, sehen, was für ein Erfolg das ist.
Frau Ministerin, man kann überhaupt nicht feststellen – außer vielleicht anhand eines deklaratorischen Halbsatzes –, dass für Sie die Gesundheit der Kinder in Hessen eine Rolle spielt. Wir brauchen Schulärzte und KitaÄrzte, die sich um die Kinder kümmern, die nicht in Verhältnissen leben, in denen sie von ihren Eltern dem Gesundheitswesen angemessen zugeführt werden. Frau Ministerin, da kommt man nicht weiter, indem man Pflichtuntersuchungen der U-Reihe einführt. Da kommt man weiter, indem man dahin geht, wo die Kinder sind.
Schließlich brauchen wir – Frau Schulz-Asche hat auch darauf verwiesen – in Hessen eine Gesundheitsberichterstattung, die den Namen verdient. Wenn wir das Gesundheitswesen anders betrachten wollen als eine Autowerkstatt, wenn wir der Ansicht sind, dass die Menschen in Hessen eine präventive, eine vorbeugende, eine das Leben gesünder machende Gesundheitspolitik verdient haben, dann sollte es ein ÖGD-Gesetz geben, das die Kommunen in dieser ihrer ureigensten Aufgabe stärkt, statt sie zu schwächen.
Dieses Gesetz ist durchaus brav und ordentlich. Es wurde alles zusammengeschrieben, was es schon gibt.Aber es ist kein Weg in die Zukunft. In Hessen wurden gesundheitspolitisch acht Jahre vertan. Die Zeit ist reif für eine Gesundheitspolitik in Hessen, die den Namen wieder verdient. Noch 269 Tage – dann ist es so weit.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Spies, ich hoffe wirklich, dass es den hessischen Bürgern erspart bleibt,dass Sie in diesem Bundesland für Gesundheitspolitik zuständig sind;
denn Sie haben ganz hauptverantwortlich auf Berliner Ebene mit dafür gesorgt, dass es in Hessen zu einer erheblichen Verschlechterung der Gesundheitsversorgung gekommen ist. Das wollen wir an dieser Stelle nicht vergessen.