Protocol of the Session on October 15, 2015

(Unruhe)

Herr Leidreiter, bitte fahren Sie fort!

Wie gesagt, ich finde es sehr bedenklich, wenn Sie ein Gesetz verabschieden wollen, von dem wir heute schon erkennen, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit – –.

(Zurufe SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Darf ich einmal ausreden?

(Unruhe – Glocke)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Leidreiter hat das Wort!

Ich halte es für sehr bedenklich, dass Sie heute ein Gesetz verabschieden wollen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig ist, und die Diskussion um die Abschiebepraxis in diesem Bundesland, das sehr vom Durchschnitt der anderen Bundesländer abweicht – –.

(Abg. Tschöpe [SPD]: Das sind 200!)

Lassen Sie mich doch einmal ausreden!

(Abg. Tschöpe [SPD]: Sie regen mich ein bisschen auf, das merken sie, nicht?)

Dann gehen Sie bitte hinaus!

Herr Leidreiter, bitte fahren Sie fort!

(Abg. Leidreiter [ALFA]: Ich komme nicht zu Wort! Was soll ich denn machen?)

Herr Leidreiter, bitte fahren Sie fort in Ihrer Rede!

Wenn diese Abschiebungspraxis hier in Bremen sehr vom Bundesdurchschnitt abweicht und wir sicherstellen, beschlagnahmen, enteignen wollen, wie auch immer wir es nennen wollen, dann haben Sie es vorhin gehört: Es ist das letzte Mittel, wir müssen die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wahren! Aus diesem Grund ist es wichtig, die Debatte zu führen, ob das Land Bremen alle notwendigen Voraussetzungen geschaffen hat, überhaupt ein solches Gesetz anwenden zu können, und das werden Sie sicher auch verstehen, Herr Tschöpe und Frau Dr. Schaefer! – Vielen Dank!

(Beifall ALFA – Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/ Die Grünen]: Nein, das verstehe ich nicht!)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Röwekamp.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt dieser Debatte fast zwei Stunden lang gefolgt und habe zur Kenntnis genommen, dass es ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen an dieses Gesetz gibt. Meine persönliche Einschätzung ist, sie werden sich alle nicht erfüllen. Weder wird es zur

flächendeckenden Enteignung von Privateigentum in Bremen kommen, nur weil dieses Gesetz beschlossen ist, noch, glaube ich, würden ALFA und Bürger in Wut die notwendige Mehrheit zusammenbekommen, um den Staatsgerichtshof anzurufen,

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

was aus meiner Sicht auch nicht unbedingt erforderlich ist, denn wenn das Gesetz zur Anwendung kommt, steht jedem, der davon betroffen ist, die Möglichkeit offen, die ordentlichen Gerichte anzurufen, noch – das ist jetzt eine Prognose – wird es überhaupt nur einen einzigen Anwendungsfall für dieses Gesetz in naher Zukunft geben. Die von den Sozialdemokraten und den Grünen an dieser Stelle geweckte Hoffnung, man könne das Unterbringungsproblem vielleicht jetzt nur aktuell durch den Winter, aber generell auf Sicht durch dieses Gesetz regeln, wird eben auch enttäuscht werden. Ich will auch ergänzend sagen, sehr geehrte Frau Bernhard, dass eine polizeirechtliche Maßnahme auch kein kommunales Wohnungsbauprogramm ersetzen wird.

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Sie können auf dieser Grundlage die Menschen doch nicht dauerhaft in Privateigentum einweisen!

Ich kann mich noch erinnern, dass wir, Frau Senatorin, vor drei Wochen von Ihnen für morgens um 8 Uhr vor der Sitzung der Bremischen Bürgerschaft eingeladen worden sind, um über die Frage zu reden, wie wir diesen Zustrom von Menschen auch in Anbetracht der Änderung der Witterungsverhältnisse in Bremen unterbringen. Wenn ich mich richtig erinnere – ansonsten widersprechen Sie mir bitte! – haben wir alle Möglichkeiten miteinander besprochen, wie wir Liegenschaften finden können, die für die Unterbringung von Flüchtlingen geeignet sind. Deswegen gibt es unter anderem auch diese Liste für den Haushalts- und Finanzausschuss. Deswegen gibt es Prioritätenlisten bei der Frage, in welcher Reihenfolge und mit welchen Kriterien wir eigentlich öffentliche Gebäude wie Turnhallen für die Nutzung von Flüchtlingen in Gebrauch nehmen.

Sehr geehrte Frau Senatorin, ich erinnere mich aber auch, dass Ihr Abteilungsleiter auf die Frage, ob leer stehende Gewerbeimmobilien von Nutzen wären, gesagt hat, erstens hat er keine Kapazitäten für die damit zusammenhängenden umfangreichen juristischen Auseinandersetzungen, und zweitens hält er leer stehende Gewerbeimmobilien auch deswegen für nicht geeignet, weil es in diesen Immobilien an den notwendigen sanitären Einrichtungen fehlt. Das heißt, Ihre Behörde selbst hat den Vorschlag, dass wir übergangsweise Privateigentum, leer stehende Immobilien für die Unterbringung von Flüchtlingen nutzen, für nicht praktikabel gehalten, Frau Senatorin.

Mich würde jetzt einmal interessieren, was sich mit Ausnahme der öffentlichen Auseinandersetzung eigentlich an dieser inhaltlichen Positionierung Ihrer Behörde geändert hat.

Ich kann übrigens anders als Herr Leidreiter nicht prognostizieren, wie das die Gerichte am Ende entscheiden werden. Ich bin mir nicht einmal zweifelsfrei sicher oder unsicher, ob das Gesetz verfassungswidrig ist oder nicht. Das hat der Kollege Hinners auch nicht gesagt. Ich weiß nur, die Schwelle, um einen Eingriff des Staates in das Eigentum privater Menschen zu rechtfertigen, ist in Deutschland zum Glück sehr, sehr hoch.

(Beifall CDU, ALFA)

Deswegen gibt es eine Vielzahl von Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um überhaupt auf dieses Instrument zurückgreifen zu können.

(Zuruf: Genau so ist es!)

Es muss nämlich nachgewiesen werden, dass sämtliche anderen Maßnahmen und die eigenen Immobilien geprüft und für nicht geeignet gehalten worden sind. Das wissen wir seit der Entscheidung aus Lüneburg. Es muss weiterhin geprüft worden sein, dass vor einer Inanspruchnahme eines enteignungsgleichen Eingriffs, also einer Beschlagnahmungsmaßnahme, die Anmietung von leer stehenden Gebäuden, von Hotels und anderen Unterbringungsmöglichkeiten vollständig ausgeschöpft worden ist.

(Beifall ALFA)

Erst dann und auch nur dann findet dieses Gesetz überhaupt einen Millimeter Anwendung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen werbe ich sehr dafür, diese Debatte jetzt nicht zu nutzen, um Fundamentalpositionen miteinander auszutauschen. Der Stellenwert dieses Gesetzes liegt fernab der Debatte und der Signale.

Natürlich will man den Menschen sagen, wenn wir in Turnhallen gehen, müssen wir auch leer stehende Gewerbeimmobilien prüfen. Wenn wir leer stehende städtische Immobilien nutzen, muss man auch drohen können, vielleicht Gewerbeimmobilien in Beschlag zu nehmen. Aber das ist alles etwas für das Herz, für die Seele der Stadtteilpolitiker, die sich teilweise mit dieser Situation überfordert fühlen, was ich gut nachvollziehen kann. Die Situation vor Ort ist noch ein bisschen anders als wir das hier in der Bremischen Bürgerschaft diskutieren.

Ich bitte Sie, nicht den Eindruck zu vermitteln, als ob wir mit diesem Gesetz und seiner möglichen eingeschränkten Anwendung das Unterbringungsproblem der Flüchtlinge in Bremen und Bremerhaven kurzfristig oder langfristig lösen! Bitte vermitteln Sie diesen

Eindruck wegen der dadurch eintretenden enttäuschten Erwartungen nicht! Dieses Gesetz wird das Unterbringungsproblem in Bremen nicht lösen, meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit in dieser Debatte! – Vielen Dank!

(Beifall CDU, FDP, ALFA)

Als Nächste hat das Wort Frau Senatorin Stahmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch ich habe lange zugehört, und mir sind viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Ich war beeindruckt. Heute ist das Parlament alles andere als langweilig. Das war einer meiner Gedanken, den ich eben zu den Kolleginnen und Kollegen gesagt habe, die neben mir sitzen.

Ganz schlicht: Warum dieses Gesetz? Wir bewahren im Augenblick Tag für Tag Menschen vor Obdachlosigkeit in Bremen. Mit „wir“ meine ich die Kolleginnen und Kollegen im Sozialressort, die Kolleginnen und Kollegen in den Wohlfahrtsverbänden und die Kolleginnen und Kollegen bei der Bundeswehr. Alle hier im Raum mögen sich einmal vorstellen, täglich kommen 100 Menschen, 110 Menschen, mal auch 130 oder 99 Menschen nach Bremen! Jeden Tag! Wir haben hier im Raum 83 Abgeordnete. Alle Plätze hier unten wären gefüllt.

Alle Ressorts machen bei der Zusammenarbeit mit. Vorhin kamen Äußerungen oder Fragen, ob alle mitmachen. Ich habe wirklich den Eindruck, alle Senatsressorts haben die Aufgabe verstanden und wissen, dass das keine Soloveranstaltung einer Sozialsenatorin ist,

(Beifall SPD, FDP)

sondern dass da der gesamte Senat gefordert ist, ebenso wie die gesamte Zivilgesellschaft.

Tag für Tag wird eine wirklich große Menge Menschen von uns vor Obdachlosigkeit bewahrt. Sie werden untergebracht. Sie bekommen Essen. Wir organisieren die Aufnahme. Wir sorgen dafür, dass helfende Hände da sind, und das im Augenblick bei immer schlechter werdenden Standards, das ist auch die bittere Wahrheit. Wir bekommen kaum noch Betten. Wir legen in Turnhallen Matratzen auf den Boden. Turnhallen sind auch nicht besonders gut heizbar. In der Kategorie, ob ein Zelt gut oder schlecht heizbar ist, sortiere ich es als schlecht heizbar ein.

Wir sind in einer Notsituation. So muss der Staat alle möglichen Instrumente ausschöpfen. Wir haben in den vergangenen Monaten und Jahren ein ums andere Mal bewiesen, dass wir auch sehr findig sind.

Mir ist es wichtig, dass wir die Solidarität und die Unterstützung in der Bevölkerung hochhalten. Das ist auch ein Gedanke, der hier vorgetragen wurde. Wir

setzen ganz stark darauf, dass uns Menschen freiwillig Wohnraum anbieten.

(Beifall ALFA)

Da ist es mir egal, ob es ein Unternehmer, eine Zivilperson oder Oma und Opa von nebenan sind. Wir nehmen die Angebote der Bremer Bevölkerung gern an. Das ist auch gut so.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)