(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Es gab ja auch Versu- che! - Zuruf Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen])
Ja! Jetzt stehen wieder zwei Anträge zur Diskussion, die, wie ich finde, sehr weit auseinanderliegen, aber in einem Punkt eben übereinstimmen: Beide verlangen das Aussetzen der Beitrittsgespräche. Deswegen werde ich mich gleich ausschließlich auf diesen Punkt beziehen.
Um aber nicht noch einmal das zu wiederholen, was andere schon gesagt haben, will ich heute vorab versuchen, einmal anders einzusteigen! Ich möchte Sie bitten, sich alle einmal gemeinsam in ein Land hineinzuversetzen, das gerade abgeschottet wird, das sich isoliert, und sich vorzustellen, wie es ist, in der Türkei zu denjenigen zu gehören, die nicht für das Referendum gestimmt haben, die aber dort leben müssen, also zur Minderheit gehören, und in dem womöglich sogar eine Minderheit darüber abge
stimmt hat, dass die Mehrheit fortan in Unfreiheit leben muss, um es einmal so deutlich auszudrücken. Ich teile die Skepsis, was die Wahlmanipulation angeht.
Wenn wir uns das vorstellen, wollten wir dann aus einem Bremer Parlament von freien Abgeordneten hören, dass uns die Lage besorgt, wie es in Beschlusspunkt eins des CDU-Antrags steht? Ich glaube, nicht! Im November könnte das so in den Beschlüssen stehen, aber inzwischen müsste dort stehen: Wir verurteilen diese Art der Umwandlung der staatlichen Strukturen in der Türkei.
Stellen wir uns vor, wie es Nuriye Gülmen in der Türkei geht, einer Literaturwissenschaftlerin, die entlassen wurde wie viele andere auch, weil sie einen Friedensappell unterzeichnet hat. Sie wurde entlassen in die finanzielle Mittellosigkeit, befindet sich seit Monaten im Hungerstreik und ist, wie man gerade aktuell dem „Spiegel“ entnehmen konnte, kurz davor, sich aus Protest gegen das System Erdogan zu Tode zu hungern. Will Nuriye Gülmen von uns hören - einem freien Parlament -, jetzt ist aber Schluss, jetzt zeigen wir Herrn Erdogan, dass die Grenze erreicht ist und wir die Beitrittsverhandlungen abbrechen? Ich bin mir da ziemlich unsicher, ob Frau Gülmen diese Aussage von uns hören wollen würde.
Ich bin mir wirklich unsicher, ob es das ist, was die Opposition in der Türkei von uns erwarten kann, dass wir, die wir auf der freien Seite leben, sagen, nein, wir wollen jetzt aber als aufrechte Demokraten dastehen und sagen, wo unsere Grenze ist! Ich bin da sehr hin- und hergerissen.
Ich kann wirklich verstehen, dass man dieses Symbol, dieses Zeichen endlich an die aktuelle Regierung in der Türkei schicken will, allerdings glaube ich nicht, dass es hilft, denjenigen, um die es uns ja geht - um diejenigen, die in Freiheit leben wollen, die in Rechtsstaatlichkeit leben wollen -, damit zu helfen. Wir müssen uns hier aber folgende Fragen stellen: Was hilft der Opposition? Was hilft der Mehrheit der türkischen Bevölkerung in der Türkei, wenn wir Herrn Özdal folgen? Ich würde sagen, es hilft eben nicht, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen, sondern zu sagen, behaltet Hoffnung im Rahmen der Beitrittsverhandlungen,
Es hilft den entlassenen Wissenschaftlern nicht, wenn wir alle Brücken kappen, und es hilft auch den inhaftierten Journalisten nicht, denn was gewähren denn die Beitrittsverhandlungen? Noch einmal: Es geht nicht darum, dass die Türkei morgen der EU beitreten soll, sondern es geht darum, offiziell formal die Verhandlungen aufrechtzuerhalten, weil sie den Europäern nämlich Zugang in die Türkei gewähren. Sie gewähren uns Zugang in die Gefängnisse, in die Gerichte, sie gewähren uns Zugang zur Kontrolle für das Monitoring, das wir erstellen, um die jährlichen Fortschrittsberichte von der Kommission erstellen zu lassen,
und das liefert uns Daten und Fakten über die aktuelle Lage in der Türkei. Auf welche Daten wollen wir uns denn berufen, wenn wir dort selbst gar nicht mehr hinein können?
Zweiter Punkt: Gut, dass Sie mir dazwischenreden, Herr Tuncel! Sie haben behauptet, dass die Europäische Kommission dort immer noch vier Milliarden Euro Wirtschaftshilfen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen hineingibt. Das ist schlicht falsch! Diese Hilfen sind längst gekürzt worden. Es gehen ausschließlich noch Fördermittel in die Projekte, die zivilgesellschaftlich organisiert sind, die für einen Demokratieaufbau sorgen, an Frauenvereine und an oppositionelle Vereine. Ausschließlich dorthin fließen noch Mittel der Europäischen Kommission,
und die sind wichtig. Oder wollen Sie, dass wir die Mittel abziehen und die letzte oppositionelle Arbeit in der Türkei, die noch gemacht werden kann, auch noch ausgesetzt wird, Herr Tuncel? Ich glaube nicht, dass Sie das wollen!
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, schließen wir Grünen uns der Resolution des Europäischen Parlaments an - das
kann man auch in unserem schönen Positionspapier nachlesen -, die nämlich sehr ausgewogen und sehr vorsichtig mit der Situation in der Türkei umgegangen ist und gesagt hat, man könne sich maximal das Einfrieren der Verhandlungen vorstellen, aber eben nicht das Aussetzen, solange in der Türkei noch der Ausnahmezustand herrscht.
Auch das darf man doch nicht vergessen: Das Europäische Parlament hat gesagt, wir müssen schauen, wenn der Ausnahmezustand wieder aufgehoben wird, ob die Türkei dann möglicherweise zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt, und wenn sie das dann nicht macht, dann ist vielleicht ein Moment dafür gegeben, die Beitrittsverhandlungen offiziell auszusetzen.
Ganz klar ist für meine Fraktion aber, sollte es ein Referendum über die Todesstrafe geben, dann möchten wir in Deutschland keine Abstimmung darüber, und sollte sich die Mehrheit in der Türkei dafür aussprechen, dass die Todesstrafe eingeführt werden soll, dann wäre das für uns ein Grund für die sofortige Suspendierung der Beitrittsverhandlungen. - Vielen Dank!
(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD - Abg. Frau Bergmann [CDU] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage. - Glocke)
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der 16. April 2017 war ein schlechter Tag für die Türkei, und er war ein Weckruf für Europa. Er wirft Fragen auf, ganz grundsätzliche Fragen, wie zum Beispiel, ob sich die Demokratie mit demokratischen Mitteln selbst abschaffen darf. Heute wurde schon im Rahmen einer freudschen Fehlleistung das Jahr 1933 in den Raum geworfen, 1933 wurde quasi innerhalb einer demokratischen Wahl die NSDAP gewählt und die Weimarer Republik abgeschafft.
Je mehr wir uns das Referendum in der Türkei anschauen, haben wir natürlich Bedenken, ob denn diese demokratische Wahl wirklich eine demokratische Wahl war. Es gab Unregelmä
ßigkeiten, und mit Sicherheit gab es eine Ungleichheit der Mittel im Wahlkampf. Aber was dort geschehen ist, war im Prinzip eine Abschaffung der Demokratie mittels einer demokratischen Wahl, und eines ist klar: Eine Demokratie kann sich vielleicht selbst abschaffen, aber sie wird sich nie wieder selbst implementieren können, denn eine solche freie Wahl wird es dort so schnell nicht wieder geben.
Ich glaube, wir können als Europäer nicht sagen, das finden wir in Ordnung, das akzeptieren wir, und jetzt schauen wir einmal, welchen Modus Operandi wir mit einer religiös geprägten Autokratie finden. Wir müssen sagen, eine Türkei, die sich für ein Wertesystem entschieden hat, das diametral unserem eigenen gegenübersteht, kann natürlich nicht Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führen und natürlich auch nicht irgendwelche Beitritts- oder Wirtschaftshilfen für sich reklamieren.
Aber das Problem liegt ja nicht nur in der Türkei selbst, sondern das Problem des Referendums liegt natürlich auch bei uns: Es gab in der Türkei ein sehr knappes Ergebnis, nach der offiziellen Auszählung haben knapp über 50 Prozent für das Referendum gestimmt. Bei uns in Deutschland war es so, dass die überwiegende Mehrheit der Türken, die zur Wahl gegangen sind, für das Referendum gestimmt hat. Es waren über 60 Prozent, fast zwei Drittel. Wenn es so ist, dass die Ablehnung unserer Demokratie und unserer Werte in Deutschland noch größer ist als die, die in der Türkei zustande gekommen ist - mit den ganzen Defiziten in der Auszählung, die es dort gegeben hat -, dann bedeutet das nicht nur, dass die Integration der türkischen Immigranten in Deutschland kolossal gescheitert ist, weil die Situation ja noch schlimmer ist als in der Türkei, sondern es hat offensichtlich so etwas wie Desintegration stattgefunden.
Da stellt sich für mich die Frage, wo diese Desintegration herkommt und durch wen sie betrieben wird. Da stellen wir fest, dass wir zum Beispiel einen Staatsvertrag haben mit einer DITIB, die im Prinzip eine örtliche Niederlassung für Diyanet ist, die direkt dem türkischen Religionsministerium, direkt der türkischen Regierung unterstellt ist. Das heißt, die türkische Regierung wirkt hier in unserem Land, und jetzt ist das eben keine demokratische Regierung mehr, es ist eine religiös geprägte Autokratie. Deswegen ist von uns die innenpolitische Forderung, den Staatsvertrag mit der DITIB sofort zu kündigen.
bauen, hier zu arbeiten und in unserer Gesellschaft ein anderes Leben zu führen, als sie es in der Türkei bekommen haben, offensichtlich einer Beeinflussung ausgesetzt waren, in der ihnen gesagt wurde, das ist nicht gut, ihr müsst konservativer sein, ihr müsst die Werte des Islams achten, was auch immer, da wurde Desintegration betrieben. Deswegen sind wir auch der Meinung, dass die ausländische Finanzierung von Moscheen in Deutschland nicht länger tragbar ist, sondern die Muslime in Deutschland müssen in der Lage sein, aus sich heraus, womöglich mit öffentlichen Mitteln, eine eigene Art von Islam zu entwickeln, der nicht ausländischen autokratischen oder diktatorischen Regierungen unterliegt.
Wenn wir uns die Schulen anschauen, dann geht es nicht darum, wie wir Religionsunterricht gestalten oder ob es dort deutsche oder türkische Imame gibt, denn es hat überhaupt nichts mit Religion zu tun. Wir brauchen als Gegenpol zu der religiösen fundamentalistischen Propaganda eine aktive Erklärung unserer Werte und wofür wir stehen. Das heißt, wir setzen uns dafür ein, hier in Bremen in den Schulen verpflichtend ein Fach Demokratie und Staatsbürgerkunde einzuführen, in dem wir aktiv erklären, wofür wir hier stehen,
Ja, natürlich! Das ist natürlich die Frage: Wie gehe ich damit um, dass sie hier wählen, dass sie hier nicht wählen! Wie gehen wir mit diesem Referendum zur Todesstrafe um? Natürlich wollen wir nicht, dass die Leute über die Todesstrafe abstimmen, aber einmal ganz ehrlich: Wie wollen Sie das verhindern? Wie wollen Sie verhindern, dass die Türkei in irgendeiner Weise einen Modus findet, dass sie per Briefwahl wählen können? Wollen Sie ihnen ihre Briefmarken wegnehmen oder so etwas? Das wird passieren!
Wir müssen uns ganz klar positionieren und sagen, das ist nicht in Ordnung, und mit einer Türkei, die auch nur ein solches Referendum durchführt, das die Einführung der Todesstrafe betrifft, reden wir nicht mehr über solche Dinge wie den Beitritt in die Europäische Union.
Wir müssen auch ganz deutlich machen, wenn die türkische Regierung heute kritisiert, dass die deutsche Bundesregierung Türken Asyl gewährt - zum Beispiel türkischen Soldaten, die in der Europäischen Union stationiert wurden -,