Protocol of the Session on May 10, 2017

(Abg. Frau Dr. Müller [Bündnis 90/Die Grünen]: Ja!)

unterzeichneten zuletzt einen Aufruf der EuropaUnion, der sich für die europäische Zusammenarbeit ausspricht. Jedes Wochenende zeigen Bremerinnen und Bremer auf dem Marktplatz Flagge für Europa, wenn sie dem Aufruf der Initiative „Pulse of Europe“ folgen.

Wir von der Europa-Union haben über alle Parteigrenzen hinweg - das ist die Stärke der EuropaUnion - diesen Austausch mit den Jugendlichen aus sieben anderen europäischen Mitgliedstaaten organisiert, die seit Sonntag in Bremen sind und sich gemeinsam mit Europa beschäftigen. Wenn Sie die Aktionen gestern sehen konnten oder Frau Dr. Müller oder mir auf Facebook folgen - wir haben einiges fotografiert -, wissen Sie, was gestern passiert ist. Ich finde, das ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie positiv junge Menschen Europa wahrnehmen.

Wenn Sie mir den Satz erlauben: Zwei meiner Töchter, die im selben Alter sind wie die jungen Leute, die uns jetzt dort oben zuhören, hatten das Glück und die Freude, ein paar der Veranstaltungen mitzumachen, sind begeistert, welche Gespräche, Diskussionen und Einladungen sich mittlerweile darüber ergeben haben, und überlegen, wie man sich vernetzt und wie man daran weiterarbeiten kann. Meine Töchter zumindest brennen für die Idee eines Interrail-Tickets für Jugendliche oder junge Erwachsene in Europa, um die anderen Länder kennenzulernen, die sie noch nicht kennen.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Sie alle wissen, dass diese Initiative zwar politisch häufig beklatscht wird, aber möglicherweise an der

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finanziellen Frage scheitert. Wir müssen auch eingestehen, dass es Jugendliche gibt, denen es, selbst wenn sie das Ticket hätten, schwerfallen würde, durch Europa zu reisen, weil es ja allein mit der Bahnfahrkarte nicht getan ist.

Der Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten war in der letzten Woche in Brüssel und hat verschiedene Gespräche geführt. Es war spannend zu beobachten, wer zumindest einen vorsichtigen Optimismus in Bezug auf Europa äußert und wer schlimme Befürchtungen hegt. Auch wir untereinander haben diese Fragen mehrfach, zum Teil kritisch, diskutiert, weil wir uns von einigen mehr Begeisterung erwartet hätten und bei anderen eher fanden, dass sie sehr optimistisch sind. So unterschiedlich ist auch bei uns die Wahrnehmung gewesen.

Trotzdem bleibt es richtig, dass wir weiterhin die Arbeit der europapolitischen Verbände und Initiativen unterstützen sollten, die im Sinne bremischer Tradition für Weltoffenheit, Solidarität und partnerschaftlichen Austausch eintreten. Als Politiker müssen wir diesem Beispiel folgen und uns auf allen politischen Ebenen und in Kooperation mit europäischen Partnern für eine Sicherung der engen europäischen Zusammenarbeit starkmachen. Rund 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Europäische Union eine der größten politischen Errungenschaften, wenn nicht sogar die größte, die dieser Kontinent je gesehen hat. Diese europäische Einigung müssen wir verteidigen. - Vielen Dank!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Leonidakis.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den wir heute diskutieren, ist mit „Bremen lebt die europäische Idee“ überschrieben. Ich möchte mit der Frage anfangen, was die europäische Idee eigentlich ist. Ich denke, je nachdem, wen man fragt, bekommt man unterschiedliche Antworten.

(Abg. Dr. vom Bruch [CDU]: Das glaube ich gar nicht!)

Altiero Spinelli, ein italienischer Kommunist, entwarf noch im Zweiten Weltkrieg die Vision eines föderalen Europas zur Überwindung des mörderischen, faschistischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts. Für viele Menschen in Bremen und auch in Europa bedeutet die europäische Idee heute

Frieden, Wohlstand und Freizügigkeit. Das sind unbestritten Errungenschaften, die mit der europäischen Integration einhergingen.

(Beifall DIE LINKE)

Für Menschen in Deutschland, hier vor Ort, heißt das: Wir reisen frei, profitieren mehrheitlich von sinkender Arbeitslosigkeit und vom Wirtschaftswachstum.

Es gibt aber auch die Kehrseite der Medaille. Wenn man Menschen in Griechenland oder auch Frankreich fragt, bekommt man möglicherweise eine andere Antwort. Die Bundesrepublik hat jahrzehntelang Lohnzurückhaltung und Niedriglohnpolitik betrieben und einen Außenhandelsüberschuss hervorgerufen, der Ungleichgewichte in der EU, insbesondere in der Eurozone, zur Folge hatte. Diese kann man nur noch durch interne Abwertung, durch Lohnsenkungen, Rentenkürzungen und Prekarisierung von Arbeit und sozialer Absicherung ausgleichen. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Euro-Gewinner. Die anderen müssen durch interne Abwertung reagieren.

In Griechenland beispielsweise sind die Löhne seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise um ein Drittel gesunken. Die Renten wurden gekürzt, die Mindestlöhne gesenkt und Massenentlassungen erleichtert. Die EU hält dem entgegen, die Arbeitslosigkeit sinke. Ja, aber das tut sie vor allem durch die Tatsache, dass über 400 000 Beschäftigte ausgewandert sind beziehungsweise auswandern mussten. Die Euro-Gruppe lobt den Primärhaushaltsüberschuss. Ja, aber der kommt vor allem durch Ausgabenkürzungen zustande. Einnahmesteigerungen, beispielsweise durch Konjunkturimpulse, werden nicht erzielt. Im Gegenteil. Täglich schließen nach wie vor 100 Betriebe. Die Arbeitslosigkeit ist mit 26 Prozent die höchste in der ganzen EU, vor Spanien mit 24 Prozent.

Erst vorige Woche hat die Euro-Gruppe Griechenland im Gegenzug für neue benötigte Kredite zu weiteren Rentenkürzungen und zur Absenkung des Steuerfreibetrages von etwas mehr als 8 000 Euro auf etwas mehr als 5 000 Euro gedrängt. Die gelebte Realität für Griechinnen und Griechen oder auch andere in Europa ist, dass die EU mit dem Rotstift in ihr Land hineinregiert. Aber das ist nicht einmal die EU, sondern es ist die Euro-Gruppe, die durch keine Wahl demokratisch legitimiert ist und nicht einmal ein offizielles Gremium der EU darstellt. Die Menschen lehnen diese EU ab, weil sie ganz konkret ihre Existenz gefährdet.

Wenn Sie Griechinnen und Griechen zur europäischen Idee befragen, erhalten Sie ein unbedingtes

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Ja; denn in Griechenland und auch in anderen Ländern ist die europäische Idee sehr stark verankert. Wenn Sie sie aber zur europäischen Realität befragen, erhalten Sie ein mehrheitliches Nein.

(Beifall DIE LINKE)

Für viele Menschen in Europa sind das positive Versprechen und die Idee von Frieden und Prosperität leider von der gelebten Realität überlagert worden, die für sie anders aussieht.

Auch die Flüchtlingspolitik der EU ist alles andere als friedlich. Sie hält teilweise nicht einmal rechtsstaatlichen Ansprüchen stand. Das fängt bei dem Pakt mit dem Despoten Erdoğan an, der an der Grenze auf syrische Schutzsuchende schießen lässt oder sie völkerrechtswidrig nach Syrien abschiebt - da gibt es noch nicht einmal ein Abkommen, das man beklagen könnte, wie der Flüchtlingsrat auf dem Treffen mit dem Europaausschuss zu Recht kritisiert hat -, geht über das Flüchtlingsabkommen mit dem Sudan, dessen Präsident der einzig amtierende Präsident ist, der als Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Menschen- und Völkerrechtsverbrechen steht, und reicht bis hin zur fehlenden Solidarität innerhalb Europas, die wir auch hier schon diskutiert haben. In Deutschland steht die Hälfte der Asylunterkünfte leer, während die Camps auf den griechischen Inseln zu 100 Prozent überbelegt sind.

Die Aktion gestern auf dem Marktplatz hat diese berechtigte Kritik mit einem Augenzwinkern und mit Schildern aufgegriffen, auf denen beispielsweise zu lesen war: „Die EU ist flüchtlingsintolerant“ oder „Mama, ich habe Eurozentrismus“. Die Kritik an der EU-Politik wird häufig als antieuropäisch missinterpretiert. In der Berichterstattung zur FrankreichWahl war oft von rechten und linken Anti-Europäern die Rede. Diese Gleichsetzung von rechten Nationalisten wie Le Pen und linker EU-Kritik geht an der Realität vorbei.

(Beifall DIE LINKE - Abg. Röwekamp [CDU]: Nein!)

Das Letzte, was wir wollen, ist eine Renationalisierung. Le Pen, Geert Wilders, Orban oder Hofer sind aus unserer Sicht eine riesige Gefahr. Eine Renationalisierung wäre auch wirtschaftlicher Unsinn; denn dann würden die Konkurrenzkämpfe zwischen den EU-Staaten ja noch stärker. Das Gegenteil ist nötig: mehr europäische Integration, zum Beispiel eine Steuerharmonisierung, um ein Steuerdumping à la Luxemburg oder Irland zu verhindern.

(Beifall DIE LINKE)

Nötig sind auch länderspezifische Mindestlöhne, um zwischenstaatliches Lohndumping zu verhindern. Eine Währungsunion kann langfristig nicht ohne einen Transfer wie dem Länderfinanzausgleich in Deutschland existieren. Eine Wirtschaftsunion kann langfristig nicht ohne eine Sozialunion existieren, die soziale Mindestrechte garantiert.

(Beifall DIE LINKE - Abg. Frau Grotheer [SPD] und Abg. Frau Dr. Müller [Bündnis 90/Die Grünen]: Ja! - Abg. Dr. vom Bruch [CDU]: Tun Sie es lieber nicht!)

Die aktuelle Polarisierung zwischen rechten Nationalisten und wirtschaftsliberalen Pro- Europäern geht in eine andere Richtung. Wenn Macron sein Programm umsetzt, Arbeits- und Gewerkschaftsrechte beschneidet, 120 000 öffentlich Beschäftigten kündigt und diese Maßnahmen notfalls per Dekret am Parlament vorbei umsetzt, bin ich mir nicht sicher, ob die Französinnen und Franzosen danach positiver zur EU stehen werden.

Wir von der LINKEN wollen eine EU, die wirklich demokratisch, friedlich und sozial ist. Der Weg dahin ist noch lang.

Wir werden dem vorliegenden Antrag natürlich zustimmen, weil wir richtig finden, was im Beschlussteil steht. Wir schätzen das europäische Engagement in Bremen und das Programm, das jetzt für die Europawoche auf die Beine gestellt wurde, sehr. Genau diese kritische Auseinandersetzung ist notwendig, um neue Visionen zu entwickeln, wie man die EU sozialer, demokratischer und gerechter gestalten kann.

(Beifall DIE LINKE)

(Glocke)

Es ist gerade jetzt notwendig, im Hinblick auf die Gefahr des erstarkenden Nationalismus internationale Zusammenarbeit und Solidarität zu fordern und gegen Nationalisierung und Chauvinismus anzutreten. Wir sind aber nicht unter den Antrag gegangen, weil er keine Kritik an der jetzigen Verfasstheit der EU enthält. Wer die europäische Einigung langfristig erhalten möchte - ich kann Ihnen versichern, das wollen wir aus tiefstem Herzen -, darf meiner Ansicht nach nicht auf Kritik an der jetzigen EU verzichten. - Danke schön!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Schäfer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kollegen, meine Damen und Herren! Wir

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alle sind dankbar und glücklich, dass wir in der Europäischen Union leben können. Wir haben Freiheiten und Möglichkeiten, die die Generationen zuvor nicht hatten. Wir leben im Frieden. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die EU im Großen und Ganzen ein Erfolgsmodell ist, das uns hier mittlerweile seit Jahrzehnten ein Lebensumfeld bietet, das es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Wir stehen über den ganzen Kontinent vereint zum Beispiel gegen die Todesstrafe und all die zivilisatorischen Brüche, die wir in der ganzen Welt beobachten. Wir haben hier wirklich eine Insel in der Welt geschaffen, mit zivilisatorischen Errungenschaften, die unvergleichlich sind. Das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.

Aber natürlich wird man, wenn eine Organisation in die Jahre kommt und man sich über alle diese Errungenschaften freut, unter Umständen teilweise betriebsblind, was Defizite, Fehlentwicklungen und Dinge angeht, die nicht so gut laufen.

Wir haben hier eben gehört, dass es Befürchtungen gibt, dass Populisten diese EU in Frage stellen. Wir müssen erkennen, dass diese Leute, die wir als Populisten bezeichnen, unter Umständen in Frankreich ein Drittel der Wähler ausmachen und dafür sorgen, dass ein Land wie Großbritannien insgesamt aus der EU ausscheiden möchte. Ich warne davor, mit den Begriffen „Populismus“, „Chauvinismus“ und „Nationalismus“ all jene zu diskreditieren, die - ob berechtigt oder unberechtigt - Kritik an der EU äußern. Wenn wir die EU erhalten wollen, können wir dies nur gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Strömungen und Kräften und auch mit Leuten, denen der Patriotismus und die Selbstbestimmung sehr wichtig sind oder die vielleicht für mehr Umverteilung sind, tun. Wir müssen die EU gemeinsam, ohne uns gegenseitig zu diskreditieren, reformieren; denn sonst werden wir sie verlieren.

Diese EU ist reformbedürftig, weil sie mittlerweile ganz erhebliche Defizite aufweist. Wir haben eine Währung, die Konstruktionsmängel hat und die mit dafür verantwortlich ist, dass wir in Südeuropa - ich rede hier jetzt zum Beispiel von Spanien und Griechenland - eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent zu verzeichnen haben. Ich will nicht sagen, dass diese Jugendarbeitslosigkeit ausschließlich auf die Währungspolitik zurückzuführen ist. Aber diese Währung hat auch einen Effekt darauf. Auch unsere Außenhandelsbilanz-Überschüsse setzen die EU unter Druck. Unsere TARGETSalden sind mittlerweile auf über 850 Milliarden Euro angewachsen.

Das sind Unwuchten. Bitte, lassen Sie uns nicht jene diskreditieren, die sagen, wir müssten hier

nachbessern! Das verhindert, dass wir in Diskussionen eintreten, die EU zu reformieren. Wenn wir die EU nicht reformieren, dann kommt es zu Erosionserscheinungen, und die Leute, die die EU insgesamt in Frage stellen, werden immer stärker werden.

Zu den Defiziten gehören auch Demokratiedefizite. Ich sehe es als ein Demokratiedefizit an, dass wir ein Europäisches Parlament haben, das kein Initiativrecht bei Gesetzesvorlagen hat. Ich sehe es als ein Demokratiedefizit an, dass wir europäische Kommissionen haben, in denen die Stimmrechte überhaupt nicht die Bevölkerungsproportionen in der Europäischen Union abbilden. Und ich empfinde es als eine Bedrohung, dass wir von politische Äußerungen aus Partnerländern erfahren, denen zufolge man darauf hinwirken will, alles zu vereinheitlichen, eine europäische Sozialversicherung und einen europäischen Haushalt zu schaffen.

Angesichts der Demokratiedefizite, die es in dieser zentralistischen europäischen Struktur gibt, lautet mein dringender Appell: Wenn wir die Europäische Union erhalten wollen, dann lassen Sie sie uns bitte reformieren und gemeinsam überlegen, wie wir das europäische Haus bauen und in diesem europäischen Haus wohnen können. Lassen Sie uns niemanden ausgrenzen, erst recht nicht 30 Prozent der Franzosen, die eine Partei wählen, die Sie als populistisch betrachten. Wir müssen - -.