Protocol of the Session on September 23, 2015

Wir haben gerade aus Baden-Württemberg die Nachricht bekommen, dass dort ein Flüchtlingsheim angegriffen wurde. Der Blick auf die zunehmenden antisemitischen Straftaten in Deutschland und andere fremdenfeindliche Übergriffe, wie etwa auf Flüchtlingsheime oder die Übergriffe auf zahlreiche Moscheen in Deutschland, machen eines deutlich: Menschen, die diesen menschenverachtenden Ideologien aufsitzen, müssen das klare Zeichen bekommen, es ist ganz gleich, wie alt ihr seid, ob 90, 92 oder 93, die bundesdeutsche Justiz wird es nicht vergessen, und ihr könnt nicht sagen, es ist vorbei. Das ist das Ansinnen des Antrags, meine Damen und Herren,

(Beifall CDU, SPD, DIE LINKE)

deswegen freuen wir uns, wenn Sie diesen für uns wichtigen Antrag breit unterstützen. – Danke für die Aufmerksamkeit!

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, ALFA)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Erlanson.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus und nach der Befreiung der Konzentrationslager gilt noch immer der Satz: Die Täter sind unter uns. Ihre Zahl mag mittlerweile sehr gering geworden sein, wie es mein Vorredner dargestellt hat. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum rechnet mit zwischen 80 und 100 Personen, die sie noch ausfindig machen wollen und die wahrscheinlich Teil der

Einsatzgruppen oder KZ-Wachmannschaften waren. Das hatte mein Vorredner auch erwähnt.

Hintergrund der als „Operation Last Chance“ bezeichneten Initiative, um sich bei der Verfolgung noch einmal besonders anzustrengen, ist, dass sich die Situation in der laufenden Rechtsprechung etwas geändert hat. In dem Prozess gegen den Ukrainer Ivan Demjanjuk im Jahr 2011 verurteilte ein Gericht erstmals Beihilfe zum Mord, ohne dass ihm genau nachgewiesen werden konnte, wen er im Einzelnen möglicherweise gequält oder vielleicht noch nicht einmal das hat. Das Gericht sagte, es genügt, dass der Beschuldigte Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen ist. Das heißt, auch Menschen, die an der Rampe gestanden und einfach die Wertgegenstände der dort Verladenen aufgenommen haben, waren Teil dieser Maschinerie und sind dementsprechend der Justiz zuzuführen. Das war in Deutschland nicht immer so, wenn man bedenkt, dass dieser Fall im Jahr 2011 entschieden wurde.

(Präsident Weber übernimmt wieder den Vorsitz.)

Mein Vorredner hat auch gesagt, die Strafverfolgung von Tätern und Verantwortlichen der NS-Verbrechen sind wahrlich kein Ruhmesblatt für deutsche Justizbehörden. Eines der ersten Gesetze, mit dem sich der Deutsche Bundestag im Jahr1949 befasste, war ein Amnestiegesetz mit dem Namen Straffreiheitsgesetz, durch das viele der mittleren und kleinen Schergen des NS-Regimes straffrei ausgegangen sind. Man muss auch einmal daran erinnern. Als ich das gelesen habe, ist mir ganz gruselig geworden. Wie mein Vorredner ausgeführt hat, ist Ähnliches mit der Verjährung von Mord auch im Nachhinein passiert. Diese „Operation Last Chance“ sollte als deutliches Signal von der Bürgerschaft in Bremen unterstützt werden.

Die CDU hätte doch auch die anderen Fraktionen fragen können. Um auch das noch einmal zu sagen, finde ich das Vorgehen ein bisschen schade. Uns hat zumindest niemand gefragt. Vielleicht hätten wir das tatsächlich gemeinsam unterstützen können. Sei es darum. Der Antrag liegt jetzt so vor. Lassen Sie mich mit den Worten schließen: Man muss immer noch feststellen, das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen verjährt nie.

(Beifall DIE LINKE, SPD, CDU, Bündnis 90/ Die Grünen)

Von daher darf es auch für die Gerechtigkeit nie zu spät sein. – Danke!

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Zenner.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir werden mit einem historischen und für den einen oder anderen zum Teil aufwühlenden

Antrag bedacht. Ich bin selber in einer antifaschistischen Familie groß geworden, meine Eltern haben unter dem Nationalsozialismus gelitten. Dennoch müssen wir auch bei diesem Antrag auf das schauen, was für uns realistisch im Bereich der Last Chance noch möglich ist.

Der Antrag geht davon aus, dass über die deutsche Zentralstelle der Einrichtung Wiesenthal in Osteuropa, der Sowjetunion und Polen Einsatzgruppen mit circa 80 Personen ausgemacht worden sind, die als Täter aus der NS-Zeit in Betracht kommen und die vielleicht noch ihrer Verurteilung zugeführt werden können. Das ist der tatsächliche Hintergrund. Das findet unsere volle Unterstützung. Unrecht ist hier zu ahnden. Wir müssen dies weiterhin verfolgen, so lange wie die Herrschaften noch leben.

(Beifall FDP)

Uns gefällt an dem Antrag nicht, dass auch von Zeichen für zunehmende antisemitische Straftaten die Rede ist. Daran denke ich so nicht.

Des Weiteren teile ich nicht die Aufforderung, „die Strafverfolgungsbehörde in die Lage zu versetzen, die notwendigen Ermittlungen einzuleiten“.

Stattet die Staatsanwaltschaft und die Gerichte besonders aus, wir haben Anhaltspunkte dafür, ihr geht dem nicht genügend nach. Das kann ich nicht erkennen.

Zweitens hätte ich mir gewünscht, dass in der Ziffer 2 des Antrags nicht nur steht, dass alle staatlichen und nicht staatlichen Stellen aufgefordert werden, sondern auch alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert sind. Es muss eigentlich eine gemeinsame Sache von uns allen sein, und zwar nicht nur hier im Parlament, sondern als Appell an die Öffentlichkeit.

Drittens: Bei einer „Last Chance“ hätte ich mir vorstellen können, dass über den Sachstand nicht erst zum 31. März 2016 berichtet wird, sondern innerhalb einer kürzeren Frist. Ich denke, dass die Bremer Justiz so gut aufgestellt ist, dass sie in einem kürzeren Zeitraum das Parlament über den Bereich der NS-Straftaten unterrichten könnte. Ich hätte mir einen kürzeren Zeitraum gewünscht.

Insgesamt begrüßen wir den Antrag, wir tragen ihn mit, aber wegen der von mir beschriebenen Mängel werden wir uns bei den Ziffern 1 und 2 enthalten. Wir unterstützen natürlich die Ziffer 3 des Antrags. – Danke schön!

(Beifall FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dogan.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren! Viele Verbrechen der Nazizeit sind noch nicht aufgeklärt, und die Schuldigen sind noch nicht verurteilt. Das Ziel des Antrags ist, dass noch lebende Naziverbrecher aufgespürt und ihrer strafrechtlichen Verfolgung zugeführt werden. Wir, liebe CDU-Fraktion, hätten uns sehr gefreut, wenn Sie uns alle gefragt hätten, ob wir diesen Antrag unterstützen, sodass es letztlich zu einem interfraktionellen Antrag gekommen wäre,

(Abg. Röwekamp [CDU]: Das hätte er auch werden können, wenn Sie ihn unterschrieben hätten!)

denn die Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen ist unser gemeinsames zentrales Anliegen, und deswegen unterstützen wir heute Ihren Antrag.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Es ist beschämend, dass 70 Jahre nach dem Kriegsende immer noch nicht alle Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen worden sind. Sechs Millionen Juden, Roma, Sinti, Homosexuelle und viele andersdenkende Menschen sind in Konzentrationslagern ermordet worden. Es ist deshalb wichtig, dass das Unrecht jedes Einzelnen im Strafprozess benannt und dass das Verbrechen an den Menschen auch sichtbar gemacht wird.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Das ist nicht nur wichtig, um die Vergangenheit aufzuarbeiten, meine Damen und Herren, sondern auch damit wir heute – Herr Dr. Yazici hat es deutlich gesagt – nicht blind für die Gegenwart sind, denn heute wissen wir, dass Fremdenhass und rassistisches Gedankengut immer noch in Deutschland existent sind. Wir alle haben eine Verantwortung, und zwar sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Wir haben in den letzten Wochen viele Bilder von brennenden Flüchtlingsheimen gesehen, und wir haben wahrgenommen, dass Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, in Deutschland bedroht werden. Es ist wichtig, meine Damen und Herren, sich immer wieder an das unmenschliche Geschehen in der Nazizeit zu erinnern, an den Völkermord an den Juden. Wir sagen deutlich, dass Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz haben!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Wir betonen auch ganz deutlich – und das sage ich bewusst in eine bestimmte Richtung, mir ist es heu

te Morgen schwer gefallen, mich zurückzunehmen –, dass wir dem Aufkeimen rechten Gedankenguts aus der Bürgerschaft heraus entgegentreten und uns mit rechtsstaatlichen Mitteln dagegen wehren werden, Herr Tassis!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)

Bis heute leben unter uns unbehelligt Verbrecher, die bisher nie zur Rechenschaft gezogen worden sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die letzte Chance für die Strafverfolgung nutzen, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist zwar spät, aber noch nicht zu spät, wie es unser Kollege Dr. Yazici gesagt hat. – Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, CDU, DIE LINKE, FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Aulepp.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich meine zweite Rede vor diesem Hohen Haus zu diesem Antrag halten darf, weil für mich die Art und Weise, wie in der Bundesrepublik Deutschland mit der Verfolgung von in der Nazizeit begangenen Straftaten umgegangen wird, schon immer ein wichtiges Thema und ein Gradmesser für gesellschaftliche Werte war.

(Beifall SPD)

Ich kann mich meinen Vorrednerinnen und Vorrednern nur anschließen, auch wir werden dem Antrag zustimmen.

Es ist schön, dass sich die Bremer CDU heute so deutlich und im Unterschied zur bedauerlichen christdemokratischen Haltung der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik positioniert.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Es stimmt, die Verfolgung der nationalsozialistischen Massenverbrechen ist nach 70 Jahren nach wie vor ein zentrales Anliegen. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn die Strafverfolgung damals anders betrieben worden wäre. Die Signalwirkung, die die CDU richtigerweise in ihrem Antrag beschreibt, hätten sich damals auch schon die freiheitlichen, demokratischen und an einer Aufarbeitung und tatsächlichen Bewältigung der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus interessierten Kräfte in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren in Deutschland gewünscht, und zwar zu einer Zeit, als noch nicht der

größte Teil dieser Verbrechen verjährt oder die Strafverfolgung durch den Tod oder die Prozessunfähigkeit der Täter nicht mehr möglich war.

(Beifall SPD)

Ich stimme mit Herrn Dr. Yazici in der Bewertung der beschämenden Bilanz der Strafverfolgung bis weit in die Siebzigerjahre hinein völlig überein, und ich freue mich, wie Herr Erlanson, dass es bei dieser Tendenz eine Wende gegeben hat, sodass wir jetzt tatsächlich ernsthafte Strafverfolgung betreiben.