Kinderarmut ist Chancenarmut – Ankündigungen des Senats weiterhin wirkungslos, Antrag des Ab geordneten Röwekamp und der Fraktion der CDU
Bremen braucht intelligente Haushaltssanierung statt 116-Millionen-Euro-Abwicklungsprogramm, Antrag der Abgeordneten Professor Dr. Hilz, Frau Steiner und der Fraktion der FDP
Meine Damen und Herren, ich weise darauf hin, dass die Redezeit pro Fraktion oder Gruppe 15 Minuten nicht überschreiten darf. Werden mehrere Themen behandelt, darf die Redezeit pro Fraktion oder Grup pe in der Aktuellen Stunde 30 Minuten nicht über schreiten. Je Thema sind bis zu zwei Redebeiträge pro Fraktion oder Gruppe zulässig.
Bevor ich die Beratung eröffne, möchte ich Ihnen mitteilen, dass in die Aussprache zu dem zweiten Thema der Aktuellen Stunde auch die Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 51, Stabilitätsbericht 2016, und 52, Bericht zur Umsetzung des Sanierungs programms 2012/2016, einfließen soll.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Beengtes Wohnen, wenig Geld für gesundes Essen, Bildung, Hobbys oder Urlaub – für rund ein Drittel aller Kinder in Bremen ist das Alltag. Nach den Ergebnissen der aktuellen
Bertelsmann-Studie hat sich die Kinderarmut im Land Bremen am schlechtesten entwickelt und liegt doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Nur in Berlin leben mehr Kinder in Hartz IV. Dort ist die Zahl allerdings rückläufig, ebenso wie in Hamburg. Besonders frappierend ist, dass die Kinderarmut für Kinder unter 6 Jahren in Bremen gestiegen ist, und das trotz Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr. Rund 44,5 Prozent bei den Drei- bis Sechsjährigen in Bremerhaven und 33,7 Prozent in Bremen sind einfach zu viel.
Doch wir haben nicht nur den höchsten Anteil bei den unter 6-Jährigen in Armut, sondern auch bundesweit den höchsten Anteil von unter 15-Jährigen im HartzIV-Bezug, ebenfalls knapp 33 Prozent. Jedes dritte Kind bei uns wächst also über viele Jahre in HartzIV auf und erlebt den Mangel als Dauerzustand. Da Kinder diesen Mangel nicht selbst beheben können, ist es unsere Aufgabe, ihnen zu helfen. Aus der Forschung wissen wir, dass sich andauernde Armutserfahrungen besonders negativ auf die Teil habe und Entwicklung von Kindern auswirken. Wir wissen, dass Kinder in alleinerziehenden Familien und Kinder, die mit zwei oder mehr Geschwistern aufwachsen, insgesamt das höchste Armutsrisiko ha ben – Faktoren, die in Bremen erfüllt sind! Wir haben die bundesweit zweithöchste Alleinerziehendenquote. Während der Anteil berufstätiger Alleinerziehender in allen anderen Bundesländern seit 2010, seit Ein führung des Rechtsanspruches, massiv gestiegen ist, sank dieser in Bremen noch einmal um 10 Prozent auf nur noch 58 Prozent, und auch da haben wir die rote Laterne – ein Absinken, das auf die fehlende Infrastruktur im Land Bremen zurückzuführen ist, an der wir hier gemeinsam etwas ändern können. Wie Sie wissen, verfolgt die CDU-Fraktion das Thema Armutsbekämpfung nicht erst seit Kurzem. Bereits 2013 haben wir uns für eine Enquetekommission stark gemacht. Erst nachdem Bürgermeister Böhrnsen im Januar 2014 auf dem Neujahrsempfang dazu aufge fordert hat, das Thema Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt der politischen Beratungen zu stellen, konnten wir einen Armutsausschuss einsetzen, der am 24. März letzten Jahres einen Abschlussbericht mit 131 Handlungsempfehlungen vorgelegt hat, 88 davon konsensual. Mit der Abarbeitung dieser Hand lungsempfehlungen sind wir jedoch absolut nicht zufrieden, wie ich Ihnen exemplarisch an zwei – und zwar den beiden größten – Stellschrauben beim Thema Überwindung von Kinderarmut aufzeigen möchte. Wenn wir Kindern die Chance geben wollen, aus der Armutsspirale auszubrechen, ist die frühkindliche Bildung der wesentliche Schlüssel – gerade sie starten ja oftmals mit schlechteren Ausgangsbedingungen in die Schule. Dafür braucht es aber erst einmal ei nen Platz. Vor diesem Hintergrund ist es fatal, dass
bisher 1 346 Eltern ihren Rechtsanspruch geltend gemacht haben, wir aber bis Ende des Jahres nur für 900 Kinder einen Platz schaffen werden. 450 Kinder gehen leer aus. Schlimmer noch: Sie lassen als rot-grüne Landesregierung nicht nur die Eltern im Stich, die ihre Kinder bereits für einen Kita-Platz angemeldet haben. Ihr Ziel war es doch, vor allem jene Kinder in die Kitas zu holen, deren Eltern ihren Rechtsanspruch bisher nicht geltend gemacht haben: Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit gerin gen Deutschkenntnissen, Kinder aus bildungsfernen Familien, denen Sie über die frühkindliche Bildung in den Einrichtungen und durch Chancengerechtigkeit einen Weg aus der Armut schaffen wollten. Um das zu schaffen, wollten Sie im Sinne einer aufholenden Entwicklung den Zugang in die Krippen für diese Familien erleichtern und genau in diesen Stadttei len zusätzliche Plätze schaffen. In beiden Bereichen haben Sie nachweislich versagt.
Während Sie im Koalitionsvertrag den Rechtsan spruch für Krippenkinder noch auf 30 Stunden aus weiten wollten, ist dies inzwischen passé, wie man dem aktuellen Senatsbericht, Drucksache 19/734, vom 13. September entnehmen kann. Da schreiben Sie: Rechtsanspruch für Krippenkinder weiterhin 20 Stunden, Rest muss nachgewiesen werden anhand von Arbeitsverträgen et cetera. – Damit lassen Sie diese bildungsfernen Familien weiterhin außen vor. Ihre Begründung ist klasse:
„Die Aufhebung der Bedarfsprüfung und die damit verbundenen Kosten sind im Haushalt nicht hinter legt.“
Auch bei den Plätzen sieht es nicht besser aus. Die Liste, wo am meisten Krippen- und Kita-Plätze fehlen, liest sich als Hitliste der soziokulturell benachteiligten Gebiete: Gröpelingen 90 Plätze, Blumenthal 58 Plätze, Hemelingen 44 Plätze – Vahr, Vegesack, Osterholz, Walle, Woltmershausen, Huchting, Kattenturm. In den anderen Stadtteilen sieht es jedes Mal besser aus. – Genau in diesen Stadtteilen wohnen doch die Alleinerziehenden und die Familien mit mehr als zwei Kindern, die wenig Geld haben und nur preiswerten Wohnraum bezahlen können. Dort ist die Kinderarmut zu Hause, meine Damen und Herren, und dort versagen Sie.
Mit Nichtwissen können Sie sich nicht herausreden, weil die DJI-Studie, die von Senatorin Stahmann in Auftrag gegeben wurde, genau das schon 2014 prognostiziert hat. Gebaut wurde nicht, schlimmer noch, Investoren, die helfen wollten, wurden brüsk abgewiesen. Wäre das nicht passiert, hätten wir dieses Betreuungsproblem zumindest in Walle, Hemelingen und Vegesack aktuell nicht mehr.
Beim Ausbau der Ganztagsschulen, der genau in diesen Armutsquartieren vorangetrieben werden sollte, sieht es nicht besser aus: Acht Schulen wollten Sie in den Jahren 2016 und 2017 ausbauen, jetzt wird es durch die schlechte Vorbereitung der Behörde ge rade eine von acht Schulen. Derzeit streiten Sie sich zudem zu allem Überfluss innerkoalitionär darüber, welche anderen sieben Schulen es denn werden könnten oder sollten. Sollte dieser Streit noch länger dauern, wird das dazu führen, dass aufgrund von Zeitmangel die anderen sieben Schulen de facto nicht kommen werden. Das ist unverantwortlich und ver festigt die langen Armutsverläufe von Familien, die die Bertelsmann-Stiftung in Bremen in besonderem Maße festgestellt hat, denn wer zu den Glücklichen gehörte, die einen Krippen- oder Kita-Platz ergattern konnten, steht spätestens ab der Grundschule wieder vor einem Betreuungsproblem und damit erneut vor der Arbeitslosigkeit. Die zweite Stellschraube sind – die größte Teilmenge der in Armut lebenden Familien – die Alleinerzie henden. In anderen Bundesländern ist ein unmittel barer Zusammenhang zwischen einer flexiblen und schichtzeitenentsprechenden Kinderbetreuung und einer höheren Erwerbsbeteiligung Alleinerziehender erkennbar. Selbst der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen benennt dies im Februar dieses Jahres als ein klares und eines der Hauptdefizite. Auch der Armutsausschuss forderte übrigens konsensual flexiblere Kinderbetreuungsmodelle. Jetzt hat uns der Senat eine Antwort gegeben, auf Seite 35 seines aktuellen Berichtes: „die Erprobung von Modellen zur Flexibilisierung … und … Erweiterung“ konnte „nicht erprobt werden“ im Rahmen der bestehenden Haushaltsmittel. – So hilft man de facto keinem Al leinerziehenden, und so setzt man die Empfehlungen des Armutsausschusses nicht um.
Wir brauchen genau das, was ich eben aufgeführt habe. Die arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen tragen der Bedeutung der Zielgruppe nicht in ent sprechender Weise Rechnung. Im beschäftigungs politischen Aktionsprogramm BAP sind keine maß nahmenbezogenen Zielzahlen für Alleinerziehende festgelegt. Mehrere erfolgreiche Programme für Alleinerziehende sind in der Vergangenheit nicht fortgeführt worden, weil sie aus Bundesprogrammen finanziert worden waren und die Fortsetzung über Landesmittel vom Senat abgelehnt wurde. Dadurch hat die Kontinuität der Strukturen und Netzwerke gelitten. Dann hat man hinterher wieder angefan gen, etwas neu aufzubauen, und das jedes Mal mit massivem Aufwand und wenig Ergebnis, weil man diese Kontinuität eben nicht genutzt hat. Erwerbslose Alleinerziehende mit Kindern unter drei Jahren sind nicht gezwungen, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Sie gelten statistisch nicht als arbeitslos. Damit ist aber auch die Motivation der
Jobcenter oft gering, sich um diese spezielle Gruppe der Alleinerziehenden zu kümmern. Mitunter sind sogar Förderinstrumente nur denjenigen vorbehalten, die offiziell als arbeitslos zählen. Das Thema Alleinerziehende hat die CDU-Fraktion genauso wie DIE LINKE vor Kurzem mit ganz konkre ten Vorschlägen aufgegriffen, um diese Bedingungen zu verbessern. Sie haben unsere Vorschläge unissimo abgelehnt und stattdessen lieber noch einmal einen sechsmonatigen Prüfbericht beschlossen. Wenn mein Beitrag Ihnen heute an diesen kleinen exemplari schen Beispielen eines nahebringen sollte, die solche massiven Auswirkungen haben, dann doch wohl Folgendes: Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem.
Wir sind nicht stringent genug, wenn wir einmal etwas umsetzen, und wir arbeiten in Bremen nicht verzahnt. So kann es in Bremen keine Überwindung der so zialen Spaltung geben, denn das setzt stringentes, planvolles und durchgängiges Handeln des Senats voraus. Dort, meine Damen und Herren, haben Sie deutlichen Nachholbedarf.
Lassen Sie mich abschließend noch eines feststellen: Diese Antwort auf den Armutsbericht und die Hand lungsempfehlungen, die uns hier vorliegen, ist – ich kann es kaum in Worte fassen – dermaßen schwierig, und in fast allen Punkten teilt man mit, dass man daran arbeitet, dass man weiter aufbaut, dass man aber nichts erledigt hat, sodass man an dieser Stelle kaum noch von einem Bericht sprechen kann. Es war eine Fleißarbeit eines Mitarbeiters, der die 131 Handlungsempfehlungen aufgeführt hat, es war aber kein Erfolgsbericht des Senats. Ich hoffe, dass sich dies jetzt nachhaltig ändert, damit die Kinderarmut in Bremen, die wir selbst zum Teil verschuldet haben, endlich nach unten geht. – Vielen Dank!
Herr Präsident, meine sehr ver ehrten Damen und Herren! In der Vorbereitung auf diese Aktuelle Stunde habe ich mir schon gedacht, Frau Ahrens, dass Sie versuchen, die Probleme relativ einfach zu schildern, obwohl sie sehr komplex und sehr kompliziert sind.
Wenn man sich den Forschungsbericht der Bertels mann-Stiftung ansieht, stellt man fest, dass sich ein
Drittel des ganzen Berichts damit beschäftigt, wie sie eigentlich die Zahlen ermitteln, also wie sie for schen. Dann kommt ein Teil, in dem ein wenig gesagt wird, wie der Stand der Dinge ist, und ganz zum Schluss, auf den Seiten 80 bis 81: „Bekämpfung der Kinderarmut – Was ist zu tun?“, das reduziert sich auf einen ganz kleinen, knappen, wie ich finde, sehr undifferenzierten Absatz. Ich zitiere aus dem Bericht:
„Neben den zuvor skizzierten Anforderungen an Forschung und Wissenschaft sind besonders Politik und Praxis gefordert. Die Politik als verantwortlicher Gestalter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ist aufgerufen, mehr und zugleich anders als bisher in die finanzielle Sicherheit von Kindern und Familien sowie in die (Armuts)Prävention zu investieren. Da bei geht es insbesondere um die Weiterentwicklung der Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und deren Familien insgesamt und gleichzeitig in Bezug auf die Bedürfnisse und Bedarfe der armutsbetroffenen Gruppen.“
Was Sie sagen, steht sozusagen im haushalterisch luftleeren Raum, und das kann man so nicht machen. Die CDU kann nicht fordern, wir müssen mehr in bestimmte Bereiche investieren, und gleichzeitig bei den Haushaltsberatungen der Koalition vorwerfen, sie spare zu wenig. Das passt vorn und hinten nicht zusammen.
Im Übrigen ist der Duktus Ihrer Rede, Frau Ahrens, so, dass Sie vortragen, irgendjemand hätte Schuld, insbesondere die Politik. So zu tun, als sei die Politik einzigartig in der Frage, wie man Armutsbekämpfung insbesondere bei Kindern hinbekommt, verkennt, dass Armut zuallererst eine Frage von Familienarmut ist. Die Kinder sind deswegen arm, weil die Eltern arm sind, und die Eltern sind deswegen arm, weil sie keine vernünftig bezahlten Jobs haben.
Darüber können Sie gern hinwegsehen. Ich glaube, dass es ein ganz enger Zusammenhang sein müss te. Im Grunde genommen könnten hier genauso gut der arbeitsmarktpolitische Mensch oder andere Fachpolitiker zur Armut reden. Es ist nicht einfach ein sozialpolitisches Thema, sondern ein gesamtge sellschaftliches, und das zumindest sagt auch die Bertelsmann-Stiftung.
„Allerdings hat kaum eine [Stadt] so mutig und sogar erfolgreich in die Zukunft investiert wie Bremerhaven. In Containerterminals, in Offshore-Windparks und
Tourismus. Etwa 8 000 neue Arbeitsplätze hat das gebracht. Viele denken bei Bremerhaven heute nicht mehr zuerst ans Armen –, sondern an das Klimahaus. Die Stadt hat im Goetheviertel die Schulen und den Jugendtreff modernisiert, hat Hebammen und Fami lienhelfer geschickt. Nur am Elend im Quartier hat das wenig geändert.“
Wenn man sich den Zuwendungsbericht einmal an schaut, wie viele Initiativen, wie viele Bereiche es gibt, die sich damit befassen, Teilhabe zu organisie ren – denn das ist die Hauptaufgabe, die Politik im Grunde genommen leisten kann!
Wir können nicht über die Frage des Mindestlohns hinaus irgendwelche Tarifverhandlungen durch führen. In Bremen arbeiten 45 000 Beschäftigte in Minijobs, 16 Prozent aller Arbeitnehmer arbeiten im Niedriglohnbereich, 15 000 Personen im SGB-II-Bezug sind erwerbsfähig. Wir haben Aufstocker. Wir haben alles Mögliche, um zu versuchen, den Menschen, die arm sind, zu helfen. Was wir aber in der Sozial politik vor allem tun, ist: Teilhabe organisieren. Da gibt es unzählige Initiativen, bei denen ich mich an dieser Stelle durchaus einmal bedanken will, weil das nämlich nicht nur hauptberufliche, sondern im Kern auch sehr viele ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer sind.
Sie lassen auch außen vor, dass durch die Flücht lingszuzüge sozusagen das Problem gewachsen ist. Nicht nur! Ich sage nicht, das ist das Problem der Flüchtlinge, aber es ist ein Teil der Wahrheit, dass sie mehr Jugendliche und Kinder haben, die im So zialhilfebezug sind.
Am Ende des Tages kann man sagen, dass wir noch eine Menge zu tun haben, und es wird, egal, wer immer hier im Hause regiert, ein Problem bleiben, das nicht schlankweg zu lösen ist. Da darf man sich aus meiner Sicht nichts vormachen. Das ist ein sehr langfristiges Problem, und es ist ein sehr schwieriges Problem. Dass Armut Auswirkungen auf die Lebens perspektiven von Kindern hat, ist allgemein bekannt, das weiß hier im Haus jeder.