Protocol of the Session on May 25, 2016

Sie schreiben zu Recht, dass das Recht auf Bildung in Europa für Geflüchtete häufig nicht umgesetzt wird. Ich möchte hinzufügen, das gilt auch für Deutschland und für Bremen. Sie schreiben berechtigterweise, dass Ungarn und Polen versuchen, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Ich möchte hinzufügen, auch in Russland und der Türkei gibt es Angriffe auf diese Grundrechte.

(Beifall DIE LINKE)

Sie schreiben richtigerweise, dass solidarische Asylregelungen wegen nationalstaatlicher Egoismen blockiert werden. Ich möchte hinzufügen, stattdessen werden in Europa Zäune hochgezogen und die Grundrechte Geflüchteter massiv verletzt.

Die Zunahme von Grundrechtsverletzungen hat mit Sicherheit auch etwas damit zu tun, dass Europa derzeit eher Zentrifugalkräfte entwickelt. Sie sind darauf schon eingegangen. Die Präsidentschaftswahl in Österreich und auch das anstehende Referendum um den Brexit sind Entwicklungen, die uns Sorge bereiten müssen. Die Anziehungskraft der EU hat extrem abgenommen. In der Folge findet die Fortentwicklung gemeinsamer und solidarischer Politik kaum noch statt. Das ist ein fataler Teufelskreis, denn nur durch die Stärkung und den Ausbau der sozialen Rechte und den Schutz der bürgerlichen Rechte kann die EU wieder mehr Zuspruch erlangen. Wir teilen deswegen die positive Position des Antrags hinsichtlich des aktuellen Kommissionsverfahrens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips im Fall von Polen, denn wenn ein EU-Mitgliedstaat die Grundrechte der Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, kann das nicht folgenlos bleiben.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Wir teilen selbstverständlich auch die Auffassung, dass die Grundrechte geschützt und umgesetzt werden müssen und dass der Senat dafür auf allen Ebenen eintreten sollte. Anlässe dazu finden sich genug in den 47 Unterzeichnerstaaten der EMRK.

Ich möchte an dieser Stelle aufgrund der Aktualität und wegen begrenzter Redezeit nur auf die Türkei eingehen. Die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit werden in der Türkei nicht mehr gewahrt. Wenn kritische Medienhäuser gestürmt, Journalis

ten für Jahre inhaftiert und Akademikerinnen und Akademiker angeklagt werden, kann auch der treueste Erdogan-Anhänger nicht mehr behaupten, dass dies unter die Meinungs- und Pressefreiheit falle.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Wer das Siedlungsgebiet einer ganzen Bevölkerungsgruppe und ethnischen Minderheit militärisch angreift, ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legt und dabei Hunderte Zivilisten umbringt, kann nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die Menschenrechte im eigenen Land zu schützen. Wer an der Grenze auf Schutzsuchende schießt oder sie zu Tausenden in Kriegsgebiete abschiebt, kann nicht mehr behaupten, sich an internationales Völkerrecht zu halten. Wenn der Ministerpräsident geschasst, Demonstranten verprügelt oder große Teile der Opposition kriminalisiert werden, wie jetzt mit der Immunitätsaufhebung der HDP-Abgeordneten, kann niemand mehr von Versammlungsfreiheit, politischen Rechten oder einer lupenreinen Demokratie sprechen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Kommen wir auf die praktische Konsequenz Ihres Antrags zu sprechen! Die Lage in der Türkei mögen wir vielleicht nicht ändern können. Wer aber für die Wahrung der Grundrechte eintritt, darf nicht in Zeiten massivster Grundrechtsverletzungen ein Abkommen zur Aufnahme Schutzsuchender abschließen. Die Türkei ist Unterzeichnerin der EMRK, bekommt dadurch aber den Freibrief, weiter Grundrechte verletzen zu können. Sie wird jenseits jeder Realität politisch geadelt als Partnerin beim Schutz der Menschenrechte. Obwohl die Menschenrechtsverletzungen aktuell weithin bekannt sind, haben die EU und auch die deutsche Bundeskanzlerin Erdogan mit diesem Abkommen in seinem Kurs bestärkt, ihn mit Milliarden unterstützt und sich selbst erpressbar gemacht.

Die logische Konsequenz aus der Antragsforderung, auf die Einhaltung der EMRK hinzuwirken, wäre daher die Forderung nach der Aufkündigung des EUTürkei-Deals. Unser Änderungsantrag drückt daher ergänzend zu Ihren guten Forderungen die Sorge über die Grundrechtssituation in der Türkei und über die Kontraproduktivität des Flüchtlingsabkommens aus. Wir bitten um Ihre Zustimmung zu dieser Konkretisierung und stimmen selbstverständlich auch Ihrem Antrag zu. – Danke schön!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Eckhoff.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man heute über die Europäische Union spricht, wenn man heute über

Europa spricht, neigen viele dazu, über die Probleme zu sprechen. Wie sah Europa vor hundert Jahren aus? Wir befanden uns im Ersten Weltkrieg. Wie sah Europa vor 75 Jahren aus? Wir befanden uns im Zweiten Weltkrieg. Wenn man sich geschichtlich zurückerinnert, muss man sagen, wir sind mit der EU und Europa weit vorangekommen. Die friedenssichernden Maßnahmen der EU in Europa haben uns die längste Friedensperiode auf diesem Kontinent gesichert, und das ist auch gut so!

(Beifall)

Ich hatte das Glück, mit meiner Urgroßtante und meiner Urgroßmutter viel über den Zweiten Weltkrieg und auch noch über den Ersten Weltkrieg reden zu können. Meine Urgroßtante hat ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren und den Sohn im Zweiten Weltkrieg. Solche Zustände waren in Deutschland keine Ausnahme.

Deshalb finde ich es so ärgerlich, dass wir, wenn wir heutzutage über Europa und auch über die Europäische Union sprechen, das Projekt häufig auf wirtschaftliche Kennzahlen reduzieren, dass wir nicht darüber sprechen, was zum Beispiel in den letzten Jahren zwischen Deutschland und Frankreich möglich gewesen ist: Wer hätte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren vorstellen können, dass wir diese tiefe deutsch-französische Freundschaft im Herzen Europas erleben dürfen?

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, FDP)

War der Weg der letzten 70 Jahre bis heute ein leichter Weg in Europa? Nein! Es gab immer wieder Krisen. Das fing in den Fünfzigerjahren an, dass man sich darüber auch in Deutschland Gedanken machte und wir eine intensive Diskussion über die Wiederbewaffnung geführt haben. Es war in den Sechzigerjahren, als es ein Veto Frankreichs gegen den Beitritt Großbritanniens gab. Es ging in den Siebzigerjahren über die Möglichkeiten der Schaffung einer gemeinsamen Währung bis in die Neunzigerjahre, als im Endeffekt durch den Zusammenbruch des Ostens eine neue europäische Ordnung hergestellt worden ist.

Wenn man sich all diese Veränderungen anschaut, so wissen wir, dass wir immer mit Herausforderungen in diesem europäischen Prozess zu kämpfen haben. Jawohl, es lohnt sich, sich dann, wenn es schwierig wird, für Europa einzusetzen und zu kämpfen.

(Beifall)

Wir haben ja das Glück, dass wir als Deutsche sogar noch eine ganze Reihe wirtschaftlicher Vorteile durch die Europäische Union und auch durch die gemeinsame Währung der Eurostaaten ziehen können. Das

muss man auch all denen sagen, die bis hin zu Bekannten und Verwandten, die wir, glaube ich, alle haben, häufig sagen: Mensch, unter der D-Mark oder früher war alles besser!

In Deutschland hängt heutzutage jeder zweite Arbeitsplatz von der Europäischen Union ab. Unser Wohlstand baut ganz wesentlich auf der Europäischen Union auf. Das müssen wir auch den Kritikern immer wieder entgegenhalten.

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, FDP)

Natürlich brauchen wir Antworten auf die aktuellen Fragen. Das war auch der Grund, dass wir, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, gesagt haben, wir wollen Ihren Antrag etwas erweitern, wir wollen ein paar zusätzliche Aspekte aufrufen. Zu diesen Punkten gehört natürlich im Moment, dass die Freizügigkeit ganz gefährdet ist. Wir bekennen uns ganz eindeutig zur Freizügigkeit. Ich glaube, gerade für das Verständnis der Menschen ist diese Freizügigkeit der wesentliche Grundpfeiler der Europäischen Union.

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Wir brauchen gemeinsame Antworten in der Flüchtlingspolitik. Die Antworten aber müssen gemeinsame sein. Es kann nicht sein, dass zwei oder drei Staaten aufnehmen und sich die anderen 25 Staaten einen schlanken Fuß machen. Die Vereinbarungen, die innerhalb der EU dazu getroffen worden sind, sind einzuhalten, und darauf müssen wir im Dialog auch drängen.

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Wir haben in unserem Antrag weitere Punkte angesprochen. Das jetzt alles zu debattieren, würde uns hier zu weit führen und auch meine Redezeit deutlich überschreiten.

Die ist vorbei!

Es blinkt aber noch gar nicht, Herr Präsident!

Ist schon ausgegangen!

Das ist schon ausgegangen? Ich dachte, es blinkt vorher mehrfach, und dann ist die Redezeit beendet. Aber lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende führen! Wir tun als Deutsche gerade auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte, wenn wir jetzt in Osteuropa Situationen feststellen, die uns nicht zufriedenstellen, die keinen von uns hier zufriedenstellen – Verletzungen bei der Medienfreiheit, Verletzungen bei der Justiz, Verletzungen von Grund

rechten der Bevölkerung –, nicht gut daran, wenn wir den moralischen Zeigefinger erheben.

Wir müssen mit diesen Staaten in den Dialog treten. Wir müssen bei jeder Gelegenheit versuchen – ob es Städtepartnerschaften sind, ob es Wirtschaftsbeziehungen sind, ob es direkte verwandtschaftliche Kontakte sind, die es ja heutzutage auch häufig gibt –, für die nach unserer Auffassung richtigen Positionen um Zustimmung zu werben. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, die Deutschen wissen es sowieso besser. Das kommt in den Ländern nicht an, und das wird den Einigungsprozess Europas nicht erleichtern.

Vor diesem Hintergrund ist es auch ganz wichtig, dass wir natürlich in unserer Bevölkerung –

(Glocke)

sofort, Herr Präsident! – dafür werben, und wir gerade auch an den Schulen dafür sorgen, dass die jungen Menschen heutzutage auf den Stand der Dinge gesetzt werden, damit sie sozusagen unsere wichtigsten Botschafter werden. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass unser Antrag doch eine breite Zustimmung bekommen hat, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort Frau Dr. Müller.

Herr Präsident! Ich wollte ein Argument in der zweiten Runde noch einmal deutlicher machen: Wenn ich überregionale Zeitungen lese, lese ich zu viel Kritik an dem System Europäische Union. Die EU ist an allem Möglichen schuld. Vor allem in der einen oder anderen Debatte in den letzten Wochen der Bremer Europawochen ist von dem massiven Demokratiedefizit der Europäischen Union die Rede gewesen. Ich muss ehrlich sagen, mich ärgert das immer wieder. Ja, die Europäische Union hat, wenn man es formal an nationalstaatlichen Systemen misst, ein Legitimationsdefizit. Demokratiedefizite sehen wir meiner Meinung nach vor allem in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, nämlich dann, wenn sie Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger verletzen. Dann sind sie undemokratisch.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Deshalb – so sehr ich die Mahnung von Herrn Eckhoff unterstütze, dass wir in einen Dialog miteinander treten müssen; ich bin absolut dabei – sind die nationalen Praxen in den einzelnen Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene natürlich von besonderem Interesse, die eine Kontrollfunktion darüber wahrnehmen müssen und sollen, was in den Mitgliedstaaten passiert. Deshalb ist also mehr Europa, eine engere Zu

sammenarbeit, ein engerer Dialog auch zwischen den Mitgliedstaaten notwendig und nicht weniger Europa, wie man es manchmal liest und hört. Deshalb müssen wir mehr auch womöglich über kontrollierende und sanktionierende Maßnahmen nachdenken und sprechen und uns gemeinsam überlegen, was denn ein kontrollierendes Instrument sein könnte, das nicht in nationale Souveränität eingreift. Wir brauchen mehr europäische Standards und eine stärkere Europäisierung, um den Grundrechteschutz und die Grundrechte in den Mitgliedstaaten zu wahren.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Aktuell dominiert, nicht nur in Deutschland, aber auch hier massiv, und in vielen anderen Mitgliedstaaten die Politik der Angst die öffentliche Meinung: Angst vor Zuwanderung, Angst vor Religionen, Angst vor Terroranschlägen, Angst vor Wohlstandsverlust und schließlich auch Angst vor Europa statt Mut mit Europa. Zum Abschluss der, wie ich finde, hervorragenden Europawoche in Bremen möchten meine Fraktion und ich deutlich machen, dass wir gewillt sind, gegen diese Angstmacherei zu streiten.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)