Protocol of the Session on April 20, 2016

(Beifall CDU – Abg. Zicht [Bündnis 90/Die Grünen]: Das sagt er doch gar nicht!)

Zu Ihrem Gesamtkontext, den Sie immer wieder ins Feld führen: Böhmermanns Annahme, dass er sich durch diese Distanzierungsformel quasi den strafrechtlichen Konsequenzen entziehen kann, ist aus meiner Sicht fast schon eine kindliche Naivität. Wenn es so einfach wäre, könnte sich ja jedermann in gleichgelagerten Fällen einen rechtsfreien Raum schaffen, indem etwa jeder Antisemit oder Nazi einfach so eine Distanzierungsformel voranstellt und sagt: „Liebe Juden, das, was jetzt kommt, darf man nicht“, und dann seine Hasspredigt hält. Das geht

zum Glück in Deutschland nicht, meine Damen und Herren, und soll auch nicht gehen!

(Beifall CDU)

Es geht in dem vorliegenden Fall auch nicht um die Causa Böhmermann oder Erdoğan. Man stelle sich einmal vor, dass demnächst ein Idiot auf die Idee kommt, im selben Duktus und Modus über Netanjahu oder Obama zu sprechen! Die Bundesregierung wäre angehalten, in gleicher Form zu entscheiden, wie sie jetzt beim Böhmermann-Fall entschieden hat. Hätte sie Nein gesagt, müsste sie auch Israel gegenüber – –.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Es reicht doch, dass man als Privatmann spricht!)

Das wäre für Deutschland wahrlich eine schwierige Sache. Deswegen hat die Bundeskanzlerin gegen die Stimmen der SPD-Minister mit der Kraft Ihrer Richtlinienkompetenz in der Sache nicht nur richtig gehandelt, sondern auch weitsichtig.

(Beifall CDU)

Sie hat nämlich richtigerweise erkannt, dass es hier nicht um einen Einzelfall geht, sondern es geht um die Klärung –

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

nein, ich muss weitermachen, nur fünf Minuten! – des Maßstabes dessen, was Satire darf und was sie nicht darf. Diese schwierige rechtliche Fragestellung hat sie der unabhängigen Justiz übertragen. So funktioniert Gewaltenteilung, und das ist Rechtsstaat.

(Beifall CDU)

Das ist eben keine Sonderbehandlung von Staatsoberhäuptern.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Warum darf ich mich als Staatsmann mehr beleidigt fühlen als als Privatmann?)

Das ist keine Sonderbehandlung von Staatsoberhäuptern, sondern das ist einfach nur Anwendung des deutschen Gesetzes. Solange Paragraf 103 in Deutschland in Kraft ist, muss er auch angewendet werden. Alles andere ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar.

(Beifall CDU – Zurufe)

Jetzt haben Sie mich so viel zum Quatschen gebracht! Ich komme einfach zum Schluss: Die Frage,

ob nun das Gedicht von Böhmermann die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreitet, bleibt offen und wurde jetzt den Gerichten übertragen. Wer die Frage verneint und der deutschen Justiz vertraut, kann dem Prozess ja gelassen entgegensehen, und wer Zweifel daran hat, kann auf Klärung hoffen. Das ist gut so in einem Rechtsstaat. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Als nächste Rednerin hat das Wort Frau Vogt zu einer Zwischenintervention.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es geht doch im Prinzip darum, dass wir ein Strafgesetzbuch haben, in dem zwei Paragrafen stehen, die bestimmten Personen tatsächlich ein besonderes Recht einräumen. Das ist doch der Anachronismus und aus der Zeit gefallen!

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Das ist der Anachronismus, und deswegen ist es wichtig – darauf bezieht sich der Antrag –, diese beiden Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Wenn Herr Erdoğan eine private Strafanzeige stellt oder privat ein zivilrechtliches Verfahren einleitet, was er jetzt ja gemacht hat, dann ist das ausreichend. Dann können deutsche Gerichte darüber entscheiden, ob der Tatbestand der Beleidigung erfüllt ist. Das ist doch das, weshalb die FDP diesen Antrag gestellt hat und weshalb wir gesagt haben, wir unterstützen ihn. Sonderparagrafen brauchen wir an dieser Stelle nicht; es gibt keinen Grund dafür. – Vielen Dank!

(Beifall DIE LINKE, SPD; FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Dogan.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren! Ich habe gemerkt, es sind so ein bisschen Irritationen entstanden, und deswegen ist es, glaube ich, ganz gut, dass ich einiges rechtlich aufkläre, was meine Vorrednerinnen und Vorredner gesagt haben. Zunächst einmal möchte ich für die grüne Fraktion erklären, dass wir uns darüber gefreut haben, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben. Wir werden ihn unterstützen, zumal wir als Bundestagsfraktion auf Bundesebene auch einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht haben.

Dieser Tatbestand des Paragrafen 103 StGB geht auf die Majestätsbeleidigung zurück, die sich im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches von 1871 findet, also noch aus dem Kaiserreich stammt und das Recht monarchistischer Oberhäupter schützte. 1953 fand die Vorschrift zurück in das bundesdeutsche Strafgesetzbuch und soll seither Organe und Vertreter ausländischer Staaten schützen. Als Besonderheit

kommt hinzu, dass eine Straftat nach Paragraf 103 Strafgesetzbuch unter anderem nur verfolgt wird, wenn die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt. Das heißt nicht, dass sie sie erteilen muss, Herr Dr. Yazici!

Um das noch einmal zusammenzuführen: Der Paragraf 103 Strafgesetzbuch, das hat Frau Vogt richtigerweise gesagt, sieht mit einer Höchststrafe von drei oder fünf Jahren ein unverhältnismäßig hohes Strafmaß vor

(Abg. Hinners [CDU]: Wer beurteilt das?)

ganz ruhig! – verglichen mit dem Strafmaß für eine Beleidigung eines normalen Bürgers nach Paragraf 185 Strafgesetzbuch, der für alle Bundesbürger hier in Deutschland gilt, denn danach droht eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.

Die Schwierigkeiten, die im Fall Erdoğan-Böhmermann aufgetreten sind, sind nicht erstmalig in Deutschland aufgetreten. Eine meiner Vorrednerinnen hat darauf Bezug genommen: In den Sechzigerjahren hat dieser Paragraf 103 Strafgesetzbuch auch für Aufsehen gesorgt, wobei er den Beinamen Schah-Paragraf bekommen hat, weil sich der Schah von Persien mehrfach darauf berief. Er fühlte sich damals von Studenten beleidigt, und die damalige Bundesregierung, in persona der Bundesinnenminister, ist nach Teheran gereist und brachte damals den Schah dazu, das Strafverlangen zurückzuziehen.

Angesichts dieser Historie aus vordemokratischen Zeiten und – das eint uns seit Freitag – nachdem auch die Bundesregierung erklärt hat, dass sie diesen Paragrafen abschaffen will, ist eine Streichung unumgänglich. Ich halte fest, das ist eine gute Nachricht für Deutschland.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP)

Dann bleibt der Paragraf 185 Strafgesetzbuch übrig. Darüber kann auch Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter geahndet werden. Insoweit gibt es in unserem Strafgesetzbuch keine Strafbarkeitslücke.

Ihre Bewertung, Herr Dr. Yazici, fand ich ein bisschen unglücklich. Ob der Tatbestand einer Beleidigung erfüllt ist oder der Vorgang zum Beispiel durch die Meinungs- oder Kunstfreiheit geschützt ist, ist in unserem Rechtsstaat Sache der Strafverfolgungsbehörden und der unabhängigen Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Ich erkläre heute, dass ich wie viele andere in unserem Rechtsstaat großes Vertrauen in unsere unabhängige Justiz habe, und ich bin froh, dass ich hier in einem Rechtsstaat lebe.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP)

Weil dieser Paragraf mit einer modernen Demokratie nicht mehr zusammenpasst, sind wir für dessen Abschaffung.

Was ist am Freitag passiert? Die Bundeskanzlerin hat die Ermächtigung gemäß Paragraf 104a erteilt, damit ermittelt werden kann.

(Abg. Güngör [SPD]: Die Bundesbehörden sind ja zuverlässig! Ich sage nur NSU!)

Das bedeutet nicht automatisch, wie es in der Presse rübergekommen ist, dass das eine Vorverurteilung von Herrn Böhmermann darstellt, sondern sie hat nur den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit gegeben, dass ermittelt werden kann. Das kann sie auch, das muss man ganz deutlich sagen. Das regelt unser jetziges Strafgesetzbuch. Von den einen ist das als rechtsstaatlich begrüßt worden.

Es wird spannend, bis zu welchem Zeitpunkt dieser Paragraf durch die Bundesregierung, die sich dahin gehend geäußert hat, gestrichen wird. Rechtlich würde es, wenn er in einem Jahr, bis zum Ende der Legislaturperiode, auf Bundesebene durch die Bundesregierung abgeschafft werden würde, dazu führen, dass Paragraf 2 Absatz 3 unseres Strafgesetzbuches Anwendung findet. Der besagt, wenn es zum Zeitpunkt der Entscheidung kein Gesetz gibt, dann ist das mildeste Gesetz anzuwenden, also auch gar kein Gesetz, sodass Herr Böhmermann nach dieser Norm trotz der Ermächtigung straffrei herauskommen könnte. Wir alle wissen nämlich, dass Paragraf 185 meistens eingestellt wird. Auf dem Privatklageweg hätte Herr Erdoğan diese rechtliche Möglichkeit.

Einige kritisieren das Verhalten von Frau Merkel, und zwar, weil es den Flüchtlingsdeal mit der EU gibt –

(Abg. Bensch [CDU]: EU-Flüchtlingsabkommen! EU! Europäische Union!)

ja, Herr Bensch! Frau Vogt, Sie haben auch darauf Bezug genommen! – und weil es in der Türkei außenpolitisch anders wahrgenommen wird. Es gibt gute Gründe, das abzulehnen. Politisch kann ich das verstehen, aber aus juristischer Sicht hat Frau Merkel alles richtig gemacht. Beide Gründe und Darstellungen kann man mit guten Argumenten nachvollziehen. Darüber sollten wir uns nicht streiten. Die gute Botschaft ist, dass dieser Paragraf abgeschafft wird.

Ich würde mich freuen, wenn gleichzeitig Paragraf 90 Strafgesetzbuch abgeschafft wird, in dem es um die Verunglimpfung unseres Bundespräsidenten geht, der auch aus vordemokratischen Zeiten gilt. Ich habe wahrgenommen, dass einige Kollegen von der CDU und der SPD auf Bundesebene das genauso sehen, aber die Bundesregierung hat sich bisher dahin gehend nicht positiv geäußert – was ich mir wünschen würde, wenn man das schon bei Paragraf 103 merkt. Warum soll ein ausländisches Staatsoberhaupt anders behandelt werden als der Bundespräsident Deutschlands? Das ist für mich argumentativ nicht haltbar. Deswegen unterstützen

wir die Prüfung. Aber wir Grüne erklären, dass wir für dessen Abschaffung sind.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Deutschland ist ein Rechtsstaat, in dem Kunst‑, Presse- und Meinungsfreiheit im Grundgesetz verankert sind. Diese Grundrechte sind ein hohes Gut, auf das wir alle stolz sein können. Ob Meinungsbeiträge zu weit gehen, andere beleidigen oder deren Ehre verletzen, müssen bei uns im Streitfall Gerichte klären, und dank der Gewaltenteilung ist die Justiz unabhängig von jeder Regierung. Das hat auch die Entscheidung unserer Bundesregierung gezeigt, denn bei uns entscheidet nicht eine Bundesregierung – egal, wer im Bund regiert – über einen Fall, sondern die unabhängige Justiz.

(Glocke)

Ich komme zum Schluss! – Herr Dr. Yazici, natürlich habe ich mit sehr vielen Menschen darüber geredet, die keine Erdoğan-Fans sind, auch Türkischstämmige, die sich von dieser Schmähkritik von Herrn Böhmermann beleidigt gefühlt haben und sie als rassistisch empfunden haben. Das haben nicht nur Türkischstämmige, sondern auch viele Deutsche mir gegenüber geäußert. Dennoch ist es wichtig, es wäre ein deutliches Zeichen von der Bremischen Bürgerschaft setzen, dass wir alle diesen Antrag unterstützen, dass wir froh sind über unseren Rechtsstaat, dass wir froh sind über die Gewaltenteilung und dass jeder in Deutschland, unabhängig davon, ob er Journalist oder normaler Bürger ist, ein faires rechtsstaatliches Verfahren erwarten kann. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP)