Protocol of the Session on January 21, 2016

Meine Damen und Herren, bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, begrüße ich recht herzlich auf der Besuchertribüne einen Politikkurs der neunten Klasse der St.-Johannis-Schule.

Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Leonidakis.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir relativ sicher, Frau Merkel wird mit dem Satz „Wir schaffen das!“ in die Geschichtsbücher eingehen. Ich hätte mir vor einem Jahr noch nicht träumen lassen, dass eine konservative Kanzlerin Flüchtenden an der Grenze nicht die Dublin-Verordnung vor die Nase hält und „Sie kommen nicht in das Land hinein“ sagt, sondern Menschlichkeit walten lässt. Dieser Akt der Menschlichkeit war ein richtiger Schritt, meine Damen und Herren!

(Beifall DIE LINKE, SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen)

Ich bin froh, dass auch über Fluchtursachen gesprochen wird. Im Rathaus hat Paul Mecheril beim Senatsempfang von Fluchtursachen gesprochen, und ich bin froh, dass er dabei auch unsere eigene Verantwortung erwähnt hat. Es muss noch ein bisschen darüber nachgedacht werden, was wir mit den Fluchtursachen zu tun haben, Stichworte Rüstungsstandort Bremen, Rüstungshochburg Bremen. In diesem Bereich fängt es auch an, schwierig zu werden, zwischen legitimen und illegitimen Fluchtgründen zu unterscheiden, denn mit den allermeisten Flüchtgründen haben wir irgendetwas zu tun,

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

sei es durch Rüstungsexporte, sei es durch die Handelspolitik, sei es durch unfaire Handelsabkommen, oder sei es durch den Klimawandel.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Das nur als meine grundsätzliche Vorbemerkung zur Flüchtlingspolitik!

Durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin wurde verhindert, dass noch mehr Flüchtende in den vorgelagerten Ländern obdachlos und ohne wirklichen Schutz in Parks stranden. So stelle ich mir Europa vor, das doch immer wieder seine Werte vor sich herträgt. Stattdessen werden diese angeblichen Werte aber in vielen europäischen Hauptstädten im entscheidenden Moment nicht anwendet. Das ist schade, und das ist bitter.

Ich glaube, darin sind wir uns alle einig, aber es entbindet Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land nicht von seiner Verantwortung. Dieser Verantwortung ist Merkel gerecht geworden. Sie muss sie jetzt aber auch umsetzen. Den Worten müssen die entsprechenden Taten folgen. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass der Bund noch mehr leisten kann. Wir hatten gestern eine interessante Debatte, in der das Stichwort Vermögenssteuer gefallen ist. Ich finde, das geht in die richtige Richtung.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Im Grunde steht der Senat – er zwar nicht allein, aber vor allen Dingen der Senat – jetzt vor der doppelten Aufgabe, rund 12 000 zusätzliche Bremerinnen und Bremern die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte ausbügeln. Davon gibt es einige, angefangen bei der Privatisierung der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften über das Manövrieren der öffentlichen Verwaltung an den Rand der Handlungsunfähigkeit durch Jahrzehnte des Personalabbaus mit den PEP-Quoten

bis hin zu einer nach wie vor nicht bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur in Kitas, Schulen, in ärmeren Stadtteilen oder auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.

Bis jetzt haben sich in Bremen Tausende Ehrenamtliche engagiert. Bei vielen erlebe ich, dass sie ganz neue Erfahrungen machen. Viele sind zum ersten Mal mit Geflüchteten in Kontakt geraten. Sie haben von ihnen erfahren, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Die Menschen, mit denen ich rede, erleben das als Bereicherung.

(Beifall DIE LINKE)

In den letzten Monaten haben viele Ehrenamtliche und Hauptamtliche wirklich alles gegeben. Ihnen gebührt dafür großer Respekt.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Ich möchte hier auch einmal sagen: Sozialsenatorin Stahmann hat, glaube ich, fast alles in Bewegung gesetzt, was möglich gewesen ist. Es gibt Versäumnisse, Stichworte sind volle Zelte, leere Häuser. Sie haben das Beschlagnahmegesetz zwar beschlossen, jedoch nicht angewendet, aber im Großen und Ganzen war und ist Sozialsenatorin Stahmann eine Senatorin, der man sicher keine Untätigkeit vorwerfen kann.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Unsicherer bin ich mir bei anderen Ressorts. Es ist nicht allein die Aufgabe der Sozialsenatorin, 12 000 zusätzliche Bremerinnen und Bremer aufzunehmen. Mit der Aufnahme meine ich nicht ein Zelt oder eine Turnhalle über dem Kopf. Es besteht doch die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Inklusion zu ermöglichen, und da sind wir ganz schnell bei den anderen Ressorts.

Mit dem jetzt diskutierten Integrationskonzept entsteht endlich einmal der Eindruck, dass sich der Senat zusammengesetzt und die Problematik ressortübergreifend beraten hat. Das war ja bisher nicht immer der Fall. Ich habe in einer der letzten Sitzungen vom Bausenator-Schlafmodus gesprochen. Während bei Soziales eine Art Bauabteilung entstand, tat sich im Bauressort lange Zeit überhaupt nichts. Jetzt ist man aufgewacht und hat gemerkt, dass die Stadt wächst.

Der Bedarf war zwar schon vor Jahren erkennbar, und es war auch deutlich, dass der bestehende Bedarf nicht befriedigt worden ist, aber gut, jetzt legen Sie – immerhin – einen konkreten Plan vor. Es sollen bis 2017 5 500 Wohneinheiten entstehen, und zwar 2 000 in Massivbauweise und 3 500 in Holzrahmenbauweise, nötig wären allerdings 9 000 Wohnungen. Das heißt, es werden gerade einmal 60 Prozent des Bedarfes gedeckt, von dem Sie selbst ausgehen.

Im Kita-Bereich gibt es immerhin eine Hausnummer, die den angenommenen Bedarf abbildet, aber hier muss man sich an den Taschenrechner setzen. Die Lösungen sind leider nicht zufriedenstellend. Ein Drittel der Kinder soll in bestehenden Einrichtungen untergebracht werden. Das ist kaum noch möglich. Diese Auffassung vertreten auch Elternvertreter und Beschäftigte.

(Beifall DIE LINKE)

Ein Drittel entspricht 465 Kindern, die in die bestehenden Einrichtungen aufgenommen werden sollen. Jeder, der einmal eine Kita besucht hat, weiß, wie es sich anfühlt, mit vielen Kindern die Zeit in kleinen Räumen zu verbringen und keine Ausweichräume zur Verfügung zu haben. Viele Einrichtungen platzen jetzt schon aus allen Nähten. Das Gleiche gilt für die Spielkreise.

Übergangsweise könnte man stattdessen die Kinderbetreuung in den Übergangswohnheimen professionalisieren. Dort, wo Modulbauten aufgestellt werden, kann man auch Räumlichkeiten für die Kinderbetreuung bereitstellen und professionelle Betreuung für geflüchtete Kinder und Nachbarkinder anbieten.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Und das ist dann Integra- tion?)

Ich habe „übergangsweise“ gesagt, Herr Dr. Buhlert!

Gleichzeitig muss die Kita-Ausbauplanung maximal schnell angepasst werden. Wenn man sich die Mühe macht und die Senatszahlen umrechnet, dann besteht bis zum Jahr 2017 ein zusätzlicher Bedarf von 21 Kitas mit jeweils sechs Gruppen. Wir sind zwar für eine möglichst schnelle Aufnahme in die Regelsysteme, Herr Dr. Buhlert, aber nicht nach dem Motto „Rückt einmal alle ein bisschen zusammen!“. Das ist in vielen Kitas und an vielen Schulen schlichtweg nicht mehr möglich, ohne dass es zu extremen Einschnitten in die Betreuungs- und Unterrichtsqualität und bei den Arbeitsbedingungen kommt.

(Beifall DIE LINKE)

Schauen wir uns die Schulen an! Nach unserer Berechnung sind 300 zusätzliche Klassenverbände bis zum Jahr 2017 nötig. Das ist zugegebenermaßen eine große Herausforderung. Die Schulen haben bereits eine enorme Integrationsleistung erfüllt, vor allem in den sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen. Sie haben neue Schülerinnen und Schüler im Umfang von rechnerisch 29 Klassenverbänden oder fünf zusätzlichen Schulen aufgenommen. Das schreiben Sie in Ihrem Konzept. Dafür gebührt ihnen großer Respekt. Weitere „Standardanpassungen“ – so steht es in Ihrem Konzept, mich erinnert diese Wortwahl an das Wort „Strukturmaßnahmen“, das im Zusammenhang

mit Griechenland benutzt worden ist – sind in diesem Bereich aus unserer Sicht nicht möglich.

(Beifall DIE LINKE)

Sie gehen davon aus, dass Geflüchtete vor allem in benachteiligten Quartieren Wohnraum finden. Das hat zur Folge, dass die Schulen dort jetzt endliche zwei Lehrkräfte pro Klasse zugewiesen bekommen müssen, damit die zusätzlichen Anforderungen bewältigt werden können. Das Senatskonzept enthält zu diesem Komplex keine Aussage. Insgesamt wird auf Zeit gespielt und mit der Geduld der Schulen gepokert, die irgendwie mit den zusätzlichen Schülerinnen und Schülern zurechtkommen sollen. Das ist aus unserer Sicht kein Konzept!

(Beifall DIE LINKE)

Im Bereich Ausbildung hält sich der Senat gar nicht erst mit Zahlen auf. Es liegen keine Schätzungen vor, wie viele geflüchtete Jugendliche Ausbildungsplätze brauchen werden. Wir wissen aber, dass ohnehin 12 000 Ausbildungsplätze fehlen. Wir können davon ausgehen, dass bei 700 minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen einige Ausbildungsplätze fehlen werden. Diese Zahl erhöht sich um diejenigen, die in absehbarer Zeit die Schulen verlassen, einen Ausbildungsplatz suchen, jedoch keinen finden.

Die im Jahr 2015 gewonnenen zusätzlichen 305 Ausbildungsplätze reichen nicht aus, das wissen wir. Es ist gut, dass die Senatorin für Finanzen die öffentlichen Kapazitäten für die Einstiegsqualifizierung um 100 Plätze erhöht hat. Wir halten es allerdings für möglich, dass der größte Arbeitgeber im Land die Kapazitäten für die Einstiegsqualifizierung über die 100 Plätze hinaus erhöht.

(Beifall DIE LINKE)

Aus der Antwort des Senats auf unsere Kleine Anfrage meiner Kollegin Frau Strunge ist deutlich geworden – die Kleine Anfrage ist am Dienstag beantwortet worden –, dass es circa 3 000 Betriebe in Bremen gibt, die bereits ausgebildet haben, aber derzeit von einer Ausbildung absehen. Es wäre schön, wenn man sich mit diesen 3 000 Betrieben noch einmal darüber in Verbindung setzte, welche Unterstützung sie bräuchten, um wieder auszubilden. Sie haben es ja schon gemacht und besitzen die Erfahrung dazu, daran könnte man anknüpfen.

(Beifall DIE LINKE – Glocke)

Auch beim Thema Arbeitsmarkt sind wir uns einig, dass in dem Bereich einiges geschehen muss. Es wurden jetzt 200 000 Euro zusätzlich ins Beschäftigungspolitische Aktionsprogramm eingestellt, und ich hoffe, dass in dem Zusammenhang bei den Haushaltsver

handlungen noch mehr Mittel herauskommen werden, und dass es ebenso neue Konzepte gibt, wie man auch berufsbegleitende Qualifizierungen für Geflüchtete in den Bereichen organisieren kann,

(Beifall DIE LINKE)

in denen jetzt neue Jobs geschaffen werden, nämlich in der sozialen Arbeit oder auch im Baugewerbe, bei Übersetzungen oder sogar perspektivisch im DaZ-Bereich, Deutsch als Zweitsprache.

(Beifall DIE LINKE)

Zusammengefasst kann ich sagen, von dem Konzept hätten wir uns ein bisschen mehr höher, schneller und weiter erhofft, und vor allem etwas konkreter. Frau Stahmann, Sie haben eben gesagt, das Konzept atmet. Kollegin Grönert ist schon darauf eingegangen, dass es etwas viel Atmen und wenig Konkretes gibt. Wir hoffen, dass wir im Zuge der Haushaltsberatungen das alles mit greifbaren Maßnahmen und vor allem mit konkreten Mitteln unterlegt wiederfinden, und wir werden uns dann erneut darüber unterhalten. – Danke schön!

(Beifall DIE LINKE)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Frau Dogan.