Protocol of the Session on January 20, 2016

Ich selbst würde mir wünschen, dass wir diese Berichte künftig mehr fachpolitisch diskutieren. Es sind nämlich nicht nur sozialpolitische Themen zu behandeln. Es geht um Arbeitsmarktpolitik, um Wirtschaftspolitik, es geht eigentlich auch um Bildungs- und Gesundheitspolitik. Es sind alle Bereiche betroffen. Jedes Mal stehe ich als sozialpolitischer Sprecher im Grunde genommen am Ende der Kette hier und muss diesen Bericht diskutieren. Mit „am Ende der Kette“ meine ich, sozialpolitisch wird es immer dann interessant, wenn es wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht funktioniert hat. Wir sind dann sozusagen die letzte Instanz, die versuchen muss, Teilhabe zu organisieren.

Sozialpolitik kann die Menschen nicht reicher machen. Das ist gar nicht zynisch gemeint. Was sie aber kann, und was wir meiner Meinung nach unbedingt versuchen müssen hinzubekommen, ist, Teilhabe zu organisieren. Wenn man sich diesen Bericht genau unter diesem Gesichtspunkt anschaut, stellt man fest, es gibt ein unglaublich engmaschiges und über die ganze Stadt verteiltes Netzwerk von Möglichkeiten, um Teilhabe zu organisieren.

Bei aller Kritik, die ich von der CDU erwarte, wonach man vielleicht noch etwas mehr tun könnte, sage ich, auf dieses Netzwerk kann man durchaus stolz sein. Das ist eine Mischung aus hochprofessionellen Angeboten, gepaart mit ehrenamtlichem Engagement.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Ich glaube, dass genau diese Mischung auch nötig ist. Es ist nicht nur Staatshandeln gefordert. Es ist auch ehrenamtliches Engagement ganz vornan zu stellen.

(Beifall SPD)

Ich sage noch zu ein paar Punkten etwas. Mit eines der besten Förderprogramme ist das WiN-Förderprogramm „Wohnen in Nachbarschaften“. Es gibt sicherlich Diskussionsbedarf in dem Bereich, weil die einen oder anderen Projekte, die ich hier als richtig nützlich vorstelle, vielleicht nicht genau diejenigen sind – –. Das gibt es in fast jedem Bereich. Aber die meisten Projekte in WiN sind sehr erfolgreich. Ohne diese WiN-Projekte hätten wir insbesondere in den Stadtteilen, in denen die sozialen Verhältnisse ohnehin deutlich schwieriger sind, noch größere Probleme als wir sie jetzt schon haben.

(Beifall SPD)

Genau in den WiN-Gebieten gibt es auch den sehr preiswerten Wohnraum. Das führt natürlich auch dazu, dass sehr viele unserer Neubremerinnen und bremer, sehr viele Flüchtlinge, die sich bei uns ansiedeln, zunächst einmal in diesem Stadtteil landen werden. Das bedeutet, dass genau in diesen Bereichen aber auch die Aufgaben massiv ansteigen, und zwar nicht

nur für die Kitas und nicht nur für die Schulen, sondern auch für die Begegnungsstätten, für die Bürgerhäuser und für die Jugendfreizeitheime. Für alle diese Bereiche werden die Aufgaben deutlich erhöht. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, in den Haushaltsberatungen gerade für diese Bereiche möglicherweise die nötige Aufstockung hinzubekommen.

(Beifall SPD)

Ein Bereich, der mir auch selbst sehr am Herzen liegt, ist die Frage der Bildung. Wir sagen immer, Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich glaube, das ist auch so. Ich sage aber aus meiner sozialpolitischen Sicht, ein Schlüssel muss auch in ein Schloss passen. Wir haben häufig Situationen, in denen Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder komplett überfordert sind. Die Kinder in diesen Elternhäusern haben von vornherein deutlich schlechtere Chancen als Kinder, die in behüteten, in guten Elternhäusern aufwachsen. In den Bereichen sehe ich ganz deutlich, dass der Staat die Aufgabe hat, für diese Kinder etwas zu tun. Das kann nicht nur Familienhilfe sein.

Über 600 Kinder mussten in Obhut genommen werden, weil die Familien nicht in der Lage waren, auch nur annähernd gut mit ihren Kindern umzugehen. Manche Dörfer haben nicht mehr Einwohner! Ich sage dies nur, weil man immer glaubt, das hat nicht so viel mit Armut zu tun. Doch, genau! Da wird aus meiner Sicht die Armut schon ganz früh in die Wiege gelegt. Das darf man auf gar keinen Fall zulassen und hinnehmen. Da ist staatliches Handeln aus meiner Sicht eine ganz wichtige Frage, insbesondere wenn es um Armutsbekämpfung geht.

(Beifall SPD)

Ohne diskriminierend oder despektierlich zu sein, es gibt auch einen Bereich von Menschen, die für den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr geeignet sind.

(Abg. Fecker [Bündnis 90/Die Grünen]: Das stimmt!)

Das heißt also, man muss ganz klar sagen, wir benötigen einen sozialen Arbeitsmarkt.

(Beifall SPD)

Die Anfänge sind in einigen Bereichen gemacht. Ich finde das nicht ausreichend. Ich glaube, man muss Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Tag vernünftig zu strukturieren und ihr Leben einigermaßen „gebacken“ zu bekommen, ein Angebot unterbreiten, damit sie in einem sozial gesicherten Umfeld arbeiten können. Der freie Markt ist für den Komplex nicht mehr gangbar. Diese Vermittlungszahlen gerade bei Projekten, die Arbeitslosen helfen wollen, sind in bestimmten Gebieten ein bisschen absurd. In dem Bereich muss man einfach akzeptieren, dass das so ist, und muss dafür eine Alternative schaffen.

Insgesamt bildet der Bericht nicht einfach eins zu eins die Wahrheit dessen ab, was arm und was reich ist. Auch das möchte ich an dieser Stelle schon noch einmal deutlich sagen. Wenn jemand in München lebt, muss er mehr Geld ausgeben, um die Lebenshaltungskosten zu decken, als das zum Beispiel in Bremen der Fall ist. Es ist immer auch eine Unschärfe in der Berichterstattung. Das gilt übrigens auch für das statistische Material. Wenn man sich die Seite anschaut, auf der versucht wird zu erklären, wie dieser Bericht zustande kommt, und wie man das statistische Material zu bewerten hat, kann man schnell feststellen, das allein ist schon eine Wissenschaft für sich.

Deswegen warne ich davor, einfach so zu tun, als könnte man die soziale Wahrheit eins zu eins aus diesem Bericht ablesen. Was wir aus dem Bericht ablesen können, sind Trends, sind Entwicklungen. Das tue ich auch. Einen Trend habe ich am Anfang genannt. Auch in Bremen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer.

Ich sage noch etwas. Es gibt durchaus Bereiche, in denen wir tätig werden können, ohne dass es mehr Geld erfordert. Wir haben in dem Armutsausschuss einige dieser Bereiche identifiziert und auch benannt. Schön wäre es, wenn man den Ausschussbericht noch einmal heranziehen würde, um zu schauen, welche Bereiche das genau sind.

(Beifall SPD)

Es ist eben nicht so, dass alles immer nur mehr Geld kostet und nur mehr Geld hilfreich ist. In einigen Bereichen muss das so sein. Das glaube ich auch. Es gibt aber auch Bereiche, in denen wir ohne mehr Mittel gute sozialpolitische Arbeit leisten können.

(Abg. Rupp [DIE LINKE]: Sagen Sie einmal, welche!)

Als letztes sage ich noch meinen Standardsatz. Wir haben in der Sozialpolitik vielfach die Situation, dass wir Reparaturbetrieb sind. Ich glaube, ein Paradigmenwechsel hin zur Prävention ist dringend erforderlich und nötig.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Das geht mit Sicherheit nicht von heute auf morgen, weil auch die Hilfesysteme eine bestimmte Struktur haben. Wir müssen das von der Richtung der Entwicklung unserer Sozialpolitik her angehen. Davon bin ich ganz fest überzeugt. ESPQ als Modellprojekt in Walle geht genau in diese Richtung. Es findet meine vollste Unterstützung und, man wird es kaum glauben, es spart am Ende sogar Geld ein. So gesehen, weist das eine Richtung in der Sozialpolitik auf, die ich für unterstützenswert halte. Ich würde mich freuen, wenn das hier im Haus mehrheitlich auch so gesehen werden könnte. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Wendland.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht des Senats der Freien Hansestadt Bremen bringt uns eine bittere Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die leider zu erwarten war. Die Lebenslagen der in Armut lebenden Bevölkerung haben sich seit dem ersten Bericht, also seit dem Jahr 2009, weiter extrem verschlechtert. Jeder vierte Mensch ist im Land Bremen von Armut betroffen, trotz positiver Konjunktur, weniger Arbeitslosen

(Abg. Dr. vom Bruch [CDU]: Wo sind denn weniger Arbeitslose in Bremen?)

und trotz zahlreicher Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut. Der zweite Bericht listet sie auf. Ganztagsschulen oder der Ausbau in der Kita-Betreuung sind nur zwei Beispiele, denn gute Bildung führt zu Qualifikationen, zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und das wirkt präventiv.

Was sagt uns der Reichtumsbericht? Bremen hat viele Millionäre, Reiche, die immer reicher werden. Die Vermögenseinkommen beispielsweise stiegen innerhalb von fünf Jahren um volle 40 Prozent, das ist dokumentiert in diesem Buch. Der höchste Zuwachs also bei den Dividenden, bei Unternehmensgewinnen, von Personengesellschaften, bei Mieteinnahmen, also der höchste Zuwachs im Vergleich zu anderen Ländern in der Bundesrepublik.

Was heißt das für uns? Wir sind ein Landesparlament, und wir müssen deshalb unsere Maßnahmen intensivieren, auch vor dem Hintergrund der vielen Geflüchteten, die Bremen aktuell aufnimmt, und die bisher im Bericht keine Berücksichtigung finden. Wo müssen wir unsere Maßnahmen auch noch weiterhin intensivieren? Bei der Bildung! Sie ist ein Schlüssel, damit die Kinder aus der Armutsfalle herauskommen, denn Armut wird immer noch über Generationen hinweg vererbt.

Ein großer Schritt ist bereits getan mit dem neuen Zuschnitt des Ressorts Bildung und Kinder, das heißt, es gibt klare Zuständigkeiten mit Verantwortung bei einer Senatorin. Mit diesem großen Schritt können wir unsere Idee der frühkindlichen Bildung noch stärker verankern. Unser Ziel ist es, einen durchgängigen Bildungsplan für Kinder im Alter von null bis zehn Jahren zu schaffen. Dies geht nur, wenn die Kitas und Grundschulen noch enger zusammenarbeiten, und die Sprachförderung ist ein wichtiger Baustein in diesem Konzept. Das ist eine Herausforderung, die unsere Bildungssenatorin jetzt angehen muss.

Wo noch? Bei dem Ausbau der Kindertagesstätten; da sind wir schon richtig gut, das heißt aber nicht,

dass wir nicht noch besser werden müssen, vor allem in den Stadtteilen mit sozial benachteiligten Familien. Bei den unter Dreijährigen haben wir den Rechtsanspruch erfüllt. Die Betreuungsquote liegt in Bremen bei 46 Prozent, und unser Ziel ist eine Ausweitung auf 50 Prozent. Vor allem, um mehr Plätze in den Stadtteilen mit einer hohen Kinderarmut zu schaffen.

Zudem ist es ein Ziel der rot-grünen Koalition, mehr ganztägige Angebote für alle Kinder von Anfang an zu schaffen. Wir haben bereits den Rechtsanspruch auf eine sechsstündige Betreuung für die Drei- bis Sechsjährigen festgelegt. Die Koalition will des Weiteren erreichen, dass der Rechtsanspruch ab dem ersten Lebensjahr ausgeweitet wird. Die Ganztagsbetreuung hilft auch den Eltern, wenn sie Arbeit haben oder in Förderprojekten der Agentur für Arbeit eingebunden sind. Außerdem hilft es vor allem den alleinerziehenden Müttern. Der vorliegende Bericht weist insbesondere auf die prekäre Lebenssituation von alleinerziehenden Müttern hin, denn Kinderarmut ist eine unmittelbare Folge der Einkommensarmut von alleinerziehenden Müttern.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)

Da möchte ich als sozialpolitische Sprecherin meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD und auch von den Grünen noch einmal ermuntern, den Alleinerziehenden ein Anrecht auf die Ganztagsbetreuung schon in den Kitas zu ermöglichen, damit gerade arbeitslose Alleinerziehende überhaupt eine Chance haben, sich eine Arbeit zu suchen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)

Das wäre meiner Meinung nach ein Baustein für ein spezielles Programm für alleinerziehende Frauen.

Lassen Sie mich noch kurz auf den Arbeitsmarkt schauen. In diesem Zusammenhang hat ja auch der Ausschuss zur Bekämpfung und Prävention von Armut und sozialer Spaltung vorgeschlagen, dass die Chancen auf dem Arbeitsmarkt endlich verbessert werden müssen. Es sind jedoch meist die Männer im Blick, wenn es um arbeitsmarktpolitische Instrumente geht, und da gilt es umzusteuern zugunsten der Frauen.

Hat nicht auch die Wirtschaftsförderung überwiegend die Männer im Auge? Die Cluster in der Wirtschaftsförderung sind vornehmlich ausgerichtet auf Arbeitsplätze für Männer wie zum Beispiel in der Windenergie. Die Wirtschaftsförderung muss aber auch Frauen in Arbeit bringen, beispielsweise im Gesundheits- und Dienstleistungsbereich, und da muss jetzt das Wirtschafts- und Arbeitsressort auch aktiv werden und vorankommen.

(Beifall DIE LINKE)

Dies betrifft auch das bremische Beschäftigungspolitische Aktionsprogramm, das endlich mehr auf Frauen auszurichten ist. In dem Bericht kann man nachlesen, Frauen in Armut hilft dieses Programm bislang nicht weiter: Die Frauen werden überwiegend beraten, aber von einer Beratung können sie sich und ihren Kindern nichts zu essen kaufen. Diesen Frauen wurden gerade nicht – anders als bei den Männern – Angebote zur Beschäftigung unterbreitet; das muss sich jetzt ebenfalls ändern, denn diese Frauen haben auch ein Recht auf existenzsichernde Arbeit.

(Beifall SPD, DIE LINKE)

An dieser Stelle wird auch noch einmal deutlich, dass wir die Armut nur ressortübergreifend bekämpfen können, und deshalb ist es auch gut so, dass die bisherigen Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, überprüft werden, ob sie auch erfolgreich sind. Die Evaluation der Maßnahmen wird uns spätestens mit dem dritten Armuts- und Reichtumsbericht vorliegen. Ein weiser Entschluss des Senats, den wir Grüne mit der Forderung verbinden, die Handlungsempfehlungen des Ausschusses zur Bekämpfung und Prävention von Armut und sozialer Spaltung ebenfalls in die Evaluation einfließen zu lassen.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns noch einmal zu den Reichen schauen, denn bei allen Anstrengungen, die wir hier im Landesparlament unternehmen, kommen wir unserem Ziel bei der Bekämpfung von Armut kaum weiter. Fragen Sie die Wissenschaftler, fragen Sie Oxfam! Ohne eine höhere Besteuerung der Einkommen und Vermögen ist eine Bekämpfung der Ursachen schlichtweg nicht möglich, das wissen wir auch alle.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, DIE LINKE)