Protocol of the Session on November 10, 2011

Dazu als Vertreterin des Senats Frau Senatorin Stahmann.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Mohr-Lüllmann.

Sehr verehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Heroin bei Kindern“ und „Bremer Eltern ge––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

ben Kindern Heroin“ sind nicht etwa Meldungen von letzter Woche, sondern das sind die Überschriften aus Presseerklärungen vom 14. Oktober 2010. In einer Pressemeldung der Senatskanzlei wurde damals wie folgt darauf reagiert: „Sicherheitsnetz zum Schutz der Kinder ist gut“.

Meine Damen und Herren, dass es kein gutes Sicherheitsnetz für Kinder gibt, wissen wir spätestens zum wiederholten Mal seit letzter Woche, Freitag wurden uns nämlich die Ergebnisse der dritten Untersuchungsreihe der Haaranalysen vorgestellt. Ergebnis: Insgesamt 88 Kinder leben in einem unvorstellbar belasteten Umfeld von illegalen Drogen, 69 Kinder haben Drogen verabreicht bekommen. Die Kinder müssen im Zustand einer extremen Gesundheitsgefährdung leben. Wie kann das sein, wo der Schutz der Kinder doch angeblich immer verbessert worden ist?

Was bedeutet das? Für die betroffenen Kinder, deren Eltern suchtkrank sind, hat sich nichts geändert, sie leben unverändert in einem lebensgefährlichen Umfeld, und sie leben am Rande des Todes. Das ist unfassbar! Es ist umso unfassbarer, weil wir seit über einem Jahr diesen Zustand wissenschaftlich belegt bekommen.

(Präsident W e b e r übernimmt wieder den Vorsitz.)

Ich frage mich, wie viele Untersuchungsreihen brauchen wir eigentlich noch, um festzustellen, dass Kinder nichts im Drogenmilieu zu suchen haben? Wie oft habe ich hier gestanden und Forderungen und Anträge gestellt? Ich habe Anträge gestellt, verpflichtend die psychosoziale Begleitung einzuführen, Kinder aus dem Drogenumfeld herauszunehmen, Haaranalysen verpflichtend einzuführen, die Methadonsubstitution besser zu kontrollieren. Diese Probleme sind seit Jahren alle benannt, sie sind erkannt und übrigens spätestens seit 2005 bekannt. Ich sage, Sie nehmen sich zuviel Zeit, und eines haben die Kinder nicht: Zeit! Die Haaranalysen belegen nämlich ganz klar, dass dieses System nicht funktioniert, und ich weiß nicht, welche Beweise Sie noch brauchen.

Im Übrigen möchte ich sagen, bitte hören Sie auf, immer erleichternd festzustellen, dass den Kindern durch diese sogenannte Schweiß-Kuschel-Theorie eventuell nur von außen Drogen an das Haar angetragen worden sind. Erstens, es ist völlig unerheblich, ob innerlich oder äußerlich, Fakt ist, das Umfeld der Kinder ist brandgefährlich. Zweitens ist die SchweißKuschel-Theorie spätestens seit dem letzten Freitag hinfällig. Es gibt keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass durch den Schweiß der Mutter das Methadon oder sein Stoffwechselprodukt an das Kind gelangt sein könnte. Weder Daten noch Fakten können das belegen, und schon gar keine Fachgesellschaft kann das überhaupt bestätigen. Das sehen Sie übrigens auch schon daran, dass es nach wie vor Haaranalysen in Deutschland gibt, denn die würde

es eigentlich nicht mehr geben, wenn diese Einzelhypothese so viel Gewicht hätte.

Sie erwecken irgendwie immer den Eindruck, dass Sie Gründe suchen, die verharmlosend oder beruhigend wirken, aber das System am Ende nicht verändern. Immer wieder höre ich bei Radio Bremen oder lese im „Weser-Kurier“, das System funktioniert. Nein, es funktioniert nicht, denn sonst hätten wir diese Befunde nicht!

(Beifall bei der CDU)

Ich kann es immer nur wiederholen: Nehmen Sie diese Kinder aus diesem Umfeld heraus! Allein das Drogenumfeld an sich ist Kindeswohlgefährdung.

(Erneuter Beifall bei der CDU)

Kindeswohlgefährdung besteht immer aus zwei Faktoren: Das körperliche, geistige und seelische Wohl der Kinder ist gefährdet, und die Eltern sind nicht gewillt oder auch eben nicht in der Lage, die Gefahr vom Kind abzuwenden. Darüber hinaus fordern wir auch, dass Sie von allen Kindern sozialpädiatrische Gutachten erstellen: Wie geht es eigentlich diesen Kindern, die Sie in Obhut genommen haben? Darüber will ich auch Klarheit. Diese Frage habe ich auch in der Sondersitzung der Deputation an den damaligen Staatsrat Dr. Schulte-Sasse gestellt, der diese Frage offensichtlich falsch verstanden hat, denn er hat behauptet, dass es allen Kindern gut geht.

Wir wissen aber eben heute, und das nur durch einen Zufall, der inzwischen bestätigt ist, dass ein Kind einen Schädelbruch hat und aus der Klinik heraus in Obhut genommen worden ist. Wir hier als Deputierte und Abgeordnete wissen nicht, ob dieses Kind Folgeschäden hat, Sie wahrscheinlich schon. Wir haben auch ein Recht darauf, das zu wissen, aber vor allen Dingen darf ich erwarten, dass, wenn wir eine Frage stellen, diese auch entsprechend richtig beantwortet wird.

Jetzt lese ich gerade eben hier an meinem Pult, dass Frau Stahmann in Radio Bremen gesagt hat, sie werde nicht alle Kindesmissbrauchsfälle melden. Das habe ich gerade eben gelesen. Ich muss sagen, Frau Stahmann, wir haben eine Vorgeschichte, und ich kann Ihnen eigentlich nur empfehlen, jeden Missbrauchsfall zu melden, denn wenn Frau Jürgens-Pieper eines richtig gemacht hat, dann ist es, dass sie große Transparenz und Information hergestellt hat.

(Beifall bei der CDU)

Klar ist, dass es sich in diesem Fall um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt, und wir wissen noch nicht ganz genau, was passiert ist, aber der Vater nimmt Drogen, das hat er selbst zugegeben, den Test hat er allerdings verweigert. Die Schwester ist eben

falls positiv getestet, und das zeigt doch, dass es eben nicht allen Kindern gut geht. Es besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen Drogenbeschaffung, Sucht und Gewalt, und es besteht hier eben ganz klar ein Beschaffungsdruck. Häufig werden Kinder in so einer Situation auch als Störenfriede empfunden, das ist leider so. Klar ist – ich habe es gesagt –, diese Kinder haben keine Zeit, sie können nicht warten, sie sind in akuter Gefahr. Daher fordern wir sofortige Maßnahmen, kurzfristig! Sie müssen sicherstellen, dass sich auch Eltern nicht den Haaranalysen entziehen können. Schützen Sie bitte diese Kinder, sie brauchen unsere Hilfe! Lassen Sie mich ganz kurz noch auf die Methadonsubstitution eingehen: Zu viele Substituierte planen aus meiner Sicht gar keinen Ausstieg aus ihrer Abhängigkeit und nehmen keine therapeutische Hilfe in Anspruch. Regelmäßiger Beikonsum ist keine Ausnahme, die Ärzte sind mit der Kontrolle überfordert, der Informationsaustausch zwischen Behörden, Ärzten und Betreuungseinrichtungen der Kinder ist eine Dauerbaustelle. Viele Fragen sind seit einer Ewigkeit formuliert, lange bekannt und seit Jahren erkannt. Ein letzter Punkt; eine bekannte Problematik: Wenn Eltern umziehen, zum Beispiel von Bremen nach Bremerhaven, lässt sich nicht die lückenlose Kontrolle fortsetzen. Das ist ein Problem. Ich bitte Sie, denken Sie bitte gewissenhaft darüber nach, ob Sie diesen Antrag, nur weil er von der CDU ist, wieder ablehnen! In der Vergangenheit haben Sie so viele Anträge abgelehnt, wahrscheinlich einfach, sage ich, aus politischen Gründen. Ich gehe davon aus, ich bin sogar davon überzeugt, dass, wenn Sie dem einen oder anderen Antrag zugestimmt hätten, einige Schicksale vielleicht gar nicht erst eingetreten wären!

(Beifall bei der CDU)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Möhle.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor über fünf Jahren Kevin tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, war die Empörung nicht nur hier im Haus, sondern bundesweit groß. Was wir aber danach gemacht haben, war, fand ich, durchaus beispielgebend. Wir haben nämlich in der Situation gesagt, wir werden dieses Thema nicht parteipolitisch missbrauchen, sondern wir werden als Parlamentarischer Untersuchungsausschuss den Aufklärungsauftrag ernst nehmen. Ich bin damals stellvertretender Vorsitzender dieses Ausschusses gewesen, und ich kann sagen, das haben wir auch so gemacht. Dann haben wir politisch einvernehmlich über die damaligen Fraktionen hinweg einen Ausschussbericht verabschiedet, in dem Maßnahmen aufgezählt ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

worden sind, von denen wir gemeint haben, dass die Fehler, die zu dem Tod von Kevin geführt haben, nie wieder vorkommen sollen. Dann haben wir versucht zu untersuchen, wo die Fehlerstrukturen waren. Der Fall, Frau Dr. Mohr-Lüllmann, den Sie soeben beschrieben haben, hat nicht den Hauch einer Ähnlichkeit mit dem, was damals passiert ist.

Ich finde gut, dass in Bremen in der Frage Kinderschutz, Kindessicherung, Kindeswohl eine außerordentlich hohe Sensibilität vorhanden ist. Das ist gut und richtig!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Ich glaube, wir werden auch weiterhin sehr sorgfältig jeden einzelnen Fall hinterfragen, untersuchen und prüfen müssen. Da haben Sie mich jedenfalls deutlich an Ihrer Seite, weil es mir genauso geht wie allen hier im Haus: Wir wollen nicht, dass Kinder in solchen Verhältnissen leben, die lebensgefährlich sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass es hier niemanden gibt, der sagt, es sei ihm egal. Ich bin davon überzeugt, dass jeder und jede Abgeordnete hier im Haus mit der gleichen Betroffenheit, aber auch mit der gleichen Aufmerksamkeit diese Fälle verfolgt, hinterfragt und untersucht.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Ich habe heute Morgen im Radio gehört, Frau Dr. Mohr-Lüllmann, dass Sie diesen Fall dort benannt haben. Mein erster Griff ging zum Mobiltelefon, ich habe den Jugendamtsleiter, Herrn Marquardt, angerufen, ich habe die Abteilungsleiterin, Frau Rose, angerufen, und ich habe mit der Senatorin darüber gesprochen, um mir darüber klar zu werden, was da eigentlich passiert ist. Ich will den Fall an dieser Stelle nicht aufrollen, aber ich kann Ihnen ganz ehrlich versichern, ich glaube, das ist eine ganz andere Dimension.

Meiner Meinung nach machen Sie einen Fehler, und das macht es mir auch schwer, Ihren Anträgen zuzustimmen: Sie tun nämlich so, als passiere nichts. Das ist in der Tat nicht so. Seit vor fünf Jahren dieser Fall bekannt geworden ist, wird versucht, das System zu verbessern. Wenn jemand hier im Haus glaubt, es gäbe eine Patentlösung, man könne ein System herstellen, bei dem man sagt, jetzt sind wir fertig, der irrt gewaltig,

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

weil wir es in diesen Fragen mit Menschen zu tun haben. Die Verhältnisse und die Systeme müssen ständig neu verbessert, angepasst und hinterfragt werden. In diesem Sinne kann ich sagen, dass wir

Ihren Antrag überweisen und das Thema in der Deputation weiter diskutieren möchten. Hören Sie aber auf, immer wieder den Vorwurf hier im Haus zu erheben, es passiere nichts! Mich macht das inzwischen ärgerlich!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Sie erkennen alle Anstrengungen der Mitarbeiter des Jugendamts und der Sozialbehörde überhaupt nicht an und akzeptieren nicht, dass dort auch gute, harte Arbeit geleistet wird. Ich sage einmal so, aus meiner vielleicht auch ein bisschen durchaus privateren Sicht: Ich möchte den Job nicht haben, in Familien hineinzugehen, wo Kinder verprügelt werden, wo, ich sage es, übrigens auch betrunkene Eltern in den Ecken liegen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Auch Alkoholmissbrauch ist Kindeswohlgefährdung, jedenfalls in der missbräuchlichen Variante! Alkoholismus gehört dann genauso wenig in einen Haushalt mit Kindern. Ich persönlich bin stark davon überzeugt und würde, wenn ich könnte, sagen, Kinder gehören nicht in Drogenfamilien. Denkt man das aber zu Ende, dann muss man sagen, Kinder gehören auch nicht in Alkoholikerhaushalte!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Dann wollen wir einmal die Zahlen der Inobhutnahmen hochrechnen, das ist schwindelerregend! Mir macht das insgesamt sehr viel Sorge, weil ich beiden Gruppen der Drogenabhängigen, und für mich sind Alkoholiker in gewisser Weise auch Drogenkranke, nur empfehlen kann, sich möglichst nicht um Kinder zu kümmern, sondern dies anderen zu überlassen. Das können wir aber nicht, weil im Übrigen auch die Verfassung und das Recht in diesem Land anders sind, und das ist auch gut so. Wenn es aber so ist, dass Kinder in solchen Verhältnissen leben müssen, dann muss der Staat die Kontrolle lückenlos sicherstellen. Genau das versucht Frau Stahmann zu organisieren, das hat Frau Rosenkötter versucht zu organisieren, und daran wird hartnäckig gearbeitet. Sie können sich ganz darauf verlassen, dass wir an diesem Punkt nicht ein Quäntchen nachgeben werden. Ich habe damals als stellvertretender Ausschussvorsitzender gesagt: Hört auf, über die Eltern nachzudenken, das Kindeswohl im Vordergrund, man muss die ganzen Fragen vom Kind her denken.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Im Ausschuss haben einige Zeugen ausgesagt, wir haben den Jungen nicht herausgenommen, weil die

Eltern sonst möglicherweise psychische Probleme bekommen hätten. Da sage ich, das kann bestenfalls zweitrangig behandelt werden. Das oberste Gebot muss sein, die Kinder müssen geschützt werden, und das ist das erste und wichtigste Gebot. Ehrlich gesagt, seither habe ich hier in Bremen auch niemanden mehr gehört, der das so formuliert hat wie vor dem Fall Kevin. So gesehen haben wir hier in Bremen eine Menge daraus gelernt, und Sie können sich sicher sein, wir werden weiter lernen, wir werden das auch weiterhin sehr sorgfältig begleiten und beobachten.

Wie gesagt, Ihren Antrag möchten wir in die Deputation überweisen, weil es durchaus Ansätze gibt, über die wir natürlich auch nachdenken werden und möchten, und die möchten wir auch nicht einfach so wegwischen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass wir Sie an der Stelle nicht ernst nehmen, Frau Dr. MohrLüllmann, ich persönlich habe Sie im Ausschuss als jemanden erlebt, der sich tatsächlich sehr besorgt, berechtigt und ernsthaft um die Fragen gekümmert hat. Ich will Sie an dieser Stelle auch gar nicht angreifen, aber den Duktus, wir würden nichts tun, mag ich, ehrlich gesagt, nicht mehr! – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Tuncel.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! In Bremen gibt es rund 1 300 Drogensüchtige, die mit Methadon substituiert werden. Unter ihnen sind Eltern von 150 Kindern. Im Mai dieses Jahres wurden durch eine Haaranalyse von Kindern substituierter Eltern Rückstände von Drogen festgestellt. Untersucht wurden 28 Kinder, Funde gab es bei 21 Kindern. Das klingt erst einmal erschreckend, es muss aber genau hingeschaut und differenziert werden.

Das Ressort selbst misstraute der Untersuchung und gab zwei weitere Untersuchungen in Auftrag, eine davon an die Berliner Charité. Dort wurden 88 Fälle untersucht. Nur in 19 Kinderhaarproben wurden keine Rückstände gefunden, 23 Fälle wurden als kritisch bewertet. Der dort verantwortliche Rechtsmediziner bezweifelt aber, dass den meisten Kindern die Drogen verabreicht worden sind. Ihm zufolge legen die Ergebnisse nahe, dass die Rückstände durch Hautkontakte entstanden sind.

Selbstverständlich muss eine Kindeswohlgefährdung vermieden werden. Darüber sind sich alle Parteien einig. Uneinigkeit besteht bei den Maßnahmen, die ergriffen werden. Die CDU nutzt die Haarproben, um die Verschärfung der bremischen Drogenpolitik ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

zu fordern. Damit ist aber noch keinem Kind geholfen. (Beifall bei der LINKEN)

Suchtkranke, wie mein Kollege Herr Möhle auch gesagt hat, brauchen Unterstützung, das gilt noch viel mehr, wenn sie Kinder haben. In Hamburg gibt es offene Anlaufstellen für suchtkranke Eltern und Kinder. Diese niedrigschwelligen Hilfen unterstützen die Bewältigung des Alltags und ermöglichen gleichzeitig, wenn nötig, eine schnelle Reaktion in brenzligen Situationen.