Protocol of the Session on December 15, 2011

Meine Damen und Herren, ich eröffne die elfte Sitzung der Bürgerschaft (Landtag).

Ich begrüße die anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Medien.

Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich Schüler und Schülerinnen des Projekts Lernen und Arbeiten im Buntentor, die neunte Klasse des Gymnasiums Habenhausen, die Berufspraktikantenklasse 1103 der Allgemeinen Berufsschule und Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Innova-Privat-Akademie.

Als ganz besonderen Gast, über den ich mich sehr freue, begrüße ich den Stadtverordnetenvorsitzenden Herrn Artur Beneken aus Bremerhaven mit seinen Mitarbeiterinnen. Seien Sie alle ganz herzlich willkommen!

(Beifall)

Zur Abwicklung der Tagesordnung wurden interfraktionelle Absprachen getroffen, die Sie dem Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute, 9.00 Uhr, entnehmen können.

Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Abgeordneten Ali Seyrek zu seinem heutigen Geburtstag die Glückwünsche des Hauses aussprechen. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Rechtsextremistischem Gedankengut gemeinsam mit aller Entschlossenheit entgegentreten, rechtsextremistische Täter konsequent strafrechtlich verfolgen, Solidarität mit den Opfern und umfassende Transparenz staatlichen Handelns

Antrag (Entschließung) der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der CDU und DIE LINKE vom 13. Dezember 2011 (Drucksache 18/172)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Senator Mäurer.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Tschöpe.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 1990 sind nach seriösen Zählungen des „Tagesspiegels“ und der „Frankfurter Rundschau“ in Deutschland 141 Menschen durch Rechtsextreme ermordet worden. Hierunter befanden sich Migranten, Behinderte, Obdachlose, Homosexuelle, Linke,

Polizisten, Menschen, die in Situationen Zivilcourage zeigten, oder Menschen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Opfer geworden sind Menschen wie wir. Schauen wir uns in der Bürgerschaft um, stellen wir fest, dass viele von uns oder unseren Familien Ziel des faschistischen Mobs werden könnten!

Nicht eingerechnet in die Zahl von 141 sind die Fememorde innerhalb der rechten Szene, Gewalttaten von Neonazis, die schlicht kriminell, nicht ideologiegetrieben waren. Würde man das noch dazurechnen, kommt man seit 1990 auf eine Opferzahl von circa 180, wie die Amadeu-Antonio-Stiftung angibt. Dieser Blutspur des deutschen Neofaschismus mussten wir in den letzten Wochen zehn Opfer hinzufügen. Diese zehn sind Opfer der Terrorzelle, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte. Getötet wurden Enver Simsek und Abdurrahim Özüdogru aus Nürnberg, Süleyman Tasköprü aus Hamburg, Habil Kilic aus München, Yunus Turgut aus Rostock, Ismail Yasar aus Nürnberg, Theodoros Boulgarides aus München, Mehmet Kubasik aus Dortmund, Halit Yozgat aus Kassel und Michèle Kiesewetter aus Heilbronn. Bei ihnen handelte es sich um acht türkischstämmige und einen griechischen Einzelhändler, zum Teil Imbissbetreiber. Das letzte Opfer war eine deutschstämmige Polizistin.

Beschämenderweise ging diese Mordserie als „Döner-Morde“ in die deutsche Kriminalgeschichte ein. Diesen Menschen und ihren Familien wurden durch unsere Ermittlungsbehörden bitter und vermeidbar Unrecht getan. Unsere Ermittlungsbehörden zogen nicht einmal in Erwägung, dass es sich um rassistisch motivierte Taten handeln könnte, sondern suchten ausschließlich in Bereichen der organisierten Kriminalität oder Kriminalität mit ethnischem Hintergrund nach den Tätern. Organisierter Terror von Rechten ist auch in der Geschichte der Bundesrepublik kein Novum. Man denke nur an das Attentat auf dem Münchner Oktoberfest. Vor diesem Hintergrund fragt man sich schon, was polizeiliche Profis eigentlich bewegen kann, so danebenzuliegen, dass sie den faschistischen Hintergrund dieser Taten von Anfang an ausgeschlossen haben.

Noch viel unbegreiflicher als das finde ich aber die Vorgänge Ende der Neunzigerjahre in Thüringen. Der Thüringer Heimatschutz, in welchem die Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes vor ihrem Untertauchen aktiv waren, wurde maßgeblich durch den Judaslohn des Landesamts für Verfassungsschutz finanziert. Er war mit V-Leuten durchsetzt, man kann fast sagen, er ist von V-Leuten gesteuert gewesen. Einer der Täter konnte ungehindert aus einer Bombenlagerstätte davonfahren, obwohl die Polizei gerade dabei war, diese zu durchsuchen. Die Mitglieder des NSU waren vorgeblich untergetaucht, hatten aber häufigen Kontakt zu den Kameraden und besuchten Szenetreffs. Einige der damaligen Unter

stützer des Thüringer Heimatschutzes tauchen jetzt wiederum als Unterstützer der Terrorzelle NSU auf.

Ob sich dies allein mit absoluter Inkompetenz erklären lässt, ist zumindest für mich fraglich. Ob das rechte Auge in Thüringen blind oder nur sehbehindert war, muss die weitere Aufklärungsarbeit zeigen. Hilfreich wäre hier mit Sicherheit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, entweder im Thüringer Landtag oder im Bundestag. Die Wahntaten dieser Terrorzelle werden jetzt durch die Generalbundesanwaltschaft untersucht. Die Zuständigen und die Anständigen müssen ein breites Bündnis bilden, der Staat und seine Organe, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, schlicht alle Meinungsträger der Zivilgesellschaft müssen die Bekämpfung des Rechtsextremismus ganz zu ihrer Sache machen. Null Toleranz gegen Nazis und ihre Helfershelfer ist das Gebot der Stunde. Mit Polizeipräsenz, hoher Kontrolldichte und der Ausschöpfung aller repressiven Mittel müssen die Rechten spüren, dass sie die wehrhafte Demokratie keinen Tag länger erträgt.

(Beifall)

Meines Erachtens muss auch die unzulässige Vermischung von Links-, Rechts- und islamistischem Extremismus beendet werden.

(Beifall)

Gerade die Rechten müssen – wie hier auch in Bremen vereinbart und durchgeführt – mit eigenen Ansätzen beobachtet und verfolgt werden. Meines Erachtens muss die Extremismusklausel sofort fallen. Wer gegen Nazis kämpft, darf nicht unter Generalverdacht gestellt werden.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

In der polizeilichen Kriminalstatistik müssen wir die Zählweise deutlich verändern, damit rechtsextreme Taten auch wirklich dort erfasst werden und kein Rückgriff mehr, wie zu Beginn meiner Rede, auf den „Tagesspiegel“ und die „Frankfurter Rundschau“ nötig ist, um sich ein Bild von der faschistischen Blutspur in Deutschland zu machen. Polizei und Justiz müssen in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Zivilgesellschaft weiter sensibilisiert und geschult werden. Eine Verbunddatei „Rechts“ als Indexdatei ist für uns grundsätzlich möglich, ebenso befürworten wir die Einrichtung eines gemeinsamen Terrorabwehrzentrums gegen Nazis. Die Speichermöglichkeiten müssen entsprechend verbessert werden, indem die Erfassung von Merkmalen rechtsextremen Agierens erweitert wird.

Eines der Dinge, die uns hier wahrscheinlich politisch noch weiter beschäftigen werden, ist die Dis

kussion über das Verbot der NPD. Lassen Sie mich deutlich sagen, die bisherige Terrorserie ist Anlass, aber kein Grund für ein NPD-Verbot!

(Beifall bei der SPD)

Aus allgemein zugänglichen Quellen ist für jedermann zu entnehmen, dass die NPD menschen- und verfassungsfeindliche Ziele verfolgt.

(Beifall bei der SPD)

Die NPD ist für die Neonazis ein organisatorischer und finanzieller Anker, sie ist Instrument für die Propagandaarbeit, sie ist darauf ausgerichtet, vor allem auch auf der Straße rechtsradikale Hegemonie zu erringen. Lassen Sie mich das deutlich sagen: Sie ist keine normale Partei! Sie ist noch legaler Arm einer verachtenswerten Gesamtbewegung, sie gehört verboten.

(Beifall)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss sichergestellt werden, dass in den entscheidenden Positionen dieser Partei keine V-Leute sitzen. Die anderen Landesämter und das Bundesamt für den Verfassungsschutz müssen endlich gewährleisten, dass dieses letzte Hindernis zum NPDVerbot zeitnah beseitigt wird.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Dann lassen Sie mich vielleicht zum Abschluss noch einmal Bertolt Brecht aus „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ zitieren. Ich glaube, es ist aktueller denn je: „So was hätt’ einmal fast die Welt regiert. Die Völker wurden seiner Herr, jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert – der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Mord, Gewalt, Raub, Erniedrigung, Zerstörung, die Negierung einer bestehenden Rechtsordnung, die Missachtung unveräußerlicher Menschenrechte waren und sind Mittel und Wegbegleiter der deutschen faschistischen Bewegung seit ihrer Entstehung. Deshalb eint die Bremer Demokraten die Überzeugung: Faschismus ist keine Meinung, Faschismus ist ein Verbrechen! – Danke!

(Starker Beifall)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Güldner.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich bei dem Kollegen Tschöpe bedan––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

ken, dass er für uns alle in diesem Haus die Namen der Opfer hier noch einmal verlesen hat. Das bekräftigt den Willen dieses Hauses, das Andenken an diese Opfer dieser schrecklichen Mordserie immer zu bewahren. Ich fand es wohltuend, dass ihre Namen hier noch einmal genannt wurden und dass wir alle bei dieser Gelegenheit ein Stück innehalten konnten, was dort eigentlich geschehen ist.

Es ist meines Erachtens immer noch vollständig unbegreiflich, dass eine Gruppe von Menschen mit einer sehr überschaubaren Anzahl von Tatwaffen, nämlich eine bis zwei, über einen ewig lange währenden Zeitraum eine solche Mordserie, Bombenanschläge, Brandanschläge, Banküberfälle in großer Zahl und viele weitere Verbrechen begehen konnte, ohne dass irgendjemand in irgendeiner deutschen Behörde im Bund oder in den Ländern darauf aufmerksam wurde oder auch nur eine Spur in diese Richtung verfolgt hat. Ich gebe dem Kollegen Tschöpe völlig recht, das macht einen sehr nachdenklich, und es bringt einen nach einigem Nachdenken auf die Idee, dass es nicht nur – selbstverständlich auch, das kann man jeden Tag in der Zeitung nachlesen – Schlampigkeit und Versehen gewesen sein können.

Die mutmaßlichen Täter und ihre Unterstützer waren vor der Zeit dieser Mordserie ganz offensichtlich bekannt. Man sieht sie heute auf Videos, bei rechtsextremen Demonstrationen, bei Aktionen, sie waren im Visier der Behörden. Dann sind sie irgendwie von der Bildfläche verschwunden. Nun, viele Jahre später, sind sie erst dadurch wieder an die Oberfläche gekommen, dass sie tot in einem Wohnmobil lagen oder aber weil sie, nachdem das Haus, in dem sich ihre Wohnung befand, in die Luft gesprengt wurde, bei einer Polizeiwache vorstellig wurden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man, wenn man diese Vorgänge nun eindringlich und gründlich untersucht, nicht darauf stößt, dass der eine oder der andere in den Behörden in dieser Zeit einmal einen Hinweis, eine Spur oder eine Idee in diese Richtung gehabt haben muss.

Da komme ich zu einem weiteren Punkt, der mich, seit das bekannt geworden ist, umtreibt: Welche Ungeheuerlichkeit hat eigentlich stattgefunden, dass die Opfer dieser Mordserie systematisch massiv verdächtigt wurden, durch ihr Verhalten an ihrem Tod sozusagen selbst schuld zu sein? Da wurden Dinge gestrickt von kriminellen Machenschaften, organisierter Kriminalität, politischen Verwicklungen in den Heimatländern und so weiter. Für nichts von alledem gab es je irgendeinen Hinweis, irgendeinen Beweis oder auch nur irgendein kleines Beweisstück, was dafür sprach, dass die Opfer durch ihr Verhalten selbst sozusagen an ihrer Opferwerdung beteiligt waren. Dennoch hat sich dies, im Unterschied zu der klaren Erkenntnis, die sich eigentlich aufgedrängt hat, wenn man sich die Opfer anschaut, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelt, gehalten, dass man die Opfer selbst für schuldig an ihrem Tod erklärt hat.

Das wird – lassen Sie mich dieses Wort an der Stelle einmal gebrauchen – noch perverser, wenn man sieht, dass selbst die deutschstämmige Polizistin, die nun nicht in die Kategorie „das waren alles Migranten, die werden schon irgendwie Dreck am Stecken haben“ fällt, nach dem Mord an ihr immer noch verdächtigt wird, durch ihr familiäres Umfeld und so weiter irgendwie auch selbst daran schuld gewesen zu sein, dass man sie umgebracht hat. Auch dafür gab es niemals irgendeinen tatsächlichen, hieb- und stichfesten Beweis, alle Behauptungen sind widerlegt worden, es wurde nichts auf den Tisch gelegt, und dennoch wird diese Diskussion öffentlich geführt. Ich finde, eine solche Verhöhnung der Opfer ist eine der scheußlichsten Dinge, die in der Geschichte dieses Landes bisher vorgekommen sind.

(Beifall)

Das gilt, muss ich einmal sagen, für alle, die daran beteiligt sind, ganz egal, wo sie sitzen, ob in der Politik, bei den Behörden oder Medien oder wo auch immer, denn dieses Geschäft ist nun von sehr vielen betrieben worden und gerade in jüngster Zeit immer noch, was wirklich noch unvorstellbarer ist.

Es ist richtig, dass wir, wenn wir diese rechtsextremen rassistischen Strukturen betrachten, sofort auch die NPD in den Blick nehmen müssen, und ich halte es auch für richtig, dass die NPD in dieser deutschen demokratischen Parteienlandschaft in der Aufstellung, wie sie sich seit Jahren gibt, nichts zu suchen hat und deshalb verboten werden muss.

(Beifall)

Allein wir sollten wissen, die wir das alle in den Jahren 2002 und 2003 in der einen oder anderen Form erlebt haben, wie ein solcher Schuss auch nach hinten losgehen kann, indem nämlich die drei höchsten Verfassungsorgane dieses Landes – die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat – gemeinsam vor das Bundesverfassungsgericht ziehen mit dem Willen, die NPD zu verbieten, und dies nicht gelingt. Das bringt mich zu dem Schluss, dass wir es beim zweiten Mal, auch wieder alle gemeinsam und möglichst im Konsens der demokratischen Parteien, so anstellen müssen – nicht sollen oder können, sondern müssen! –, dass wir die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts erfüllen, zumindest die, die wir aus dem Verfahren aus dem Jahr 2003 kennen, aber auch die, bei denen wir vielleicht aus einigen Äußerungen vermuten, wie sie heute gelten könnten.