Protocol of the Session on October 9, 2008

Ich eröffne die 30. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag)

Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Presse.

Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich zwei zehnte Gymnasialklassen des Schulzentrums Graubündener Straße. Des Weiteren begrüße ich recht herzlich eine vierte Klasse der Schule Kantstraße, die zum Thema „Frischer Wind in die Politik“ vom Projekt ZISCH einige Abgeordnete interviewt hat und jetzt noch eine kurze Zeit an der Sitzung teilnehmen will, und als Letztes begrüße ich recht herzlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Jugendamtes. Seien Sie alle herzlich willkommen!

(Beifall)

Missbilligung der Wahrnehmung der Ressortverantwortung durch die Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales

Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP vom 1. Oktober 2008 (Neufassung der Drs. 17/554 vom 30.09.08) (Drucksache 17/561)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Bürgermeister Böhrnsen und Frau Senatorin Rosenkötter.

Wir treten in die Beratung ein.

Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Mohr-Lüllmann.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit Genehmigung des Präsidenten möchte ich diese Debatte gern mit einem Zitat eröffnen, das mir in Erinnerung geblieben ist, das mich überzeugt hat und das uns alle begleiten sollte: „Die nächste Regierung und die neue Bürgerschaft müssen sich daran messen lassen, ob es gelingt, die Ergebnisse dieses Berichts in die politische Arbeit aufzunehmen.“, Plenarprotokoll 16. Legislaturperiode Seite 5586. Dieses Zitat stammt von dem Kollegen Herrn Möhle, wurde am 26. April 2007 geäußert und bezieht sich auf den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses „Kindeswohl“. Heute wissen wir, nach wie vor – fast zwei Jahre später – gibt es im Sozialressort eklatante strukturelle Mängel, die längst beseitigt sein sollten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Deshalb debattieren wir heute einen Missbilligungsantrag gegen Sozialsenatorin Frau Rosenkötter, den

die CDU gemeinsam mit der FDP eingebracht hat. Grund für diesen Antrag ist die Antwort des Senats auf unsere Große Anfrage zu den Umsetzungen der Empfehlungen des Untersuchungsausschusses „Kindeswohl“.

Lassen Sie mich vorweg sagen, wir haben uns zwei Jahre lang die Entwicklung im Bereich Kindeswohl genau angesehen und alle vom Sozialressort vorgelegten Sachstandsberichte mit großer Aufmerksamkeit durchgearbeitet. Wir haben Nachfragen gestellt, wir haben in den Parlamentsausschüssen und Deputationen Vorschläge gemacht, und doch blieben die Sachstandsberichte hinter den Erwartungen an die Ressortspitze zurück. Mehr als vage Antworten, elastische Formulierungen und Vorschläge haben wir nicht erhalten, die Grenze des Akzeptablen ist erreicht.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Der Untersuchungsausschuss „Kindeswohl“ hat damals eklatante strukturelle Mängel im Sozialressort benannt. Parteiübergreifend war uns allen hier an dieser Stelle klar, diese Mängel müssen angepackt und beseitigt werden. Ich betone noch einmal: Die Verbesserung zur Sicherung des Kindeswohls war Ziel aller Parteien.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Doch heute stellen wir nüchtern fest, das Sozialressort hat unter der Führung von Frau Rosenkötter wenig bis keine Empfehlungen des Untersuchungsausschusses umgesetzt. Maßnahmen wurden zwar in die Wege geleitet, die Frage, in welcher Weise sie den Feststellungen des Untersuchungsausschusses Rechnung tragen, wurde aber nicht erläutert. Somit sah sich die CDU-Fraktion gezwungen, ein bisschen Licht in das dunkle Reich von Frau Senatorin Rosenkötter zu bringen.

Die Antworten auf unsere Große Anfrage sind erschreckend. Die Chance, die wir Frau Senatorin Rosenkötter geboten haben, der Bremischen Bürgerschaft die Verbesserungen im strukturellen Bereich des bremischen Kinder- und Jugendhilfesystems einmal Punkt für Punkt detailliert darzustellen, hat die Ressortspitze nicht genutzt.

(Beifall bei der CDU)

Die CDU-Fraktion missbilligt deshalb die Wahrnehmung der Ressortverantwortung durch Frau Senatorin Rosenkötter.

(Beifall bei der CDU)

Wir missbilligen, dass die meisten der vom Untersuchungsausschuss festgestellten strukturellen Mängel

im Amt für Soziale Dienste bis heute nicht behoben sind.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir missbilligen, dass wir auf Fragen zu Teilbereichen seit über einem Jahr jeweils unterschiedliche Antworten bekommen, und wir missbilligen, dass Frau Senatorin Rosenkötter entweder der politische Wille und die Kraft oder die notwendige Unterstützung für die konsequente Wahrnehmung ihrer Ressortverantwortung fehlt.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich nun Punkt für Punkt unsere Erkenntnisse und Schlüsse, die wir der Antwort des Senats auf unsere Große Anfrage entnehmen, erläutern, um Ihnen zu verdeutlichen, dass das Sozialressort uns allen, die wir letztes Jahr gemeinsam dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zugestimmt haben, die Umsetzung der Empfehlungen schuldig bleibt!

Ich komme zum ersten Themenkomplex, der elektronischen Fallakte!

(Zuruf)

Ja, ich höre es schon! Frau Senatorin Rosenkötter wird mir gleich wieder erklären, dass die elektronische Fallakte kein Allheilmittel für die Zustände im Amt für Soziale Dienste ist.

(Abg. Frau B u s c h [SPD]: Ja, das ist ja auch richtig!)

Dazu kann ich nur sagen, Sie haben recht! Aber diese pauschale Antwort zeigt auch, dass Sie die Ernsthaftigkeit und die Zusammenhänge in dem risikoreichen Bereich Kinder- und Jugendhilfe anscheinend falsch einschätzen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir warten seit vier Jahren auf die elektronische Fallakte. Der Untersuchungsausschuss hat festgestellt, dass die Aktenführung im Amt für Soziale Dienste schlampig und chaotisch war, so schlampig, dass Dritte die Entscheidungen eines Casemanagers nicht nachvollziehen konnten. Es gab nicht einmal klare Regelungen bezüglich einer stichprobenartigen Kontrolle von Akten durch Vorgesetzte. In dem Abschlussbericht wird festgehalten, dass die elektronische Fallakte die Arbeit der Casemanager unterstützt, sie entlastet und die Arbeit transparenter, einheitlicher und übersichtlicher macht. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich an dieser Stelle aus dem Abschlussbericht: „Da bereits seit zehn Jahren darüber disku

tiert wird, befürchtet der Ausschuss, dass die Einführung der elektronischen Fallakte, die in anderen Jugendämtern schon längst eingesetzt wird, in der Stadt Bremen aus nicht nachvollziehbaren Gründen noch einige Zeit dauern wird.“, Seite 118/119! Wie recht die Verfasser dieses Berichtes doch hatten!

(Beifall bei der CDU)

Seit 2007 fragen wir regelmäßig nach dem Stand der Einführung der elektronischen Fallakte, immer wieder hören wir jedoch andere Gründe für die Verzögerung. In der Bürgerschaftssitzung im November letzten Jahres sagten Sie – nachzulesen im Parlamentsprotokoll vom 20. November 2007 –, dass die elektronische Fallakte Mitte 2008 voll funktionsfähig sein wird. In der Antwort auf unsere Große Anfrage erfahren wir heute jedoch, dass die Aufbau- und Erprobungsphase schrittweise voraussichtlich bis Mitte 2009 abgeschlossen werden kann. Das ist ein typischer „Rosenkötter“: Dehnbar und sehr unkonkret formuliert!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Einmal fehlt Geld für die neue Technik, einmal liegt es an der Schulung von Mitarbeitern oder am Mehraufwand, der aus der Einführung resultiert. Neueste Version: Die Hilfeplanungs- und Diagnosetools fehlen. Wir erfahren immer neue Begründungen, weshalb sich die Einführung der elektronischen Fallakte verzögert. Abgesehen davon, dass die Begründung der fehlenden Hilfeplanungs- und Diagnosetools wieder eine vollkommen neue Variante ist, führt sie auch in die Irre.

Ziel der elektronischen Fallakte ist, dass alle Daten eines Falles sachgebietsübergreifend im Jugendamt erfasst werden, dass ein Fall und die eingeleiteten Maßnahmen transparent gemacht werden und einheitliche Standards für die Erfassung eines Falles existieren. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt muss dann natürlich sein, die Diagnosetools anzupassen. Das ist unbestritten eine Frage von komplexer Softwareentwicklung, aber keine Begründung dafür, warum es bereits beim ersten Schritt hakt.

An jeder Stelle hören wir, dass die Mitarbeiter im Amt für Soziale Dienste überlastet sind. Im Abschlussbericht wurde darauf hingewiesen, dass die elektronische Fallakte die Arbeit der Casemanager erleichtern würde, Seite 165. Die elektronische Fallakte soll den Mitarbeitern ja nicht die Arbeit abnehmen, sondern sie erleichtern, und ich frage Sie, warum dieser offensichtlichste aller Schritte, wenn es um die Entlastung von Mitarbeitern geht, nicht konsequent verfolgt wird!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Eine letzte Anmerkung zu diesem Themenkomplex: Der Antwort auf unsere Große Anfrage können wir entnehmen, dass einheitliche Kriterien für die Aktenüberprüfung erst mit der Einführung der elektronischen Fallakte zu erwarten sind. Ich frage Sie jetzt an dieser Stelle: Wie rechtfertigen Sie diese Antwort im Hinblick darauf, dass der Untersuchungsausschuss erhebliche Mängel und Unterschiede bei der Aktenführung festgestellt hat, und im Hinblick darauf, dass die Funktionsfähigkeit der elektronischen Fallakte derzeit auf sich warten lässt? Ich muss aus der Antwort des Senats schließen, dass derzeit nach wie vor jeder Casemanager vor sich hin arbeiten kann, ohne dass Aktenvermerke konsequent kontrolliert und regelmäßig überprüft werden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP – Abg. Frau G a r l i n g [SPD]: Frechheit!)

Zum zweiten Themenkomplex, Nachschulung der Casemanager und Wahrnehmung der Dienst- und Fachaufsicht! Das Sozialressort hält es nicht für notwendig, die Mitarbeiter zu Nachschulungen zu verpflichten, weil – ich zitiere aus der Antwort des Senats – „das Qualifizierungsprogramm auf breite Resonanz stößt“. Der Untersuchungsausschuss hat die dringende Nachschulung von Casemanagern empfohlen. Er hat festgestellt, dass Casemanager zu wenig von ihren Vorgesetzten begleitet und geführt werden. Es ist davon auszugehen, dass die Mitarbeiter, die ihre Arbeit sowieso schon gut machen, auch an den Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen. Wie wollen Sie, Frau Rosenkötter, eigentlich sicherstellen, dass diese lockeren Schrauben im Amt für Soziale Dienste endlich festgezurrt werden?

(Beifall bei der CDU)

Ich erwähne an dieser Stelle, es reicht, wenn ein Casemanager schlecht arbeitet.

Wir haben in unserer Anfrage auch danach gefragt, ob Mitarbeiter und Vorgesetzte sich nach einer erfolgten Schulung zusammensetzen und darüber reden, wie das Erlernte in den Arbeitsalltag umgesetzt werden kann. Der Untersuchungsausschuss hat nämlich auf die Notwendigkeit fachlicher Weisungen hingewiesen, aber auch darauf, den Handlungsansatz des Casemanagements mit Leben zu füllen. Die Antwort auf die Große Anfrage lautet heute: „Da die Qualifizierungsmaßnahmen erst seit September 2007 laufen, ist es gegenwärtig noch verfrüht, ihre Wirksamkeit zu evaluieren.“ Was sagt uns das denn? Dass Mitarbeiter an Schulungen teilnehmen und in ihrem Arbeitsalltag dann in der Umsetzung mit dem Erlernten alleingelassen werden? Ich finde, klarer geht es überhaupt nicht! Warum stellen Sie diese Mängel nicht ab?

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ein Buch mit sieben Siegeln bleiben darüber hinaus die Inhalte der Qualifizierungsmaßnahmen und die Frage, inwieweit sie den Feststellungen des Untersuchungsausschusses gerecht werden. Werden Casemanager auch im Bereich des korrekten Erstellens von Anträgen an das Familiengericht geschult? Werden Casemanager in ihrem Kostenbewusstsein für Maßnahmen geschult, Seite 124 im Bericht? Enthalten die Schulungen Elemente zur Überprüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen, damit nicht Maßnahmen erbracht werden, die entweder keine Wirkung haben oder von den Familien nicht angenommen werden?