Protocol of the Session on November 2, 2006

Die Grünen bleiben bei ihrer Einschätzung, dass auch Kostenüberlegungen eine Rolle gespielt haben. Ich gebe Herrn Mäurer recht, dass sich in der Akte von Kevin kein Hinweis darauf findet, in dem gesagt wurde, Inobhutnahme dürfen wir nicht, wir haben kein Geld mehr. Das ist richtig, es findet sich nicht. Es hat also keine direkten Kostenüberlegungen gegeben. Trotzdem, und auch das wird der Untersuchungsausschuss untersuchen und aus unserer Sicht auch herausfinden, hat der Druck, der auf dem Amt herrschte, nämlich möglichst die vorgegebenen Budgets einzuhalten, letztendlich natürlich die Kontrollen, wenn ein Kind nicht in Obhut genommen wurde, behindert und hat ein Klima geschaffen, bei dem Kostenüberlegungen eine aus unserer Sicht ungesetzliche, viel zu große Bedeutung hatten.

Ich möchte Ihnen kurz noch einmal vortragen aus der Vorlage der Deputation für Soziales, Jugend, Senioren und Ausländerintegration vom 7. September 2006, das ist das Sozialcontrolling, das da gemacht

wurde. Da heißt es: „Die Steuerungsvorgabe sieht weiter vor, dass die Fallzahl im Bereich Vollzeitpflege den Wert übersteigen darf, sofern im Bereich Heim eine entsprechende Absenkung erfolgt ist. Die Gesamtzahl der Fremdplatzierungen“ – die ist im Übrigen in den letzten Jahren massiv zurückgegangen – „darf somit nicht gesteigert werden.“

Es wird Ihnen die Behauptung sehr schwerfallen, dass das keinerlei Einfluss gehabt hat auf die Entscheidung des Amtes aufrechtzuerhalten. Ich finde auch, dass wir gemeinsam daran kein Interesse haben sollten, denn ich möchte damit gern verbesserte Strukturen und eine ausreichende Finanzausstattung erkämpfen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Mit zu den Dingen, über die wir sprechen müssen im Untersuchungsausschuss, und mit zu den Fragen gehört auch die Frage, warum der sehr gute Brief der Wohlfahrtsverbände vom Mai dieses Jahres, das ist auch noch nicht so lange her, in dem sie sich intensiv mit dem Zustand der ambulanten Jugendhilfemaßnahmen und der Inobhutnahme auseinandersetzen und insgesamt mit dem Zustand des Jugendamtes, das will ich hier auch noch einmal kurz zitieren, so wenig öffentliche Resonanz hervorgerufen hat, auch nicht bei der Presse. Es gab einen Artikel im „Weser-Kurier“, aber sonst ist es leider so verpufft, obwohl Leute da richtig Mut gehabt haben, Missstände zu benennen.

Da heißt es in dem Papier der Wohlfahrtsverbände unter Neustrukturierung der ambulanten Jugendhilfemaßnahmen und der Inobhutnahme: „Die fehlende fachliche Steuerung in der Jugendhilfe ist fatal. Das bereits Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, gemessen vom Amt für Soziale Dienste und den freien Trägern, entwickelte Hilfeplanverfahren mit den gesetzlich geforderten Beteiligungen und Dokumentationen wurde nie ausgewertet. Die für die Auswertung ursprünglich eingesetzte Mitarbeiterin wurde bereits nach sechs Monaten von der Aufgabe entbunden, sie wurde nicht ersetzt, entsprechend fehlen aussagekräftige Daten. Ambulant vor stationär ist gesetzlich geregelt, diese Vorgabe wurde auch in der Vergangenheit bereits umgesetzt. Die jetzt vorgenommene Neujustierung findet unter rein fiskalischen Gesichtspunkten statt, bei welchen Problemstellungen es unter Berücksichtigung vorhandener Ressourcen welcher Lösungsansatz erfolgversprechend ist.“ Das hätte normalerweise alle Alarmglocken klingen lassen müssen, passiert ist nichts.

Wir werden im Untersuchungsausschuss auch über etwas reden, was allen vielleicht am meisten schwerfallen wird, weil es am meisten mit uns selbst zu tun hat, nämlich über die Kultur des Laisser-faire. Mit der Kultur fordern wir professionelle Distanz ein, setzen wir selbst eigentlich Grenzen, wissen wir selbst, wo Verantwortung beginnt und endet, und können wir

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auch Verantwortung für Unbequemes übernehmen, setzen wir in der Jugendhilfe und in der Sozialarbeit auf Professionalität und haben wir genau verstanden, wo auch in unserem eigenen Milieu unsere eigene Sichtweise auch soziale Problemlagen und Kumpanei und Parteilichkeit miteinander verknüpft sind und eine unheilvolle Mischung eingehen, die letztendlich die professionelle Distanz eigentlich gar nicht mehr gewährleistet.

Wir werden auch darüber reden, wie man es in Bremen schaffen kann, dass wieder mehr die Wahrheit gesagt wird. Über die Unwahrheit im Bericht des Sachbearbeiters habe ich hier gesprochen, aber zu dem Spiel gehört auch, dass nach dem Tod von Kevin gesagt wurde, es werden 135 Kinder in 97 Familien besucht. Wir wissen aber, dass das nie geplant war. Es war geplant, 50 Familien zu besuchen, und das dauert auch seine Zeit. Die Kritik ist nicht, dass sie es in diesem Zeitraum nicht geschafft haben, sondern dass der Öffentlichkeit via Presseerklärung wieder nicht die Wahrheit gesagt wurde über das, was man eigentlich mit den Mitarbeitern insgesamt überhaupt schaffen kann.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir werden auch über die Erfahrung reden, die man in der Deputation macht. Es gelang uns allen gemeinsam, den Grünen insbesondere, nicht, in der Deputation die Probleme zuzuspitzen, klare Aussagen zu erhalten, und zwar Aussagen, auf die man sich auch verlassen kann. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass dort von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Wahrheit gesagt wird, und wenn das wirklich so ist, dann entzieht das hier uns die Arbeitsgrundlage.

Auch Herr Härtl hat, obwohl das schon nach dem Tod von Kevin war, noch erzählt, die Grünen könnten die Akte nicht einsehen, sie sei ja von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Was soll so etwas eigentlich? Soll man jetzt wirklich vor dem Hintergrund dessen, was passiert ist, sich noch über diese Art und Weise gegeneinander das Leben schwer machen? Wir werden auch über Armut reden, Kinderarmut und über die Frage, ob Politik noch in der Lage ist, die Situation von benachteiligten Familien in angemessener Art und Weise in ihr Handeln mit einzubeziehen.

Kevin wird nicht wieder lebendig, wir sind alle verpflichtet, alles zu tun, dass sich so etwas nie wiederholt. Wir müssen einen kompromisslosen Schutz unserer Kinder durchsetzen. Der Untersuchungsausschuss wird aufklären und Vorschläge machen, und wir versprechen mit Klaus Möhle und Jörg Schmidtmann eine kompetente und engagierte Zusammenarbeit.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächster erhält das Wort der Abgeordnete Dr. Sieling.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind heute hier zusammengekommen zu einer Sondersitzung, weil ein kleiner Junge in unserer Stadt gestorben ist, der nicht hätte sterben dürfen und der nicht hätte sterben müssen. Das Schicksal von Kevin, das kann man, glaube ich, sagen, erschüttert Bremen und hat Bremen und Bremerhaven erschüttert, es hat die gesamte Republik berührt und erschüttert. Die Vernachlässigung, die hier stattgefunden hat in dem kurzen Leben des Kindes, ist natürlich das, was die Tragödie um den Tod noch einmal besonders deutlich macht, eine Tragödie, und darum, finde ich, kann man und darf man nicht herumreden, die auch ein besonderes politisches Ausmaß hat.

Heribert Brandl von der „Süddeutschen Zeitung“ hat sehr früh, schon am 13. Oktober, dazu kommentiert, ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren: „Wenn Eltern furchtbar versagen, wenn ihre Kinder verkümmern, verwahrlosen, verhungern, wenn sich also das Elternrecht in Elternunrecht verwandelt, dann muss der Staat Vater, Mutter und Vormund sein. Die leiblichen Eltern haben ein Sorgerecht, der Staat hat notfalls die Sorgepflicht.“ Das ist das zentrale Problem, mit dem wir uns befassen müssen, weshalb es in diesem Haus einen Untersuchungsausschuss gibt. Dieser Sorgepflicht ist nicht hinreichend entsprochen worden, das Hilfesystem hat komplett versagt, daran gibt es nichts zu beschönigen.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen diesen Untersuchungsausschuss, weil wir wissen wollen, wie es zu diesem tragischen Tod gekommen ist, weil das Versagen der Institutionen durchleuchtet werden muss und weil im Ergebnis, dann sind wir auch bei dem Gespräch darüber, was zu tun ist, dafür gesorgt werden muss, dass ein solcher Vorgang nicht wieder geschieht. Nie wieder darf es eine solche Akte über ein Kind geben, nie wieder darf ein Kind in Obhut so anhaltend wirklich ohne Obhut und ohne persönliche Beobachtung bleiben. Das ist im Kern das, was wir ändern müssen an diesem Hilfesystem.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir wollen als Sozialdemokraten diesen Untersuchungsausschuss und haben deshalb etwas getan, das Gleiche gilt für die CDU, was wir bei einem solchen Antrag noch nie gemacht haben, dass alle Mitglieder unserer sozialdemokratischen Fraktion diesen Einsetzungsbeschluss unterschrieben haben, denn hier geht es um eine gemeinsame Aufgabe, und wir als Parlament müssen diese Aufklärung mit aller Kraft verfolgen und dürfen auch die Aufklärung nicht delegieren, gleichwohl viele an den Dingen werden ar

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beiten müssen. Aber wir haben hier auch als Parlament eine eigene Aufgabe, und alle Beteiligten müssen und sollten sich die Frage vorlegen, welche eigene Verantwortung wir und sie, aber wir selbst eben auch, in diesen Vorgängen haben.

Staatsrat Mäurer hat vor zwei Tagen seinen Bericht vorgelegt, ein wichtiges Dokument, vor allem aber ein erschütterndes Dokument, in dem in sehr klarer Sprache sehr deutlich nachgezeigt wird, welches schreckliche erschütternde Leben dieses Kind hatte und welche Dinge geschehen sind, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Ich kann nicht sagen, wie es zu diesem Tod des Kindes gekommen ist, denn das erschließt sich einem in Wirklichkeit nicht, wie es dazu gekommen sein kann, dass diese Vernachlässigung, dieses Nichtkümmern, dieses Nichtsorgen, immer wieder stattgefunden hat. Ich will die einzelnen Stationen dieses Lebens hier nicht wiedergeben, denn Sie hatten sicherlich alle die Gelegenheit, den Bericht von Staatsrat Mäurer nachzulesen. Frau Linnert hat ja auch die Geschichte dieses Kindes hier sehr ausführlich referiert.

Ich möchte mich, denn das war ein ganz entscheidender Punkt, dass dieser Bericht so in dieser Klarheit vorgelegt wird, an dieser Stelle sehr ausdrücklich und sehr herzlich bei Staatsrat Mäurer bedanken für diese Arbeit und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Justizressorts, die ihn erstellt haben, und bei unserem Bürgermeister, der diese Aufgabe in Auftrag gegeben hat. Das war ein wichtiger erster Schritt. Herzlichen Dank dafür!

(Beifall bei der SPD)

Das war wirklich im Sinne dieses Kindes, und das ist der Stil, das muss er auch bleiben, mit dem wir an die Dinge herangehen. Ich sage das hier auch, Frau Linnert, weil ich Ihre Ausführungen über irgendwelche Gespräche oder Ausführungen im Rathaus nicht nachvollziehen konnte und es auch wirklich nicht sachdienlich und der Situation nicht angemessen finde, wenn wir damit so umgehen und uns hier gegenseitig irgendwelche Beurteilungen zuschieben. Wir müssen uns um das Problem kümmern. Herr Staatsrat Mäurer hat sich um das Problem bemüht, das ist der erste Schritt, das ist die entscheidende Grundlage für uns für die Beratung im Untersuchungsausschuss.

In der Konsequenz sagt dieser Bericht, dass vieles an Arbeitsabläufen im Jugendamt, im Amt für Soziale Dienste nicht in Ordnung war, dass es dort organisatorische Strukturen und Kontrollsysteme gegeben hat, die nicht gegriffen haben, und so gesehen das Kontrollsystem nicht hinreichend war. Das Jugendamt, das Amt für Soziale Dienste steht hier im Zentrum der Kritik.

Politische Verantwortung ist gezogen worden durch den Rücktritt von Senatorin Röpke, der in der Tat kon

sequent war und der, glaube ich, eine breite Hochachtung in diesem Hause, aber insgesamt zur Folge hat: Das war das Einzige, was gemacht werden konnte, und es war richtig. Es war aber genauso richtig, Konsequenzen zu ziehen im Hinblick auf die Amtsleitung im Amt für Soziale Dienste, was das Ressort und Staatsrätin Dr. Weihrauch hinterher vollzogen haben. Natürlich ist es unabweisbar und unausweichlich gewesen, dass hier die zuständigen Spitzen auch entsprechend schnell erst einmal so weit zur Verantwortung gezogen oder aus der Verantwortung genommen werden, wie dies möglich ist.

Ich sehe auch, es ist richtig und wichtig, dass wir uns befassen und dass auch in aller Klarheit und Offenheit mit dem Amt für Soziale Dienste und im Jugendamt darüber geredet wird, wie es zu diesen Mechanismen hatte kommen können, die den Tod dieses Jungen zur Folge hatten. Dazu gibt es, glaube ich, keine Alternative. Ich schließe mich aber sehr den Ausführungen von Frau Linnert an, dass wir aufpassen müssen, in dieser Situation nicht jedem und jeder Mitarbeiterin und Mitarbeiter in diesen Ämtern die Schuld zu geben und zu sagen, sie alle machen dort schlechte Arbeit oder sind unzureichend. Ich denke, das ist nicht der Fall, ich fand es richtig, das zu sagen.

Besonders hervorzuheben ist allerdings auch das besondere Engagement der Hebamme, wir können das in dem Bericht gut nachlesen, des Kinderarztes, der Leitung des Hermann Hildebrand Hauses, die sehr gedrängt haben. Die Frage ist: Warum ist das Ganze nicht durchgedrungen? Das ist die Kritik, und da kann man es sich nicht leicht machen, und ich kann nur sagen, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter in den Ämtern muss sich die Frage nach der eigenen Aufgabenerfüllung und nach dem Umgang stellen. Ich denke, das tut dort auch jeder. Wenn man so engagiert mit Menschen arbeiten muss, wenn das der Beruf und die Berufung ist, dann dürfen wir das erwarten. Ich denke, es gibt eigentlich keine Hinweise darauf – auch das zeigt der Bericht von Staatsrat Mäurer ja sehr deutlich –, dass dies an der Stelle eine Grundhaltung in dem Amt ist. Es gibt eben organisatorisch und sonstige Mechanismen, die dazu geführt haben.

Ich will an dieser Stelle aber auch sagen, weil das auch angesprochen ist, dass wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier uns Fragen vorlegen müssen. Frau Linnert hat dies für die Grünen gesagt, und ich sage dies auch für die sozialdemokratische Fraktion. Wir haben in den letzten Wochen auch die fraktionsinternen Beratungen geführt, und es hat sich gezeigt, wie jede Einzelne und jeder Einzelner das wirklich ernst nimmt, sich die Frage vorlegt, ob man hier etwas nicht richtig gemacht, nicht aufgepasst hat. Ich habe den Eindruck aus Gesprächen, das kann man für das ganze Haus sagen, hier hat das Hilfesystem versagt, aber hier ist natürlich auch die Frage zu stellen, wie wir als parlamentarische Kontrolle zu wir

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ken haben, uns zu engagieren haben, dass die Mängel in schnellerer und zügigerer Weise deutlich werden.

Der Bericht von Staatsrat Mäurer kommt auch zu dem Ergebnis, dass es in diesem konkreten Einzelfall keine Kostengründe gegeben hat, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Das ist richtig und zeigt sich in diesem Fall auch sehr deutlich. An der Stelle bin ich sehr froh, Frau Linnert, dass Sie sagen, das sehen Sie auch so, auch aus Ihrem Aktenstudium. Das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt! Man muss aber jetzt aufpassen, dass man dann nicht zu schnell – in Ihrer Rede war mir das etwas zu schnell – den Übergang dazu findet, dass man dann sagt, es sind aber am Ende doch Kostenfragen gewesen, die diese Strukturen produziert haben. Das ist mir deshalb zu schnell, weil die Grundlinie, ambulant statt stationär zu versorgen, eine ist, die sich auch fachlich aus vielen Dingen herleitet, und keine ist, die sich rein und gar nur aus finanziellen Gründen ergibt.

Die Fremdunterbringung sollte gesenkt werden, das ist richtig, und ist auch etwas, was im Kern eine positive Entwicklung wäre. Allerdings, und darüber müssen wir reden, wenn diese Senkung der Fremdunterbringung dazu führt, dass es zu solchen Vernachlässigungen und zu solchen strukturellen Dingen kommt, dann müssen die Dinge korrigiert werden. In diesem Falle aber, will ich deutlich sagen, wird doch klar, dass neben den Strukturfragen ganz offensichtlich auch dieser Fallmanager nur in diesem Betreuungsfall bei Kevin drastische Versäumnisse vorgenommen hat, dass er unzureichend informiert und berichtet hat. Unzureichend heißt dort, dass Fakten gefehlt haben. Das ist noch eine völlig ungeklärte Angelegenheit und wird eine wichtige Aufgabe, die sicherlich nicht nur der Untersuchungsausschuss zu betrachten hat: Welche Motivationen hat es gegeben, dass dieser Fallmanager an dieser Stelle in diesem Fall so reagiert hat.

Es spielt sicherlich diese Gesamtdiskussion eine Rolle, dass wir in den ganzen letzten Jahren eine Entwicklung haben, dass der Elternwille als Richtschnur gilt im Umgang mit Kindern. Das haben wir in vielen politischen Bereichen. Das ist eine im Grundsatz richtige Haltung, aber sie darf nicht dazu führen, dass es ein Laisser-faire gibt, ein Lockerlassen von Entwicklungen, die dann dazu führen, dass man derartige drastische Fehlentscheidungen, drastische Ignoranz von Fehlentwicklungen zulässt und Kinder eher bei ihren Eltern lässt.

Das ist die zentrale Lehre, die wir aus dem Tod dieses Jungen ziehen müssen. Elternwille als Richtschnur ist in Ordnung, in der Abwägung muss aber das Wohl der Kinder ganz oben stehen, und es muss ganz oben stehen, dass wir uns sorgen und diese Sorge notfalls wahrnehmen. Ich lese lieber eine Überschrift „Kind zu früh aus der Familie geholt“ als die Überschrift „Kind in der Familie gestorben“, meine Da

men und Herren. So muss man es leider zuspitzen, auch vor dem Hintergrund dieser Entwicklung.

(Beifall bei der SPD)

Dass es vor dem Hintergrund der polizeilichen Meldungen, der Bitten des Bürgermeisters, des Drängens der Senatorin nicht dazu gekommen ist, dass im Fall Kevin wirklich gehandelt wurde – außer, dass viele Worte auf Papier geschrieben wurden –, ist der unglaubliche Vorgang, der dadurch aber noch einmal verschärft wird, dass wir uns die Frage vorlegen müssen, vor allem dieser Arzt sich die Frage vorlegen muss, warum er sich ebenfalls so konsequent auf die Seite des Vaters gestellt hat und warum er so wenig aufgrund der Alarmsignale, die dort sichtbar waren, gehandelt hat.

An der Stelle möchte ich deshalb auch sagen, dass uns dieser Fall natürlich dazu führt, dass wir über den Umgang von Drogensüchtigen mit ihren Kindern, aber natürlich auch über den Umgang und über die Fortsetzung unserer Methadonprogramme reden müssen. Ich teile, was Frau Linnert dazu ausgeführt hat, wir müssen in stärkerer Weise darauf achten, dass Beigebrauch unterbunden wird. Da wird man auch über Regularien reden müssen. Wir müssen wahrscheinlich auch in stärkerer Weise dazu kommen, dass die Ärzte, die zuständig sind, vielleicht auch deutlicher kontrolliert werden und dass darauf geachtet wird, und es wird kritischer zu prüfen sein, ob Drogenabhängige in den konkreten Fällen – bitte nie pauschal, sondern in konkreten Fällen – ihre Kinder vernünftig versorgen beziehungsweise vernünftig versorgen können, meine Damen und Herren.

Wir müssen auch beginnen, dafür ist, glaube ich, die heutige Diskussion und die heutige Bürgerschaftssitzung in ihrer Gesamtheit ein wichtiger Zeitpunkt mit der Einsetzung des Untersuchungsausschusses, aber auch mit der bevorstehenden Neuwahl der Senatorin, darüber zu reden, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um solche Vorgänge und solche Fälle zu verhindern. Dazu möchte ich als Erstes sagen, der Bürgermeister hat dies mehrfach formuliert und auch sehr schnell gefordert, dass wir neue Standards brauchen, neue Standards im Bereich der Jugendhilfe. Neue Standards heißt an der Stelle, dass das Kindeswohl in das Zentrum von Entscheidungen gestellt werden muss, und zwar das Kindeswohl nicht, wie es sich in den Akten wiederfindet, sondern das Kindeswohl sehr unmittelbar durch die Beobachtung, durch den Besuch, durch das Aufsuchen.

Ich finde, alles, was dort jetzt an Maßnahmen im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten ergriffen worden ist, ist ein richtiger und ein guter Weg, der eingeschlagen worden ist. Es geht aber darüber hinaus. Es geht nicht nur darum, dass die größten Problemfälle in Augenschein zu nehmen sind, dass wir uns mit diesen Sorgen befassen, auch das muss man übrigens an der Stelle in der Debatte einmal sagen,

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die eher zunehmen in der Entwicklung unserer Gesellschaft, in der Entwicklung einer Gesellschaft, die geprägt ist von sich verfestigender Arbeitslosigkeit, auch von Ausgrenzung von Familien und teilweise schwierigen Lagen in ganzen Quartieren, sondern es wird auch darum gehen, dass wir uns als Staat und als Kommune dieser Verantwortung stellen müssen.

Da bin ich auf der Ebene des Handelns bei den Sofortmaßnahmen, die ergriffen werden müssen, wenn wir in Zukunft Dinge vermeiden wollen. Dass der Senat am vergangen Wochenende erste Stellen ausgeschrieben hat und neun Stellen im Bereich des Amtes für Soziale Dienste zur Verstärkung einsetzen will, halte ich für ein richtiges Signal, für eine richtige Maßnahme, meine Damen und Herren. Hier müssen Kümmerer ans Werk, und die Arbeit, die im Ressort von guten Leuten schon geleistet wird, muss verstärkt werden. Darum freue ich mich, dass der Senat hier so schnell handlungsfähig war.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte aber auch sagen, das muss man wissen, dass diese Verstärkung und diese Notwendigkeiten, auf die wir Konsequenzen ziehen müssen, am Ende des Tages sicherlich auch Geld kosten werden, zusätzliches Geld, was sich nicht begründet aus der Frage – das möchte ich an dieser Stelle noch einmal sagen –, dass der Tod von Kevin Kostengründe hätte, sondern was sich daraus begründet, dass er uns wie eine Spitze des Eisbergs deutlich macht, dass wir zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen, damit in der Gesellschaft Strukturen in dieser Art nicht entstehen können.