Protocol of the Session on July 21, 2015

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die 51. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich noch einen Geburtstagsglückwunsch aussprechen. Heute feiert Frau Kollegin Gisela Sengl einen halbrunden Geburtstag.

(Allgemeiner Beifall)

Im Namen des gesamten Hauses und persönlich wünsche ich ihr alles Gute und viel Erfolg für ihre parlamentarischen Aufgaben. Ich hoffe, dass ihr dies in geeigneter Form mitgeteilt wird.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde gem. § 65 BayLTGeschO auf Vorschlag der SPD-Fraktion "Familienleistungen neu ordnen! Frühkindliche Bildung stärken!"

(Volkmar Halbleib (SPD): Herr Präsident, es ist eigentlich kein Zustand, dass von der CSU-Fraktion fast niemand da ist!)

Herr Kollege, ich habe auf Ihren dringlichen Wunsch hin die Sitzung eröffnet, obwohl ich ähnliche Bedenken hatte wie Sie. Jetzt erteile ich Ihrem Fraktionsvorsitzenden das Wort. – Herr Kollege Rinderspacher, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Verehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, verehrte Kollegen der CSU! Selten war eine Aktuelle Stunde tatsächlich so aktuell wie heute. 240 Minuten nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von heute Vormittag treten wir hier im Bayerischen Landtag zusammen, um das Ergebnis und die Konsequenzen aus diesem Urteil miteinander zu beraten. Vorweg: Der Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe hat das Betreuungsgeld gekippt und für verfassungswidrig erklärt. Er hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass nicht der Bund, sondern die Länder für das Betreuungsgeld und für die familienpolitischen Leistungen zuständig sind. Das ist für uns Landespolitiker natürlich im Grundsatz zunächst eine positive Aussage. Heute ist ein guter Tag für den Föderalismus, weil föderale Aufgabenbereiche und Strukturen gestärkt werden. Darüber können wir uns vielleicht sogar ein Stück weit fraktionsübergreifend freuen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das heutige Verfassungsgerichtsurteil blamiert aber auch den Bayerischen Ministerpräsidenten und die gesamte CSU bis auf die Knochen. Offensichtlich wird die Blamage so stark empfunden, dass man in der CSU-Fraktion noch erheblichen Beratungsbedarf hat und deshalb etwas zu spät kommt.

(Kerstin Schreyer-Stäblein (CSU): Ach, geh! – Lebhafter Beifall bei der SPD – Volkmar Halbleib (SPD): Die CSU ist die personifizierte Lücke!)

Wir verstehen natürlich den erhöhten Beratungsbedarf der CSU-Fraktion. Denn die CSU ist auf Bundesebene mit ihren Kernthemen auf ganzer Linie dramatisch gescheitert, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

"Spiegel online" schreibt heute: "Wie mit einem Tintenkiller wird die christsoziale Handschrift aus zehn gemeinsamen Regierungsjahren mit Angela Merkel gelöscht." Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist von Ihrem bundespolitischen Anspruch nicht viel übrig geblieben. Alle Ihre Kernthemen sind in den letzten Wochen plötzlich im Nirwana verschwunden. Das Betreuungsgeld wurde heute gekippt und für verfassungswidrig erklärt, die Ausländermaut vor wenigen Wochen. Herr Dobrindt hatte getönt, alles sei in trockenen Tüchern; die EU-Konformität der CSU-Maut sei mit Brüssel geklärt. Dann aber zeigt sich: Was Herr Dobrindt als Generalsekretär versprochen hat, kann er als Minister nicht halten. So ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wenn blanker Populismus mit voller Wucht auf die Realität knallt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Bei der Maut hatten Sie auf das Kalkül gesetzt, der Europäische Gerichtshof werde irgendwann entscheiden, wenn Herr Seehofer nicht mehr Ministerpräsident ist. Dann sei die CSU fein raus, weil Europa schuld sei. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die CSU scheitert nicht an dunklen Mächten, nicht in Berlin, nicht in Karlsruhe und nicht in Brüssel, sondern an ihrer mangelnden Seriosität.

(Beifall bei der SPD)

Nahezu jedes zentrale Projekt der CSU steht mit dem Recht auf Kriegsfuß. Immer wieder gerät die CSU unter Führung von Herrn Seehofer mit dem Rechtsstaat in Kollision. Allein in Bayern hat sie drei Verfassungsklagen verloren: Resonanzstudienaffäre, Fragerecht, Klage der GRÜNEN, Verwandtenaffäre. Zwei weitere Verfassungsklagen stehen an.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CSU gerät mit dem Recht so häufig und regelmäßig in Konflikt wie innerhalb der Europäischen Union sonst nur noch die autoritären Parteien vielleicht in Ungarn und Rumänien.

(Beifall bei der SPD)

Aber auch für die CSU gelten rechtsstaatliche Regeln, und auch für die CSU darf die Politik kein rechtsfreier Raum sein.

Meine Kollegin Doris Rauscher wird gleich noch ausführen, welche familienpolitischen Konsequenzen aus dem heutigen Urteil gezogen werden müssen. Wir sagen, es ergibt keinen Sinn, jetzt ein Betreuungsgeld in Bayern einzuführen, nachdem es im Bund gescheitert ist. Vielmehr muss der Krippenausbau kraftvoll weitergehen, und er muss mit einer Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Bildung einhergehen. Es geht außerdem darum, die Öffnungszeiten in den Randund Ferienzeiten zu verbessern und den Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Dafür braucht es genügend Fachkräfte, die anständig bezahlt werden. Doris Rauscher wird das gleich ausführen.

(Beifall bei der SPD)

An dieser Stelle darf ich ankündigen: Wir als Landtags-SPD werden in den nächsten Wochen und Monaten alles dafür tun, dass Familienleistungen in Bayern künftig sinnvoll eingesetzt werden; denn auch wir in Bayern können jeden Euro nur einmal ausgeben. Deshalb sagen wir: Nein zum Betreuungsgeld! Ja zum Kita-Ausbau! Wir als Landtags-SPD werden alles dafür tun, dass dieser Grundsatz in Bayern verwirklicht wird. Wir werden alle demokratischen Möglichkeiten – ich betone: alle demokratischen Möglichkeiten, auch direktdemokratische – prüfen, damit in einer Koalition mit der Bevölkerungsmehrheit die richtigen familienpolitischen Weichenstellungen vorgenommen werden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Kollege. – Als Nächster hat Herr Kollege Joachim Unterländer von der CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

(Zuruf von der SPD: Der Arme! – Thomas Kreu- zer (CSU): Ja, ja! Das werden wir noch sehen!)

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Rinderspacher, es ist unerträglich, wie Sie an dem Willen der Bevölkerung, insbesondere der Familien,

im Freistaat Bayern und in der gesamten Bundesrepublik Deutschland vorbeireden.

(Beifall bei der CSU – Lachen bei der SPD)

460.000 junge Familien in der Bundesrepublik, davon weit mehr als 100.000 im Freistaat Bayern, nutzen das Betreuungsgeld. Sie nehmen diese Leistung, deren Gewährung der Herstellung von Wahlfreiheit dient, in Anspruch, weil sie über ihren familiären Weg und damit über die nächsten Jahre ihrer Lebensbiographie selbst entscheiden wollen. Die Herstellung von Wahlfreiheit ist der Schwerpunkt in der Familienpolitik in diesem Land. Das kommt auch in der Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck. Von dieser sollten Sie von der SPD sich nicht klammheimlich verabschieden.

(Beifall bei der CSU)

Das Bundesverfassungsgericht hat über die Zuständigkeiten, aber nicht materiell gegen das Betreuungsgeld entschieden. Die Menschen wollen selbst entscheiden, welchen Weg sie im Bereich der frühkindlichen Erziehung und Bildung gehen wollen. Dieser Weg muss offen bleiben. Es ist nicht Aufgabe des Staates bzw. der Politik, darüber zu entscheiden, sondern dies obliegt jedem Elternpaar und jeder Alleinerziehenden. Was den Staat angeht, so sage ich: Hände weg von den Entscheidungen der Familien! Die Familien sollen selbst entscheiden. Das ist auch der Weg der CSU.

(Lebhafter Beifall bei der CSU)

Die CSU-Fraktion bekennt sich zum Betreuungsgeld. Wir sind dem Ministerpräsidenten und der Sozialministerin, aber auch unserem Fraktionsvorsitzenden dankbar für die klare Aussage: Das Betreuungsgeld muss weitergeführt werden. Die Bundesmittel für die Weiterführung dieses Weges müssen zur Verfügung gestellt werden.

(Zuruf von den GRÜNEN: Warum?)

- Das ist der Wille der Bevölkerung. So sollten auch wir Politik betreiben.

(Beifall bei der CSU – Unruhe bei der SPD – Glo- cke des Präsidenten)

Meine Damen und Herren von der SPD, ich verstehe Ihre Aufregung überhaupt nicht. Wenn gewollt ist, dass es den Familien gut geht und sie autonom entscheiden können, dann hilft es nicht, wenn von "Rabenmüttern" oder von "Herdprämie" gesprochen wird.

(Markus Rinderspacher (SPD): Das hat niemand getan!)

Ich sage das nur generell, gesellschaftspolitisch.

Familien, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, dürfen nicht beschimpft werden. Wer das tut, begeht einen schweren politischen Fehler. Solche Aussagen sind gesellschaftspolitisches Gift und dienen nicht der Herstellung gleichwertiger familiärer Lebensbedingungen. Der Streit über den richtigen Weg verhindert ein positives familienpolitisches Klima und eine kinderfreundliche Gesellschaft. Was sollen die Menschen draußen denken, wenn wir uns über Fragen streiten, die die Familien selbst zu entscheiden haben?

(Beifall bei der CSU)

Unsere Familienpolitik ist darauf ausgerichtet, dass Familien in den verschiedensten Bereichen gefördert werden. Es soll aber ihrer eigenständigen Entscheidung überlassen werden, welche Angebote sie in Anspruch nehmen. Zahlreiche Familien haben das Betreuungsgeld in Anspruch genommen; Kollegin Schreyer-Stäblein wird darauf noch näher eingehen.

Ein großes Problem in der Diskussion ist, dass wir zu selten von den Bedürfnissen der Kinder sprechen. Wir alle miteinander reden zu häufig aus Erwachsenensicht und beachten zu wenig, was eigentlich die Kinder in der jeweiligen Situation brauchen. Deren Bedürfnisse und Perspektiven in den so wichtigen ersten Lebensjahren sollten wir viel stärker in den Fokus nehmen. Das muss Priorität in der Familienpolitik haben.

(Beifall bei der CSU)

Das bedeutet auch, dass der Stellenwert der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöht werden muss.

In diesem Zusammenhang sind zwei Skandale zu verhindern: finanzielle Armut von Familien mit Kindern und die Unmöglichkeit, wegen der familiären Situation eine Beschäftigung zu finden. Um den daraus resultierenden Problemen entgegenzuwirken, hatten wir auf die Einführung des Betreuungsgeldes gedrungen. Dem dienen aber auch weitere familienpolitische Leistungen, zum Beispiel das Landeserziehungsgeld.

Lassen Sie uns gemeinsam auf dem bewährten Weg weitergehen – auch durch eine Fortführung des Betreuungsgeldes auf Landesebene. Daran sind wir durch das Bundesverfassungsgericht nicht gehindert worden. Denken wir an die Kinder! Denken wir an die Eltern! Sie von der SPD dürfen sich nicht von diesem

Weg verabschieden; denn das ginge zulasten der Kinder und der Eltern. - Vielen Dank.