Regierungserklärung der Staatsministerin für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen "Bayern stark in Europa"
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Russland hat sich binnen weniger Tage die Krim unter Bruch des Völkerrechts einverleibt. Europa hat schnell und geschlossen reagiert. Ein Fortschritt, wenn man sich an die Reaktion auf die Aufstände in Libyen erinnert!
Eine Schulden- und Wirtschaftskrise hat vor vier Jahren etliche europäische Staaten erschüttert. Sie drohte, unsere Gemeinschaftswährung zu gefährden. Es gab und es gibt nach wie vor harte, kontroverse Diskussionen, doch auch hier können wir feststellen: Europa hat Lösungen gefunden, und diese Lösungen haben die Krise erkennbar entschärft.
Noch vor Kurzem haben sich viele über ihre Handyrechnung geärgert, wenn sie aus dem Urlaub in Italien oder Spanien zurückgekehrt sind. Heute sind sie deutlich entspannter. Europa hat die Roaminggebühren begrenzt. Die große Osterweiterung, deren Jubiläum wir bald feiern, hat Bayern – das ist nur ein Beispiel – allein durch einen Anstieg der Exporte um 56 % mit Tschechien zusätzliche Arbeitsplätze gebracht.
Eigentlich müsste es für alle unbestritten sein: Europa, das größte Friedenswerk der Nachkriegsgeschichte, ist eine großartige Sache.
Eigentlich müssten alle Bürger zu den Europawahlen strömen; denn sie bieten die Gelegenheit, die eigene politische Meinung in diese wichtige Entscheidungsebene einzubringen. – Eigentlich; die Realität sieht anders aus. Bei vielen dominiert die Frage: Wozu soll ich zur Europawahl gehen? In den Medien wird in erster Linie darüber diskutiert, welchen Anteil antieuropäische Parteien künftig im Europäischen Parlament einnehmen werden.
Wie erklärt sich das? - Eigentlich müsste jeder das größte Interesse daran haben, welchen politischen Weg Europa in den kommenden fünf Jahren gehen wird. Doch Fakt ist: Die Menschen wenden sich zusehends von Europa ab. Die Zahlen sind erschütternd: Letzten Herbst hatten nur noch 31 % der Bevölkerung
ein positives Bild von Europa im Vergleich zu 50 % im Jahr 2006. Sowohl die Unterstützung der Menschen für Europa wie auch die Beteiligung an den Europawahlen sind in den letzten Jahren stets gesunken. Offen antieuropäischen Parteien wird zugetraut, bis zu einem Viertel der Sitze im künftigen Europäischen Parlament zu gewinnen.
Warum wenden sich die Menschen ab? - Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch es gibt ein Grundmotiv: Enttäuschung. Man hat mit der Schaffung des Euro versprochen, dass die neue Währung so stark sein wird wie die Deutsche Mark. Doch manche nehmen wahr, dass alles teurer wurde. – Man hat mit der EUErweiterung versprochen, die Teilung Europas dauerhaft zu überwinden. Wahrgenommen haben viele Menschen aber auch, dass wir damit jede Menge Probleme importieren, von Sozialhilfemissbrauch bis zu grenzüberschreitender Kriminalität. – Man hat mit der Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten auf Brüssel versprochen, dass ein gemeinsamer Rechtsraum in unser aller Interesse ist. Wahrgenommen haben aber viele Menschen, dass sich die EU nicht darauf beschränkt, zu regeln, was nötig ist. Nein, sie haben den Eindruck, dass von Brüssel alles durchgenormt und alles reguliert wird, was man regulieren kann.
Viele Menschen haben den Eindruck, die Europäische Union sei mit ihren Aufgaben überfordert. Sie haben den Eindruck, dass eine Zuständigkeit Europas zu einer schlechteren Qualität dessen führt, was sie vom Staat erwarten. Ich spreche von der Angst vor Kriminalität, von der Angst vor einer Überforderung unserer Sozialsysteme. Ich spreche von der Angst vor höheren Belastungen, der Angst vor der Mithaftung für die Schulden, die andere machen.
Das kann niemanden gleichgültig lassen. Ohne die Unterstützung der Menschen gibt es keine europäische Integration. Ich warne Brüssel davor, sich in trügerischer Sicherheit zu wiegen und zu glauben, der Fortbestand der europäischen Integration sei eine Selbstverständlichkeit. Fakt ist vielmehr: Wir müssen darum kämpfen.
Wie kommen die Menschen zu ihrem negativen Eindruck? Was lesen sie, was hören sie über Europa? Sie lesen, dass Wettbewerbskommissar Almunia Rabatte für Betriebe streichen wird, die sehr viel Energie brauchen, und dass dadurch in Deutschland bis zu eine Million Arbeitsplätze verloren gehen können. Sie lesen, dass alle europäischen Staaten, sei es Griechenland, sei es Deutschland, enorme Anstrengungen unternehmen, ihre Haushalte zu konsolidieren, aber gleichzeitig die EU-Kommission den EU-Haushalt um 5 % ausweiten will. - Ich habe das nun gar
nicht bewertet. Trotzdem schütteln manche den Kopf. Ich glaube, das ist auch kein Wunder; denn manche Dinge widersprechen einfach der Vernunft. Deswegen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darf es ein "Weiter so" auch nicht geben. Brüssel ist dabei, das Vertrauen der Menschen zu verspielen, wenn es sich nicht ändert.
Wir brauchen und wir wollen ein geeintes und starkes Europa, ein Europa, das sich selbstbewusst den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellt. Was also tun? - Darauf gibt es in diesem Hohen Haus höchst unterschiedliche Antworten. Manche meinen, man müsse Europa den Menschen "besser erklären". Heißt das, sie trauen den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu, sich selbst ein Bild zu machen? Die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen. Aber vielleicht ist es so, dass Sie "besser erklären" nur als "beschwichtigen" verstehen. – Und das sogar zu Recht. Die Probleme und die Fehlentscheidungen der Europäischen Union sind doch mit Händen zu greifen.
Andere meinen, wer Europa voranbringen will, müsse die Integration stärken; wir bräuchten mehr wirtschaftspolitische Kompetenzen für Europa; wir bräuchten ein sozialeres Europa, wir bräuchten Solidaritätsmechanismen zwischen den Mitgliedstaaten. Sorry, aber glaubt jemand, dieser Ansatz würde auch nur von einigen der Regierungen der Mitgliedstaaten unterstützt? Glaubt jemand ernsthaft, die Bevölkerung auch nur eines Mitgliedstaats wolle den Weg zu einem europäischen Bundesstaat beschreiten?
Allein die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten sind so unterschiedlich wie die nationalen Essgewohnheiten. Sozialsysteme drücken gesellschaftspolitische Präferenzen und Wertungen aus, die in Europa unterschiedlicher nicht sein könnten. Wer hieraus einen sozialpolitischen Einheitsbrei kocht, treibt die Menschen geradezu in die Arme der Extremisten, und das zum Schaden Europas.
Dann gibt es noch die Rückbauer Europas, die "VerSchweizerer". "Aussteigen und selber machen" – das möchte ich auch mal ganz deutlich sagen – ist im 21. Jahrhundert keine Lösung.
(Beifall bei der CSU – Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER): Euer Gauweiler will mit Bayern sogar aus Deutschland austreten!)
Sinnvoll, realistisch und zielführend ist nur das, was bereits der Schriftsteller Tomasi di Lampedusa so treffend in Worte fasste: Manchmal muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen es am Beispiel der Schuldenkrise, wir sehen es am Beispiel der Ukraine: Die Europäische Union braucht ein neues Selbstverständnis, oder, wie es Kommissionspräsident Barroso formulierte: im Großen groß, im Kleinen klein. Will die EU im 21. Jahrhundert bestehen, dann muss sie sich auf das Wesentliche konzentrieren und darf die Menschen nicht mit Belanglosigkeiten nerven.
Und große Dinge gibt es wahrlich genug: Ich nenne das Transatlantische Freihandelsabkommen. Das ist eines von Dutzenden Handelsabkommen weltweit. Inhaltlich kann man dazu stehen, wie man will. Doch bei aller berechtigten Kritik zu Transparenz und Mitsprache muss uns eines völlig klar sein, meine Damen und Herren von der SPD: Wer von uns will, dass die Standards des Welthandels eines Tages von China bestimmt werden? Nur weil es Kritik gibt, ist das noch lange kein Grund, das Ganze abzublasen. Hier muss man nachbessern.
Wenn wir es so sehen, wie das Ihr Parteivorsitzender Gabriel tut, nämlich dass es Aufgabe der Politik ist, in einer globalisierten Welt Regeln zu schaffen, dann kann das nur die EU. Genau hierfür brauchen wir ein präzises, eindeutiges und transparentes Freihandelsabkommen, hohe gemeinsame Qualitätsstandards zwischen Europa und Amerika und einen Zusammenhalt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer einen Abbruch der Verhandlungen fordert, handelt wirtschafts- und sozialpolitisch unverantwortlich.
Ich nenne den Europäischen Patentschutz: Wir Bayern sind deutscher Meister beim Anmelden von Patenten. Patentschutz ist der Garant dafür, dass bayerische Forscher und Entwickler die Ernte ihrer Arbeit selbst einfahren und nicht Produktpiraten aus Peking oder Shanghai.
Ich nenne aber auch die Außen- und Sicherheitspolitik: "Putins Gewaltpolitik demonstriert unfreiwillig den unschätzbaren Wert gemeinsamer Institutionen für Frieden und Demokratie für Europa", so schrieb Joachim Keppler in der "Süddeutschen". Wenn wir wollen, dass Russland zurück an den Verhandlungstisch kommt, brauchen wir eine starke EU. Konfliktbewältigung mit friedlichen Mitteln, das ist die Stärke der Europäischen Union. Das haben wir nach den großen
Und ich nenne die wirtschaftliche Entwicklung unseres Kontinents. Ohne Unternehmerinnen und Unternehmer, die bereit sind, zu investieren und Risiken einzugehen, kann es auf Dauer keine Beschäftigung und keinen Wohlstand geben. Hier sehe ich eine der vordringlichsten Aufgaben der EU: einen klaren Ordnungsrahmen zu setzen, der gute Wettbewerbsbedingungen für alle schafft und es dadurch den europäischen Unternehmen ermöglicht, ihre Waren und Dienstleistungen weltweit zu vertreiben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bayern hat sich stets als Ideengeber der Europäischen Einigung begriffen. Wir haben in der Vergangenheit mit Heimatverbundenheit, selbstbewusst und ganz entschieden für die Europäische Einigung gekämpft. Gerade weil wir den Erfolg Europas wollen, sagen wir auch deutlich, was schiefläuft: Eine EU, die Gefahr läuft, Bürgerinnen und Bürger zu bevormunden, kleine Betriebe mit überzogener Bürokratie zu schikanieren, mit einem riesigen Beamtenapparat selbstherrlich zu regieren und sich lieber ums Kleine zu kümmern, weil sie das Große scheut, lehnen wir ab.
Wir in Bayern haben ganz klare Vorstellungen davon, wie ein besseres Europa aussehen muss: Ein besseres Europa beschränkt sich aufs Wesentliche. Ein besseres Europa ist nach außen stark und im Innern schlank. Ein besseres Europa ist demokratischer, bürgernäher und vielleicht auch politischer.
Europa muss sich auf das Wesentliche beschränken. Wir brauchen wieder eine klare und kontrollierte Grenze zwischen dem, wofür Europa zuständig ist, und dem, wofür die Mitgliedstaaten zuständig sind. Solange diese Grenze nicht völlig klar gezogen ist, solange es keine echte Kontrolle gibt, solange Brüssel mit windelweichen Begründungen alles regeln kann, was es will, sind alle anderen Bemühungen sinnlos.
Deshalb fordere ich den Mut, zu verhindern, dass die EU schleichend immer mehr Entscheidungen an sich zieht. Das ist auch machbar; denn dafür müssen wir keine Verträge ändern. Vielmehr schlage ich eine echte, eine überprüfbare Selbstverpflichtung der EUOrgane vor, sich bei bestimmten Dingen künftig zurückzuhalten.
Wir müssen die EU auch kontrollieren. Wir brauchen auch in der EU eine Einrichtung, die das tut, was in
Deutschland das Verfassungsgericht macht, nämlich dem Staat auf die Finger zu schauen. Der Europäische Gerichtshof hat sich dieser wichtigen Aufgabe verweigert und sich lieber als weiterer Motor der Integration verstanden. Deshalb brauchen wir ein unabhängiges Kompetenzgericht, das bei Konflikten klärt, wer zuständig ist, Brüssel oder die Mitgliedstaaten.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, der Regisseur Wim Wenders bringt es auf den Punkt: "Aus der europäischen Idee ist die Verwaltung geworden. Und jetzt meinen die Leute, die Verwaltung sei die Idee." Da hat er recht. Auf der einen Seite steht die großartige Idee. Auf der anderen Seite bringt ein immer größerer Apparat in Brüssel immer mehr Regelungen hervor. Lassen Sie uns überflüssige Vorschläge im Keim ersticken. Das schaffen wir mit einem konsequenten Sparkurs für das EU-Budget, mit einer kleineren Kommission, mit mehr Handlungsfreiheit für die Mitgliedstaaten und mit einer unabhängigen Kontrollinstanz, die sich auch einmal ansieht, was die Regelungsvorschläge hinterher in der Praxis bedeuten. Wenn uns das gelingt, setzen wir Ressourcen frei, Ressourcen, die Menschen, Unternehmen und Verwaltungen so dringend benötigen, um besser zu werden. Es ist klasse, wie unser ehemaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber dieses Thema intensiv und mit ganzem Herzen angegangen ist.
Seine Einsparvorschläge haben 23 Millionen Betriebe in Europa um insgesamt 33 Milliarden Euro entlastet. Europa braucht Menschen, die für die Sache kämpfen. Mit Edmund Stoiber konnte man keinen Besseren finden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe es bereits eingangs erwähnt: Die Krise in Europa ist vor allem eine Vertrauenskrise. In der Politik ist Vertrauen die einzige Währung, die zählt. In einer Demokratie kann Vertrauen nicht ohne Mitsprache entstehen. Mitsprache gewährleistet, dass die Menschen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können und dass sie deswegen Entscheidungen auch besser verstehen und akzeptieren. Bayern hat schon immer für mehr Mitsprache in Europa gekämpft, und zwar mit Erfolg. Dank unseres Ersten Vizepräsidenten Reinhold Bocklet hat Bayern seit Jahren die aktivste Volksvertretung in Brüssel. Bayern war der Vorreiter für mehr Regionalität. Der Bayerische Landtag ist in EU-Angelegenheiten schon heute das stärkste Landesparlament in Deutschland.
Auf diesem Weg möchte ich voranschreiten. Ich fordere eine stärkere Rolle der nationalen Parlamente. Ein Zustimmungsrecht bei wichtigen politischen Vorhaben bringt europäische Debatten viel schneller in unsere nationalen Parlamente. So entsteht dann auch Öffentlichkeit, so interessieren, so beteiligen sich die Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen keine vollendeten Tatsachen aus Brüssel serviert bekommen. Wir wollen, dass unsere Parlamente die EU schärfer kontrollieren können und dass sie, wenn es sein muss, Gesetze auch verhindern können.
Wir wollen noch weitergehen. Bei Änderungen der EU-Verträge und bei künftigen EU-Erweiterungen brauchen wir – unser Ministerpräsident Horst Seehofer hat dies zu Recht schon früh gefordert – Volksentscheide auf Bundesebene. Europa darf keine Angst vor der Stimme des Volkes haben. Bayern hat eine starke Stimme in Europa. Zutrauen statt Misstrauen, beteiligen statt bevormunden – das ist der bayerische Weg.
Europa wächst zusammen. Der polnische Student, der in Weihenstephan Brauwesen studiert, das Londoner Oktoberfest und der Nürnberger Lebkuchenbäcker, der seine Köstlichkeiten überall hin verschickt – all das zeigt, dass Bayern wie selbstverständlich mitten in Europa liegt. Weil dem so ist, weil Europa für uns Bayern eine Selbstverständlichkeit ist, freue ich mich auch, dass wir dieses Jahr die neue Vertretung des Freistaats Bayern in Prag eröffnen werden. Ein weiteres starkes Zeichen dafür, dass Bayern zu Europa steht.