Protocol of the Session on December 12, 2017

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 119. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich zwei Glückwünsche aussprechen. Heute begeht Frau Kollegin Mechthilde Wittmann einen runden Geburtstag. Herr Kollege Thorsten Schwab feiert heute ebenso seinen Geburtstag. Ich wünsche Ihnen beiden im Namen des gesamten Hauses und persönlich alles Gute und weiterhin viel Erfolg für Ihre parlamentarischen Aufgaben.

(Allgemeiner Beifall)

Wir kommen jetzt zur Tagesordnung.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde gem. § 65 BayLTGeschO auf Vorschlag der SPD-Fraktion "Arme Kinder im reichen Bayern: Chancengleichheit verwirklichen!"

Die Regeln der Aktuellen Stunde sind bekannt. Die fraktionslosen Abgeordneten Claudia Stamm, Günther Felbinger und Alexander Muthmann können jeweils bis zu zwei Minuten sprechen. Erste Rednerin ist Frau Kollegin Kohnen; sie spricht für ihre Fraktion und hat zehn Minuten Redezeit. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist einer unserer letzten Sitzungstage vor Weihnachten. Danach wird es für die meisten von uns durchaus ruhiger, und wir können die Adventszeit genießen. Wir überlegen uns dann sicher, was wir in diesen Tagen

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Wunderbares kochen könnten oder ob wir vielleicht ein paar Tage wegfahren. Wir schlendern über Christkindlmärkte und kaufen Geschenke für Freunde, Partner und natürlich auch für unsere Kinder und Enkelkinder, Nichten oder Neffen. Es ist wirklich eine schöne Zeit für uns hier, weil wir uns keine Sorgen machen müssen, wie wir diese Dinge bezahlen sollen.

Aber es ist eben nicht für alle eine schöne Zeit. Für viele ist es sogar eine richtig schlimme Zeit, nämlich für all die Kinder, denen niemand etwas schenkt –

oder nicht das, was sie sich wünschen, weil es zu teuer ist.

Ich spreche hier nicht von einigen wenigen Kindern. Nein, fast 12 % unserer bayerischen Kinder und Jugendlichen sind von Armut gefährdet, das sind 245.000 an der Zahl. Ich sage Ihnen: Jedes einzelne Kind, das davon betroffen ist, ist ein Kind zu viel.

(Beifall bei der SPD und des Abgeordneten Tho- mas Gehring (GRÜNE))

Es ist eine Schande. Dagegen müssen wir etwas unternehmen, und zwar sofort. Lassen Sie uns heute einfach miteinander darüber reden; denn die Kinder, um die es hier geht, können dies nicht. Sie haben keine Stimme, die gehört wird.

Ich habe eben von Geschenken gesprochen, die Kinder in Armut nicht bekommen, weil sie zu teuer sind. Aber das ist nur die kleine Spitze des Eisbergs. Darunter verbergen sich erst die wahren Probleme, die Kinderarmut mit sich bringt.

Armut bedroht die positive Entwicklung eines Kindes. Armut wirkt sich negativ auf Bildungswege aus und auf berufliche Chancen. Armut wirkt sich auch negativ auf die Gesundheit aus. Armut führt dazu, dass es nicht genügend – und schon gar nicht gesund – zu essen gibt.

Armut entscheidet auch darüber, ob du zu einer Gruppe gehörst oder nicht. Besonders dann, wenn Kinder älter werden – wer von uns Kinder hat, hat das selbst erlebt –, wird es wichtig, was die Freunde sagen. Wenn du arm bist, bist du nicht mehr dabei, weil du eben nicht mit ins Kino kannst und weil du nicht mit Freunden zu Hause Geburtstag feiern kannst, da die Wohnung dafür überhaupt nicht ausreicht und zu klein ist oder weil eben nicht genügend zu essen vorhanden ist, das du noch teilen kannst. Dann bist du raus, dann bist du abgehängt, schon zu Beginn deines Lebens, in das du eigentlich starten willst.

Das sind die Themen, die jeder am liebsten ausblendet, der davon nicht betroffen ist, weil das einfach an die Nieren geht. Es geht an die Nieren, wenn die meisten Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, zwischen drei und sechs Jahre alt sind. Wir sprechen hier also von den Kleinsten in der Gesellschaft, den Schwächsten, die besonders viel Unterstützung brauchen. Wir sprechen von den Kindern Alleinerziehender; denn diese haben das höchste Armutsrisiko.

Was müssen wir also in Angriff nehmen, um diese Armut zu bekämpfen und Chancengleichheit tatsächlich herzustellen? Eines muss uns allen klar sein: Wir

haben es in der Hand, diese Kinderarmut zu bekämpfen.

Erstens darf der Besuch einer Kita nichts kosten;

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FREI- EN WÄHLER)

denn schon hier beginnt die Chancenungleichheit in Bayern. Einige können sich das leisten, andere eben nicht. Die Kita ist und bleibt aber der Beginn von Bildung. Bildung, und dazu gehört auch frühkindliche Bildung, ist der entscheidende Schlüssel für das gesamte weitere Leben.

Zweitens brauchen wir endlich Ganztagsschulen. Ein gutes Ganztagsangebot ist ein wichtiger Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit. Das ist doch nun wirklich schon in genügend Studien nachgewiesen. Hierbei sind wir in Bayern Schlusslicht. In Bayern brauchen wir mehr guten Ganztag.

(Beifall bei der SPD)

Zum Dritten: Alleinerziehende brauchen Hilfe, wenn sie beides, Job und Familie, schaffen wollen. Die Arbeitswelt muss sich diesen Familien anpassen und nicht umgekehrt. Deshalb muss es möglich sein, eine Ausbildung auch in Teilzeit zu absolvieren. Arbeit muss sich flexibler gestalten lassen, und wir brauchen das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit.

(Beifall bei der SPD)

Finanzminister Söder schrieb kürzlich – ich konnte es in einer Zeitung lesen –, das sei kein wirkliches Problem, mit dem man sich befassen müsse, es gebe ja ganz andere Probleme, die viel wichtiger seien. Aber für die Alleinerziehenden ist das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit ein lebenswichtiges Thema.

(Beifall bei der SPD)

Schließlich – so ehrlich muss man bei diesem Thema auch sein – ist festzustellen, dass die Leistungen, die von Bund und Land kommen, oft im Widerspruch zueinander stehen und nicht zielgerichtet sind. Sie reichen auch nicht aus; die Kinderarmut steigt permanent. Die Leistungen sind für die Betroffenen aber eben auch extrem unübersichtlich. Es ist viel zu kompliziert, sie abzurufen. Deshalb brauchen wir eine Kindergrundsicherung.

(Beifall bei der SPD)

Das ist für die Betroffenen die einfachste und gerechteste Lösung. Damit stellen wir das Kind in den Mittelpunkt, seine Chancen und seine Bedürfnisse. Wenn wir hier in diesem Land 245.000 Kinder und Jugendli

che haben, die betroffen sind, dann ist das ein wunderbares und richtiges Instrument.

Dann komme ich noch zu einem gewaltigen Thema, das wir endlich angehen müssen, weil es direkt mit der Armut zusammenhängt: die Wohnungssituation. Wohnen wird für Familien in Bayern immer mehr zur Armutsfalle. Ein Grund hierfür ist natürlich der stetig sinkende Bestand an Sozialwohnungen. 1999 hatten wir 255.000 Sozialwohnungen. Vergleichen wir das mit heute, stellen wir fest, dass sich der Bestand an Sozialwohnungen halbiert hat. Wir sind jetzt bei 138.000 Wohnungen. Seit 2003 sinkt der Bestand jedes Jahr, und die Kinderarmut steigt jedes Jahr.

(Beifall bei der SPD)

Nach Schätzungen – ich vermute, dass jetzt wieder ein Zwischenruf kommt – der Stadt München haben wir da draußen vor unserer Tür 1.600 obdachlose Kinder. Warum spreche ich hier nur von Schätzungen, Frau Sozialministerin? – Wir haben keine offiziellen Zahlen. Solche offiziellen Zahlen bräuchten wir aber in einer Wohnungslosenstatistik. Diese gibt es nicht. Hier wende ich mich direkt an Sie: Warum haben wir noch keine solche Statistik, um zielgerichtet arbeiten zu können? Welche Begründung gibt es dafür? Ich denke, ein einzelnes Kapitel im Sozialbericht reicht definitiv nicht aus.

(Beifall bei der SPD)

Nicht nur wir als SPD, sondern auch die Wohlfahrtsverbände, die sich hauptsächlich um die Obdachlosen kümmern, fordern schon lange eine solche Wohnungslosenstatistik. Wir müssen endlich wissen, was in Bayern in diesem Bereich wirklich passiert.

(Beifall bei der SPD)

Nur dadurch, dass Sie keine Zahlen erheben, verschwindet die Obdachlosigkeit in unserem Lande nun wirklich nicht. Wir brauchen auch – das wissen Sie auch, Frau Müller – eine präventive Beratung für die Betroffenen. Hier ist die Staatsregierung nicht bereit, Investitionen vorzunehmen, damit die Menschen sich, bevor sie in Obdachlosigkeit stürzen, noch einmal orientieren und auch Hilfe bekommen können.

Klar ist: Sozialer Wohnungsbau und soziale Bodennutzung sind Thema Nummer eins in Bayern. Wir brauchen mindestens 20.000 geförderte Wohnungen pro Jahr, um innerhalb der nächsten fünf Jahre auch nur annähernd auf das Niveau von vor 20 Jahren zu kommen. Wir brauchen ein Sonderinvestitionsprogramm für Ballungsräume und eine gezielte Förderung im ländlichen Raum.

Darüber hinaus – ich selbst bin ja auch in einem Kreistag vertreten – müssen die Landkreise endlich berechtigt werden, sozialen Wohnungsbau zu betreiben.

(Zurufe von der SPD: Bravo! – Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es selbst in der Hand, Kinderarmut zu bekämpfen. Wir wissen, wie es geht; wir müssen es nur tun. Ich weiß, es gibt Bundesländer, in denen die Kinderarmut höher ist. Aber das ist kein Argument, auf dem wir uns als Bayern ausruhen dürfen. Bayern ist ein starkes Land. Bayern ist ein wohlhabendes Land; das heißt aber vor allem, dass wir mehr tun können; das heißt, dass wir eben keine Ausrede mehr haben, und das heißt, dass wir Kinderarmut in Bayern nicht zulassen dürfen.

(Beifall bei der SPD)

Daher meine Aufforderung heute an alle hier im Hohen Hause: Lassen Sie uns über diese Vorschläge reden. Bringen Sie eigene Vorschläge, aber lassen Sie uns nicht gegenseitig die Vorschläge der anderen vom Tisch wischen, sondern lasst uns wirklich miteinander ins Gespräch kommen. Denn wenn wir diese Woche auseinandergehen, werden wir uns alle frohe Weihnachten wünschen. Sorgen wir dafür, dass es in Zukunft frohe Weihnachten für alle in unserem Lande gibt.

(Zurufe von der SPD: Bravo! – Anhaltender Bei- fall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist der Kollege Unterländer von der CSU. Bitte sehr.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kohnen, in zwei Punkten stimmen wir sicherlich überein.

Der erste Punkt ist, dass jedes Kind, das in Armut lebt, ein Kind in Armut zu viel ist. Deswegen müssen wir alles tun, damit Armut vermieden werden kann.