Herr Kollege Gehring, Herr Dr. Goppel hat sich gerade gemeldet. Vielleicht beantworten Sie meine Zwischenbemerkung auch gegenüber Herrn Goppel, der selber einen kritischen Brief eines CSU-Oberbürgermeisters beantwortet hat. In diesem Brief hat er sich selber mit der bayerischen Schulpolitik kritisch auseinandergesetzt und erklärt, dass er die derzeitige Linie als äußerst schwierig betrachte. Meinen Sie nicht auch, dass Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort anders reden als hier, eigentlich die Berechtigung verloren haben, hier hochschlaue Wortmeldungen abzugeben?
Außerdem sollten Sie vielleicht Herrn Dr. Goppel bei der Beantwortung meiner Zwischenintervention darauf hinweisen, dass es nicht sein kann, dass Dachau sozusagen ein Hort all derjenigen Eltern in Bayern ist, die von Haus aus entscheiden: Wir wollen den Zweiten Bildungsweg einschlagen. Wenn seine Begründung zuträfe, würden sich alle bayerischen Eltern, die den Zweiten Bildungsweg wählen wollen, in Dachau konzentrieren. Das kann aber wohl nicht der Wahrheit entsprechen.
Herr Pfaffmann, ich habe es vorher ausgeführt: Der Zweite Bildungsweg und auch der Weg über die FOS und die BOS - ist in der Regel eben kein geplanter Bildungsweg, sondern ein Weg, der gegangen wird, nachdem es beim ersten nicht geklappt hat. Das ist Tatsache, ob Ihnen das gefällt oder nicht; Sie können noch so viel beraten. Ich freue mich immer, wenn sich Herr Kollege Dr. Goppel äußert. Ich habe ihn schon mehrmals erlebt als jemanden, der sich von der bisherigen CSU-Bildungspolitik ein bisschen freischwimmt. Es tut uns gut, wenn das möglichst viele in der CSU-Fraktion tun.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Dr. Spaenle, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wann - und das ist heute schon mehrfach angesprochen worden - wird es bei uns endlich selbstverständlich sein, dass unabhängig von Herkunft und Wohlstand alle gleich gute Bildungschancen bekommen? Wann wird es selbstverständlich sein, dass jemand mit den gleichen Noten die gleichen Aussichten bei einer Bewerbung hat, egal ob er Yilmaz, Krause oder anders heißt?
Mit dieser beschämenden Fragestellung hat uns alle der neue Bundespräsident Christian Wulff in seiner Antrittsrede konfrontiert. Ich zitiere unseren Bundespräsidenten sinngemäß an dieser Stelle, weil seine Aussage sehr genau zeigt, worum es auch in Bayern geht: Wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Bildungschancen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Wir brauchen mehr Chancengerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler in diesem Land.
Das ist die zentrale Herausforderung. Daran müssen sich alle künftigen Reformen unseres Bildungswesens messen lassen;
denn unsere Gesellschaft braucht jeden einzelnen Schüler. Wir brauchen alle Talente und Fähigkeiten, sonst riskieren wir die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Alle Schülerinnen und Schüler, egal welcher sozialen Herkunft, müssen in unserem Land gerechte Chancen haben.
Dies gilt auch für die Inklusion behinderter Kinder in unser Bildungswesen. Deshalb ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulwesen eine der großen Herausforderungen. Hier ziehen wir sogar fraktionsübergreifend an einem Strang. Das ist eine einmalige Leistung. Vielleicht gelingt uns diese Form der kollegialen Zusammenarbeit auch bei anderen bildungspolitischen Reformen. Es wäre ein schönes Zeichen an die Schulfamilie, dass wir nicht nur auf Konfrontation setzen. Die Leistungen unserer bayerischen Schülerinnen und Schüler und das Engagement unse
rer Lehrerinnen und Lehrer verdienen großes Lob. Heute wurde mehrfach angesprochen, wenn auch nicht von allen: Im aktuellen Ländervergleich 2009 belegt Bayern in allen getesteten Kompetenzbereichen den Spitzenplatz. Bayerns Schülerinnen und Schüler liegen deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt.
Ohne den Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer, ohne die hohe Leistungsbereitschaft unserer Schülerinnen und Schüler wäre ein solches Testergebnis nicht möglich. Ich danke der bayerischen Schulfamilie für ihr enormes Engagement.
Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Leider hat der Ländervergleich erneut die soziale Schieflage bei den Bildungschancen der Kinder bestätigt. Die Chance eines Akademikerkindes, ein Gymnasium zu besuchen - das steht in dem Bericht -, ist in Bayern 6,6mal so hoch wie die Chance eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie. Selbstverständlich darf man diesen Wert nicht isoliert betrachten.
Herr Kollege Goppel, natürlich ist der Besuch eines Gymnasiums nicht der einzige Zugang, um später eine Hochschule zu besuchen. Besonders in Bayern bieten die Beruflichen Oberschulen eine hervorragende zweite Chance für Real- und Hauptschüler. Der Mitautor des IQB-Vergleichs, Prof. Dr. Olaf Köller, hat die Reduzierung auf die Quote 6,6 sogar für eine schiefe Interpretation gehalten. Köller sagt wörtlich: "Die Botschaft kann nicht lauten, dass es in den südlichen Bundesländern im Hinblick auf das Abitur starke soziale Ungleichheiten gibt." Ich möchte mich dieser Interpretation nur zum Teil anschließen; denn im Schuljahr 2008/2009 besuchten von rund 48.000 türkischen Schülerinnen und Schülern an Bayerns Schulen nur 3.060 ein Gymnasium; wohlgemerkt: bei 380.000 Schülern an Gymnasien insgesamt. Das ist eine Quote von weniger als 1 %. Das kann und darf nicht sein. Über 16.000 der jungen Türkinnen und Türken, also mehr als ein Drittel, lernten dagegen laut dem amtlichen Statistischen Jahrbuch an einer Hauptschule. Ich sage klar: Diese Verteilung halte ich nicht für gerecht. Von bayernweit 137.000 Schülern mit einem ausländischen Pass besuchen gerade einmal 11 % ein Gymnasium und weniger als 8 % eine Realschule. Das ist kein Zeichen von Gerechtigkeit.
Für nicht gerecht halte ich auch, dass laut Münchner Bildungsbericht 15,2 % der ausländischen Schüler die
Schule ohne Abschluss verlassen. Bei den deutschen Schülern sind es dagegen nur 5,4 %. Auch die Wiederholerquote unterscheidet sich signifikant. Sie ist bei ausländischen Schülerinnen und Schülern mehr als doppelt so hoch wie bei Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund. Ich frage Sie: Ist das gerecht?
Es ist unbestritten: Die Koalitionsregierung von CSU und FDP hat gemeinsam bereits viele Reformen auf den Weg gebracht, um mehr Chancengerechtigkeit und mehr Durchlässigkeit zu erreichen. Diesen Weg wollen wir gemeinsam energisch fortsetzen.
Sehr geehrter Herr Minister Dr. Spaenle, ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich für die hervorragende Zusammenarbeit danken. Vieles von dem, was Sie heute Morgen gesagt haben, kann ich 1 : 1 mittragen. Vieles von dem, was Sie bereits umgesetzt haben, haben wir gemeinsam in die Wege geleitet. Exemplarisch möchte ich im Bereich der Grund- und Hauptschule den Abbau der Klassenstärken nennen, wenn der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund mehr als 50 % beträgt. Es wurden 372 Stellen im Haushalt bereitgestellt, um diese Klassen zu teilen. 350 zusätzliche Klassen wurden gebildet. In keiner dieser Klassen sind mehr als 25 Schüler. Das ist ein wertvoller Erfolg für mehr Chancengerechtigkeit; denn die Vergleichsstudie stellt fest: Neben der Berücksichtigung von migrationsbezogenen Merkmalen scheint ferner relevant zu sein, wie die Schülerschaft der Schule oder Klasse insgesamt zusammengesetzt ist. Das zeigt: Wir sind auf dem absolut richtigen Weg.
Aber ich sage auch: Wir haben trotzdem eine lange Wegstrecke vor uns, wenn wir wirklich das Ziel Chancengerechtigkeit für alle erreichen wollen. Chancengerechtigkeit beginnt für mich bei der frühkindlichen Bildung. Die frühe Förderung ist der Weg zu mehr Teilhabegerechtigkeit. Teilhabe ist eine der Grundfesten unserer Demokratie. Sie ist die Basis für eine faire, weltoffene und werteorientierte Gesellschaft.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, das letzte Kindergartenjahr mittelfristig für alle Kinder beitragsfrei für die Eltern einzuführen. Dieses Ziel hat für mich selbst angesichts der angespannten Haushaltslage höchste Priorität, Herr Ministerpräsident. Das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz - BayKiBiG - ist zwar eine hervorragende Grundlage; aber leider ist es bis heute nicht gelungen, die Kindergärten landesweit zu einer Bildungseinrichtung umzubauen. Deshalb plädiere ich für die Kostenfreiheit und außerdem für den Wechsel der Zuständigkeit für frühkindliche Bildung vom Sozialministerium ins Kultusministe
rium. Dies wäre ein wichtiges Signal für den Stellenwert der frühkindlichen Bildung insgesamt. In Krippe und Kindergarten werden die Grundlagen für den späteren Lernerfolg der Grundschule gelegt. Das ist unbestritten.
Wenn wir beide Bildungseinrichtungen sinnvoll verzahnen wollen, kann dies nur unter der Ägide des Kultusministeriums geschehen. Von diesem Ziel, sehr geehrte Frau Haderthauer - sie ist nicht da -,
werde ich nicht abrücken. Kindergarten und Schule gehören für diese wichtigen politischen Weichenstellungen einfach in eine Hand, und zwar in die des Kultusministers.
Ich will nicht verschweigen, dass für mich die Finanzierung einer besseren Qualität absoluten Vorrang hat. Das ist wichtiger, als die ohnehin knappen Mittel in das Betreuungsgeld für Familien zu stecken, die ihr Kind zu Hause erziehen wollen. Wir müssen bereits in der frühkindlichen Bildung in Kinderkrippe und Kindergarten mit gezielter Sprachförderung beginnen. Nur dann verbessern wir die Startchancen aller Kinder beim Eintritt in die Grundschule nachhaltig.
In dieses Konzept fügt sich auch die flexible Grundschule hervorragend ein. Die Kinder können hier zu ihrem individuellen Lerntempo finden. Die langsameren Lerner erhalten Zeit zum Ausgleich ihrer Defizite. Die schnellen Lerner können von Anfang an durchstarten. Ich hoffe, dass sich die 20 Schulen in Probe auch wirklich durchsetzen und mehr werden. Das wäre wirklich ein Durchbruch.
Die Investitionen insgesamt in die Frühförderung zahlen sich für die Gesellschaft x-fach aus. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln hat errechnet, dass eine verbesserte frühkindliche Bildung bis 2050 Mehreinnahmen von 14 Milliarden Euro bringen würde pro Jahr, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das zeigt: Bei keiner Geldanlage ist die Rendite so hoch wie bei den Mitteln, die wir heute in die Bildung investieren. Dieses Geld bringt Zinsen, von denen Banker nur träumen können.
Ich halte deshalb auch für Bayern an dem Ziel fest, 10 % des Bruttoinlandsprodukts in die Verbesserung der Infrastruktur von Schulen und Hochschulen zu investieren. Das sollte wirklich möglich sein.
- Das ist im Bund festgelegt, aber ich halte an diesem Wert auch für Bayern fest; denn wir sind da auch noch weit darunter.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber nicht nur Geld fordern. Wir können noch viele Stellschrauben nachziehen, ohne gleichzeitig nach mehr Mitteln zu rufen, zum Beispiel bei der Lehrerausbildung. Sie ist die wichtigste Grundlage für erfolgreiches Lernen an den Schulen. Hier sehe ich vor allem im Bereich der Hauptschulen einen enormen Nachholbedarf. Das zeigt der Kompetenzvergleich der Länderstudie beim Fach Englisch. Auch die empirische Bildungsforscherin im Nationalen Bildungspanel, Petra Stanat, FU Berlin, sieht die Ursache für das schlechte Abschneiden vieler Hauptschüler im Fach Englisch in der Lehrerausbildung. Sie führt in einem Interview mit "ZEIT ONLINE" vom 23.06.2010 aus, anders als Gymnasiallehrer hätten viele Englischlehrer an den Hauptschulen kein Fachstudium absolviert. Wörtlich heißt es weiter: "Sie sind seltener im Ausland, lesen kaum fremdsprachige Literatur, identifizieren sich weniger mit dem Fach." Für die Schülerinnen und Schüler ist das von Nachteil. Man muss eben auch als Lehrer Englisch sehr gut beherrschen, damit die Schülerinnen und Schüler die erforderlichen Lernfortschritte erzielen.
Meine Damen und Herren, das zeigt, guter Unterricht hängt entscheidend vom fachdidaktischen Wissen der Lehrkräfte ab. Wir müssen die Lehrerausbildung deshalb so weiterentwickeln, dass an unseren Schulen pädagogisch und didaktisch der bessere Unterricht stattfindet. Dazu müssen wir die besten Abiturienten, insbesondere auch mit Migrationshintergrund, für den Lehrerberuf gewinnen und motivieren. Wir müssen die Praktika an den Schulen und Universitäten noch professioneller begleiten. Das kostet nicht unbedingt mehr Geld, sondern erfordert vor allem mehr Engagement und Kooperation. Das Referendariat sollte durch eine Modularisierung auf die individuellen Stärken und Schwächen der künftigen Lehrkräfte eingehen. Auch das, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist eine organisatorische Reform, sie kostet nichts und bringt viel.
Zu guter Letzt sind die Lehrkräfte aufgefordert, sich in ihrem gesamten Berufsleben ständig weiter- und fortzubilden. Besonders an den Hauptschulen müssen wir in Zukunft diese fachlich und didaktisch bestens ausgebildeten Lehrer einsetzen. Nur dann kann es gelingen, für die schwächeren und schwächsten Schülerinnen und Schüler Teilhabegerechtigkeit herzustellen. Ich sage ganz deutlich: Von der Qualität und Motivation der Lehrer wird auch der Erfolg der neuen Mittelschule abhängen, die wir gestern aufs Gleis gesetzt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis hier im Haus, dass ich eine Verfechterin einer längeren gemeinsamen Schulzeit von sechs Jahren bin.
(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Wo ist der Antrag? - Thomas Hacker (FDP): Regierung beschränkt sich nicht auf das wiederholte Stellen der immer gleichen Anträge!)
In dieser Legislaturperiode ist dieses Ziel nicht durchsetzbar. Aber mit einem Kompromiss sind wir dem Ziel trotzdem einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Auf Betreiben der Liberalen wurden alle fünften Klassen an den weiterführenden Schulen zu Gelenkklassen - oder besser: Orientierungsklassen umgebaut. Die Abstimmung der Lehrpläne ist in Bearbeitung. Die Kinder erhalten so mehr individuelle Förderung und eine zweite Chance zum aufsteigenden Übertritt in eine weiterführende Schule. Das bedeutet höhere Durchlässigkeit.