Protocol of the Session on July 18, 2012

Das ist kontraproduktiv und nicht im Sinne unserer Kinder. Wir brauchen ein vernünftig aufeinander abgestimmtes tragbares Gesamtkonzept im Bildungswesen. Da haben wir noch genügend zu tun.

Das eigentliche Problem liegt darin, dass unser Bildungssystem seit Jahren zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät und wir nun Lösungen finden müssen, um eine vernünftige Balance herzustellen. Sie werden sicher fragen: Was fordern wir zur Verbesserung des Bildungswesens? Wenn wir den Übertrittsdruck in den Grundschulen sinnvoll reduzieren wollen, brauchen wir in erster Linie wirkungsvolle Maßnahmen, die die Möglichkeit eines hochwertigen Bildungsabschlusses für möglichst alle lange offen halten. Hierzu brauchen wir wohnortnahe Schulen, die ein Profil anbieten, das von den Betroffenen, nämlich den Eltern, Lehrern und Schülern, akzeptiert und mitgetragen wird, in dem sie sich wiederfinden, mit dem sie sich identifizieren können und in dem sie sich auch ernst genommen fühlen.

Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es einige sinnvolle und geeignete Maßnahmen. In unseren Augen ist eine engere Verzahnung zwischen frühkindlicher und schulischer Bildung dringend erforderlich. Dabei ist

die Beratung und Einbeziehung der Eltern ins Schulleben, vor allem auch der Eltern aus bildungsferneren Schichten, von Anfang an notwendig. Ich möchte einmal die Elternbesuche ins Gespräch bringen, die an den Förderschulen durchaus üblich sind. Sie kosten Zeit, aber diese Besuche sind mit der Vorbereitungszeit der Lehrkräfte durchaus zu bewältigen.

Wir müssen die flexiblen Eingangsklassen auf ganz Bayern ausdehnen. Wir müssen die flexible Grundschule auch auf die Klassen drei und vier ausdehnen. Dadurch würde es gelingen, die Lernzeit von der Schulzeit abzukoppeln. Damit könnten die Kinder wesentlich besser individuell gefördert werden. Dringend notwendig ist der Ausbau des Ganztagsunterrichts an der Grundschule. Darüber haben wir erst letzten Donnerstag im Bildungsausschuss im Zusammenhang mit einem Paket von Anträgen zur Ganztagsschule diskutiert. An Ganztagsangeboten an der Grundschule mangelt es ganz erheblich. Besonders betonen möchte ich dabei, dass für diese Angebote eine wesentlich bessere personelle Ausstattung der Schulen notwendig ist. Nur so kann die individuelle Förderung, die wir gemeinsam für extrem wichtig halten, überhaupt gelingen. Ganz besonders wichtig ist eine Öffnungsklausel, damit die Entwicklung des Ganztagsunterrichts in der Grundschule endlich vorankommt.

In allen diesen Punkten gehen wir mit Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, konform. Wir unterstützen die von Ihnen eingebrachten Initiativen, weil sie auch aus unserer Sicht sinnvoll sind.

Wir FREIE WÄHLER wollen darüber hinaus, dass jahrgangskombinierte Klassen an Grundschulen endlich mit einem pädagogischen Konzept und ausreichend Differenzierungsstunden ausgestattet werden. Dabei sind wir wieder beim Thema Personal. Wir wollen kein Nebeneinander und keinen Mischmasch von jahrgangsreinen und jahrgangskombinierten Klassen an einer Schule. Jahrgangskombinierte Klassen dürfen kein Sparmodell sein, sondern müssen ausreichend mit Stunden bestückt sein, um ein pädagogisches Wirken zu ermöglichen. Die Eltern müssen Vertrauen in unser Bildungssystem haben. Ich gehe sogar weiter: Die Eltern haben einen Anspruch darauf, dass ihre Kinder optimal gefördert werden und dass die schulischen Rahmenbedingungen stimmen.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Das gilt vor allem für ein Land, in dem laut Erklärung der Staatsregierung so viel Wert auf Bildung gelegt wird.

Eine weitere wichtige Maßnahme scheint mir die enge Verzahnung der Lehrpläne der einzelnen Schularten

zu sein. Damit müssen wir schneller vorankommen. Ansätze dafür sind da. Es gibt aber noch viel zu tun.

Meine Damen und Herren, das waren nur einige Maßnahmen, die wir in Angriff nehmen müssen. Das erwarten aber die Bürgerinnen und Bürger, die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und nicht zuletzt auch die Schülerinnen und Schüler von uns. Zielführend ist in unseren Augen nicht die Freigabe des Elternwillens. Obwohl wir uns in vielen Teilen Ihres Gesetzentwurfs wiederfinden, werden wir uns gerade wegen der Freigabe des Elternwillens enthalten.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN - Zurufe von der CSU: Oh, oh, oh!)

Als Nächste hat Frau Kollegin Renate Will von der FDP-Fraktion das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Gehring, sehr geehrter Herr Güll, Sie regen immer wieder an, dass sich in unserem Bildungssystem etwas verändern muss. Auch ich weiß, dass es in der dritten und der vierten Klasse Stress gibt. An der Debatte stört mich immer wieder, dass Sie suggerieren, der Übertritt nach der vierten Klasse wäre der einzige und wichtigste Übertritt im Leben. Der Übertritt nach der Grundschulzeit ist sicher eine bedeutsame Weggabelung im Leben eines Kindes. Bei der Ersten Lesung habe ich aber schon gesagt, dass diese Weggabelung keine Einbahnstraße ist. Durch die zunehmende Durchlässigkeit unseres bayerischen Bildungssystems verliert diese Weggabelung zunehmend an Bedeutung.

Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens immer wieder mit Übergängen konfrontiert. Die ersten wichtigen Übergänge erfolgen schon im Kindesalter, nämlich von der Familie in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Grundschule und von der Grundschule in die weiterführende Schule. Wir haben diese Übergänge immer mit Lotsen begleitet. Das kann fortgeführt werden, es gibt viele Maßnahmen, um diese Begleitung zu verbessern.

Nach der Schullaufbahn ist das Leben der Menschen auch noch von Übergängen gekennzeichnet. Nach der Schule kommen der Studienbeginn, der Berufseinstieg und schließlich der Ruhestand. Alle Übergänge und die damit verbundenen Änderungen im Leben sind Herausforderungen, denen wir uns immer wieder aufs Neue stellen müssen.

Wir sollten endlich mit dem Märchen aufhören, dass mit der Abschaffung der Übertrittsempfehlung die soziale Ungleichheit abgeschafft würde. Alle Studien

und empirischen Untersuchungen belegen vor allem eines: Durch die völlige Freigabe des Elternwillens gibt es weder im Schulsystem noch bei der Chancengerechtigkeit Verbesserungen. Im Gegenteil, die Dollmann-Studie, die heute schon zitiert worden ist, bestätigt, dass beispielsweise in Nordrhein-Westfalen die soziale Ungleichheit durch die totale Freigabe des Elternwillens sogar größer geworden ist. Die völlige Freigabe hat weder in Hamburg noch in Berlin zu besseren Ergebnissen geführt. Ich bleibe dabei: Wir haben den Elternwillen gestärkt - Kollege Nöth hat es vorhin schon ausgeführt - und viele andere Maßnahmen eingeleitet, um den Übertritt nach der vierten Klasse zu erleichtern.

Wir Liberale lehnen aber eine totale Freigabe ab. Außerdem sind die Lehrerempfehlungen besser als ihr Ruf. Herr Güll, Sie sollten auch wissen, es ist nicht ohne, wenn die Empfehlungen abgegeben werden. Die Praxis zeigt, dass der Elternwille einen starken Einfluss hat. Kai Maaz vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat bestätigt:

In allen Studien wird der starke Einfluss der Herkunft der Schüler auf den Übertritt aufs Gymnasium sehr deutlich. So lässt sich der soziale Einfluss beim Kompetenzerwerb, den Schulnoten sowie den Übergangsempfehlungen nachweisen.

Die Eltern sollten sich jedoch nicht von Wünschen leiten lassen, sondern neben der Beratung, die bereits in der dritten Klasse beginnt, auch eine Basis haben, die objektive Kriterien enthält. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Schule richten sich nach Standards zur Leistungserhebung. Noten kommen also nicht willkürlich zustande. Das ist festzuhalten und entscheidend. Da müssen wir ansetzen. Akademiker sollten ihre Kinder nicht ohne Eignung aufs Gymnasium schicken können, und Eltern aus weniger privilegierten Schichten sollten mehr motiviert werden, ihre fürs Gymnasium geeigneten Kinder dorthin zu schicken.

(Beifall bei der FDP)

Für einen gerechteren und gemilderten Leistungsdruck gibt es zahlreiche geeignete Maßnahmen. So sollten die Noten nicht nur produktorientiert, sondern auch prozessorientiert sein. Für uns Liberale ist es sehr wichtig, dass zusätzlich zu den kognitiven Leistungen ein Portfolio - Verbalbericht, Entwicklungsbericht hinsichtlich der Kompetenzen und Stärken - in musischen, sportlichen oder sozialen Bereichen eine Rolle spielt, um den Schüler ganzheitlich zu sehen. Diese alternativen Leistungsbeurteilungen sind für die Persönlichkeitsentwicklung eines Schülers und einer Schülerin wichtig und tragen dazu bei, einen ganzheitlichen Ansatz der Stärken und Schwächen zu berück

sichtigen und umzusetzen, um die Kinder individuell fördern zu können. Dies gilt aber nicht nur für den Übertritt, sondern für die gesamte Schullaufbahn.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Wir brauchen eine objektive Leistungsbeurteilung mit Hilfe von Noten und eine ganzheitliche Sicht aufs Kind, unterstützt durch eine intensive Begleitung der Eltern. Wirkliche Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit lassen sich weder durch Elternentscheidung noch durch Notengebung erzielen. Am besten wäre es, wenn bei der Übertrittsentscheidung verschiedene Beurteilungskriterien wie standardisierte Beurteilungssysteme, Leistungstests und die intensive Elternberatung kombiniert würden. Dann wird auch der familiäre Hintergrund eines Schülers und einer Schülerin an Bedeutung verlieren.

Diesen Gesetzentwurf lehnen wir ab; denn die Freigabe des Elternwillens alleine wird nichts ändern.

(Beifall bei der FDP und der CSU)

Als letzter Redner hat nun Herr Staatssekretär Bernd Sibler das Wort. Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Das angesprochene Übertrittsverfahren ist in den Jahren 2008/2009 deutlich modifiziert worden.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Wir haben die Beratung für die Eltern und die Schülerinnen und Schüler deutlich ausgeweitet. Die Proben in der vierten Klasse sind mittlerweile angesagt, außerdem haben wir prüfungsfreie Korridore festgelegt, um den Stress der unangesagten Proben und die Unsicherheit, ständig für Proben gewappnet zu sein, deutlich zu reduzieren. Wir haben den Elternwillen in Form des Probeunterrichts deutlich gestärkt. Das Verfahren hat Herr Kollege Nöth angesprochen. An diesem Punkt sollte man statt "Elternwillen" vielleicht besser "Verantwortung" sagen. Herr Güll, beim Probeunterricht ist der Elternwille gestärkt worden.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Güll (SPD))

- Ja, genau, da ist es ausgebaut worden.

(Martin Güll (SPD): Aber nur bei einem Prozent aller Fälle!)

- Ja, aber wir haben uns auf den Weg gemacht. Der Elternwille ist also deutlich gestärkt worden. Auch die Internetumfrage wurde angesprochen. Lieber Herr Güll, die ist deutlich differenzierter, als Sie dargestellt

haben. Sie haben den Vergleich zwischen der dritten und der vierten Klasse nicht vorgetragen. Man merkt, dass in der dritten Klasse tatsächlich noch ein Stück Skepsis besteht. In der vierten Klasse haben die Verfahren aber eine deutlich bessere Akzeptanz. Das bedeutet, sie haben sich eingeschliffen, und sie sind nicht so eindimensional, wie Sie das dargestellt haben. Lieber Herr Gehring, das mag auch als Beleg für eine steigende Akzeptanz gewertet werden.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Güll (SPD))

Wir haben eine höhere Akzeptanz für dieses Verfahren. Lieber Herr Felbinger, an dieser Stelle will ich auch anfügen, die Verzahnung der Übergänge ist von entscheidender Bedeutung. Gerade beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule haben wir durch die verstärkte sprachliche Förderung einen wichtigen Weg beschritten. Beide Systeme haben hier schon mehr voneinander gelernt, sie sind deutlich aufeinander zugegangen. Diesen Weg wollen wir auch in Ihrem Sinne künftig noch weiter gehen.

Meine Damen und Herren, für uns gilt: Kein Abschluss ohne Anschluss. Die Entscheidung nach der vierten Klasse ist eben keine abschließende Entscheidung, im Gegenteil. An vielen Knotenpunkten einer Schullaufbahn haben Sie die Möglichkeit, Anstrengungsbereitschaft vorausgesetzt, etwas nachzuholen. Falls der berühmte Knoten erst später aufgehen sollte, können andere Laufbahnen eingeschlagen werden. Ob "Neun plus zwei", die Vorklassen oder die berühmten 43 % Hochschulzugangsberechtigungen über die Fachoberschulen und die Berufsoberschulen, all das zeigt: Es gibt vielfältige Übergangsmöglichkeiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich den Grundschullehrkräften ein großes Kompliment machen. Die Prognosen, die von ihnen erstellt werden, haben eine hohe Treffergenauigkeit. Deshalb: Vielen herzlichen Dank für die tolle Arbeit, die von den Grundschullehrkräften geleistet wird.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Wenn alle Prognosen, über die wir hier im Landtag diskutieren, so hohe Trefferquoten hätten, wäre mir bei vielen politischen Entscheidungen deutlich wohler. Das möchte ich an dieser Stelle schon einmal betonen.

Die Artikel im "Tagesspiegel" hat Herr Kollege Nöth schon zitiert. Es ist bemerkenswert, was sich in Berlin tut. Ein Bundesland, in dem seit Jahren der Elternwille frei ist, befindet sich in einer dramatischen Situation. Viele Kinder und Jugendliche, die offensichtlich falsch

geleitet wurden, kommen jetzt zurück, mit allen Verwerfungen in dem Schulsystem. Auch in Baden-Württemberg haben Sie derzeit diese Debatte. Die Freigabe des Elternwillens führt zu einem massiven Eingriff in die Schulstruktur. Das muss man auch bedenken, wenn sich alle auf die Fahnen schreiben, die Mittelschulstandorte erhalten zu wollen. Ich bitte, auch diese Diskussion nicht aus den Augen zu lassen.

Ich will auch noch einen anderen Punkt dick unterstreichen, auf den Herr Kollege Nöth und Frau Will hingewiesen haben: Durch die komplette Freigabe des Elternwillens werden die sozialen Unterschiede eher größer; denn die Bildungsaspiration ist bei Eltern mit einem entsprechenden Hintergrund einfach höher. Das belegen die Zahlen aus Hamburg und Berlin.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Güll (SPD))

Ich darf auch auf Studien von Jürgen Baumert und Eckhard Klieme verweisen. Ich darf Sie alle beruhigen, wir haben es in dem Entwurf der Staatsregierung zum Doppelhaushalt geschafft, auch eine positive Entwicklung der Stellen für das nächste und das übernächste Schuljahr fortschreiben zu können. Lieber Herr Felbinger, dass die Lehrplanarbeit intensiv läuft, haben auch Sie mitbekommen. Als Stichwort nenne ich: Lehrplan plus. Auch da geht es um die bessere Organisation von Übergängen. Das ist uns ein wichtiges Anliegen. Ich bin dankbar, dass die Koalitionsfraktionen schon signalisiert haben, diesen Gesetzentwurf ablehnen zu wollen. Ich bedanke mich auch bei den FREIEN WÄHLERN, die sich enthalten wollen.

(Beifall bei der CSU und der FDP)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aussprache ist damit geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Die Abstimmung wird in namentlicher Form durchgeführt. Der Abstimmung liegt der Gesetzentwurf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 16/12317 zugrunde. Der federführende Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport empfiehlt auf Drucksache 16/13171 die Ablehnung des Gesetzentwurfs. Wir beginnen nun mit der namentlichen Abstimmung. Die Urnen sind an den bekannten Stellen an den beiden Türen und vorn, vor dem Redepult, aufgestellt. Für die Abstimmung sind fünf Minuten angesetzt. Die Abstimmung ist eröffnet.

(Namentliche Abstimmung von 11.09 bis 11.14 Uhr)