Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die 31. Vollsitzung. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde wie immer erteilt.
Sie hat eine Aktuelle Stunde beantragt zum Thema: „Arm an Bildung, arm an Chancen – Bildungsarmut in Bayern bekämpfen“.
Die Redezeitregelungen sind bekannt: für jede Rednerin/ jeden Redner fünf Minuten, auf Wunsch der Fraktion eine Rednerin oder ein Redner zehn Minuten. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung für mehr als zehn Minuten das Wort, erhält eine Fraktion auf Antrag eines ihrer Mitglieder zusätzlich fünf Minuten Redezeit. Ich bitte, auch auf das Redezeitsignal zu achten.
Ich habe auch gerade geschaut. Ich darf die Vertreter der Staatsregierung bitten, zu forschen, wo eine Vertreterin/ein Vertreter des Kultusministeriums ist, Minister oder Staatssekretärin.
Ich weiß nicht, ob die Ministerin im Moment noch Ministerin ist. Es schwirren so allerlei Gerüchte durch den Raum. Aber das Thema der Aktuellen Stunde ist unabhängig davon, wer im Moment gerade Bildungsministerin oder -minister der CSU ist, ein aktuelles Thema und ein dramatisches dazu.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor fünf Jahren wurde es Ihnen zum ersten Mal ins Stammbuch geschrieben: Der Bericht zur sozialen Lage in Bayern stellte 1999 fest, dass es in Bayern etwas gibt, was man Bildungsarmut nennt. Bildungsarmut bedeutet – für diejenigen, für die der Begriff noch immer fremd sein mag –, dass Jugendliche am Ende ihrer Schulzeit die Schule ohne jeglichen Schulabschluss verlassen, dass sie dann auf einen Arbeitsmarkt kommen, auf dem sie überhaupt keine Chancen haben, und dass sie damit auch in materielle Armut abrutschen, sozusagen von der Schule in die Sozialhilfe.
Diese Situation hat sich leider in den letzten Jahren in Bayern nicht verändert. Der Anteil an jungen Leuten, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist seit 1995, also seit zehn Jahren, anhaltend hoch bei 8 bis 10 % eines Jahrgangs in der Hauptschule und bei 15 bis 20 % bei der beruflichen Bildung.
Eines ist klar – und darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen: Bildungsarmut, also die Tatsache, dass ein Jugendlicher die Schule ohne Abschluss verlässt, ist nicht das Versagen des einzelnen Jugendlichen, es ist das Versagen unseres Bildungssystems und Ihrer Bildungspolitik insgesamt.
Wenn wir in andere Länder schauen, nach Kanada, nach Finnland, dort sind die Jugendlichen nicht klüger oder von Haus aus fleißiger. Aber dort ist es das Ziel der Bildungspolitik, kein Kind ohne Abschluss von der Schule zu lassen. Das Motto heißt: Kein Kind darf verloren gehen, und diesem Ziel werden die erfolgreichen Pisa-Länder gerecht, wir in Bayern leider überhaupt nicht. Unser Bildungssystem schafft es nicht, den Jugendlichen die absolut notwendige Grundlage zu liefern, die sie für ihr späteres Leben brauchen, nämlich einen schulischen Abschluss. Schon vor fünf Jahren, als Ihnen dies ins Stammbuch geschrieben wurde, hat Sie nicht so sehr die Tatsache dieser Bildungsarmut empört, sondern über das Wort haben Sie sich aufgeregt. Das durfte nicht sein. Ich kann das auch verstehen aus Ihrer Sicht: Da wurde der Finger in die Wunde des bayerischen Bildungssystems gelegt.
Ich weiß auch nicht, eigentlich wäre das Thema schon dramatisch genug, um in diesem Haus eine höhere Präsenz zu haben.
Ich hoffe, das ist nicht ein Ausdruck der Wertschätzung bzw. Geringschätzung dieser Jugendlichen, die Sie so an den Rand stellen, die Sie so ausgrenzen. Ich hoffe das nun doch nicht.
Unser Bildungssystem versagt bei der Förderung der Kinder, die nicht schon von zu Hause gefördert werden. Damit ist gute Bildung weniger eine Frage dessen, was einer im Kopf hat, sondern aus welcher Familie einer kommt. Diese Tatsache, dass es weniger um Leistung geht, sondern um den familiären Hintergrund, ist eindeutig ein Relikt aus der Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts und hat überhaupt nichts zu tun mit den Werten und Versprechungen einer demokratischen und offenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert.
Sie haben bisher die Tatsache, dass es Bildungsarmut in Bayern gibt, mit einem Tabu belegt. Sie leugnen bis heute diese Realität, und deshalb wollten Sie auch keine Fortschreibung des Landessozialberichts und des Berichts
zur Bildungsarmut. Dafür ist Ihnen das Geld offensichtlich zu schade. Wenn ich mir aber anschaue, wie viel Geld Sie in den letzten sechs Jahren ausgegeben haben für alle möglichen oder unmöglichen Gutachten und Beraterverträge, 40 Millionen Euro haben Sie in den letzten Jahren zur Verfügung gehabt für zum Teil völlig schwachsinnige Gutachten, die dann gleich wieder in der Schublade verschwunden sind. Die halbe Million Euro, die nötig gewesen wäre, um den Landessozialbericht und den Bildungsarmutsbericht fortzuschreiben, hatten sie dann nicht mehr, das war nicht mehr drin. Das ist auch wieder klar, denn mit den Schattenseiten Ihrer Politik wollen Sie nicht konfrontiert werden. Da halten Sie es lieber mit den drei Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – und natürlich auch kein Verantwortung übernehmen.
Wir GRÜNE, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, können und wollen Ihnen diese Realität nicht ersparen. Denn wenn es um Bildungsarmut geht, geht es um die Zukunftschancen von mehr als 10 000 Kindern und Jugendlichen. Pro Jahr verlassen über 11 000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss, und es geht um die Zukunftschancen genau dieser Jugendlichen. Deswegen hat meine Fraktion auch auf Fraktionskosten eine Fortschreibung dieses Berichts in Auftrag gegeben, und ich kann es Ihnen nicht ersparen, dass ich einige Ergebnisse noch einmal zusammenfasse. Die Ergebnisse sind insgesamt menschlich bedrückend und politisch skandalös.
Es lässt sich in den letzten zehn Jahren in keiner Weise irgendeine Entspannung oder gar Verbesserung der Situation feststellen. Im Bereich der beruflichen Bildung haben wir es eher mit einer Verschärfung zu tun. Besonders bedrückend ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass diese Bildungsarmut von Generation zu Generation weitervererbt wird, dass die Jugendlichen, die aus einer Familie kommen, wo schon die Eltern keine Bildungsabschlüsse hatten, selber auch in hohem Maße keine Chance haben. Das ist eine absolut verheerende Tatsache.
Das ist in Bayern in noch höherem Ausmaß der Fall als in anderen Bundesländern. Damit entsteht ein Teufelskreis aus mangelnder Förderung innerhalb der Familie, aus mangelnden Bildungschancen in der Schule und aus gesellschaftlicher Benachteiligung und Ausgrenzung. Diese Tatsache ist aus unserer Sicht der größte Skandal der bayerischen Sozial- und Bildungspolitik.
Nicht nur arm, sondern bettelarm sind in diesem Zusammenhang Kinder aus ausländischen Familien. Migrantenkinder sind eindeutig die Verlierer des bayerischen Bildungssystems. In Bayern haben diese Jugendlichen ein noch höheres Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, als in allen anderen Bundesländern. Seit Jahren gilt: je höher der Bildungsabschluss, desto niedriger der Ausländeranteil.
Der Migrantenanteil an den Gymnasien liegt seit Jahren konstant bei 3,5 %. An der Hauptschule sind es 13 %. Wir haben ungefähr 8 % Ausländeranteil in Bayern.
Das Schlimmste: Ein Viertel aller Migrantenkinder verlässt die Schule ohne Abschluss. Hier entsteht der soziale Sprengstoff in unserer Gesellschaft. Hier entstehen die Konflikte, die der Innenminister später versucht, mit Polizeigewalt und markigen Sprüchen zu bekämpfen. Das Geld, das in die Bildung investiert wird, können Sie später im Etat des Innenministeriums einsparen.
Die Kultusministerin, von der ich nicht weiß, ob sie es im Moment noch ist, rühmt sich gerne, dass sie so viel für die Förderung der Migrantenkinder tut. Sie sagt, dass sie die Zahl der Sprachlernklassen in diesem Schuljahr von 104 auf 220 mehr als verdoppelt habe. Das ist natürlich sehr schön, und wir freuen uns darüber. Wenn man allerdings etwas genauer hinsieht, sieht man, dass es der übliche Tropfen auf dem heißen Stein ist. Wir haben 220 Sprachlernklassen in ganz Bayern; bei maximal 15 Kindern in einer Klasse sind das 3300 Kinder in Bayern, die in den Genuss dieser Förderung kommen. Wir haben aber über 83 000 ausländische Kinder an den Grund- und Hauptschulen. Wer ein bisschen kopfrechnen kann, stellt schnell fest, dass gerade einmal 4 % aller ausländischen Kinder in den Genuss dieser Sprachlernklassen kommen. Das ist sicherlich besser als nichts, aber es ist in der Tat überhaupt kein Grund zum Jubeln oder dafür, die Anstrengungen aufzugeben.
Dabei ist es für die Staatsregierung überhaupt kein Problem, ganz nebenbei einmal die Hausaufgabenbetreuung für die Migrantenkinder zu streichen. Ich muss sagen, wirkliche Anstrengungen sehen anders aus.
Die Kultusministerin hat in der letzten Woche gefordert, wieder eine Kultur der Anstrengung in den Schulen zu etablieren. Dazu kann ich nur sagen, es wäre dann nötig, dass sich das Kultusministerium – ich formuliere das jetzt einmal so neutral – erst einmal selbst anstrengt, die größten Defizite im bayerischen Bildungssystem zu beseitigen und für gleiche und gerechte Bildungschancen für alle Kinder zu sorgen.
Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig. Wenn ich mir ansehe, was für die nächsten Jahre geplant ist, komme ich zu dem Ergebnis: Wir haben in Bayern im Bildungsbereich eine Umverteilung von unten nach oben. Sie kürzen und streichen im nächsten Doppelhaushalt in der Grund- und Hauptschule und investieren in das Gymnasium und in die Realschule. Ich gönne das den Realschulen und auch den Gymnasien, aber es ist unverantwortlich, dass Sie gerade bei der Schulart kürzen, die die meisten Probleme hat und die die meiste Unterstützung braucht.
Ich fordere Sie auf, unterlassen Sie diese unverantwortlichen Streichungen! Unterstützen Sie die Kinder und Jugendlichen in der Hauptschule. Denn wenn Sie hier wirklich gute Bildungsleistungen haben, kommen wir unserem Ziel, im Pisa-Vergleich im oberen Drittel zu sein, ein gutes Stück näher.
Sehr geehrter Herr Präsident, liege Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir einmal zurück zu den Tatsachen, Frau Kollegin Bause. Alle vorliegenden Studien, die es auf nationaler und internationaler Ebene gibt, belegen, dass die Schülerinnen und Schüler in Bayern und in Baden-Württemberg bessere Ergebnisse erzielt haben als die Schülerinnen und Schüler in den anderen Ländern Deutschlands.
Dies sind vor allem die Länder, meine Damen und Herren von Rot und Grün, in denen Sie in der Regierungsverantwortung stehen.