Protocol of the Session on May 12, 2004

ob förmliche Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. Mir ist bei Ihren Äußerungen in der Tat – ich muss das noch einmal sagen – Ihre Haltung nicht klar geworden. Es ist ja recht und schön, dass Sie skeptisch sind, aber eine Entscheidung muss getroffen werden. Die Menschen in unserem Land erwarten dazu zu Recht eine klare Aussage. Wir reden ja nicht davon, ob der Beitritt im Jahr 2050 oder sonst wann denkbar ist, sondern wir reden davon, ob jetzt konkret zeitnah förmliche Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Die CSU sagt den Bürgerinnen und Bürgern klar, dass sie das jetzt nicht für richtig hält. Die SPD und die GRÜNEN sagen, dass sie es jetzt für richtig halten. Dann wissen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, woran sie sind. Ich halte es für legitim, dass man das vor einer solchen Wahl den Wählerinnen und Wählern ohne jede Polemik, aber in aller Deutlichkeit sagt.

Herr Herrmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Maget? –

Ich frage Sie ohne Polemik: Wenn es so ist, dass die Frage, ob es zu Beitrittsverhandlungen kommt, vom Inhalt und vom Ergebnis des Berichts der Europäischen Kommission dazu abhängig gemacht wird, warum erstellt dann eine Europäische Kommission einen Bericht, auf dessen Grundlage entschieden werden soll, ob es zu Beitrittsverhandlungen kommen kann, wenn Sie vorher schon wissen, dass Sie ohnehin dagegen sind, gleichgültig, was in diesem Bericht steht? Können Sie mir erklären, warum Sie dann einen solchen Bericht in Auftrag gegeben haben?

(Beifall bei der SPD)

Bitte, Herr Kollege Herrmann.

Herr Kollege Maget, wir werden den Bericht der Kommission natürlich sehr sorgfältig lesen.

(Franz Maget (SPD): Sie wissen doch schon, was Sie dazu sagen werden, also ist doch belanglos, was drinsteht!)

- Entschuldigung, Kollege Maget, die Türkei ist doch kein Land, dessen Beitritt man nur anhand von Geheiminformationen beurteilen könnte.

(Franz Maget (SPD): Dann brauchen wir keinen Bericht!)

Es ist ja gut, wenn ein konkreter Bericht, zum Beispiel zu den Wirtschaftsdaten, vorgelegt wird. An die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei kann man in der Tat mit wissenschaftlichen Prognosen herangehen. Da Sie aber so eingehend danach fragen, will ich Ihnen einige Erkenntnisse sagen, die schon heute aufgrund der politischen Bewertung der Lage in der Türkei offenkundig werden. Ich nenne zunächst das Thema „Menschenrechte“, das gerade in der sozialdemokratischen Partei traditionell Interesse gefunden hat und auch jetzt finden sollte.

(Franz Maget (SPD): Richtig!)

Trotz Verbesserungen in der Gesetzgebung gibt es nach wie vor in der Türkei – da sollten wir uns eigentlich einig sein – gravierende rechtsstaatliche Defizite.

(Franz Maget (SPD): Richtig!)

Menschen- und Minderheitenrechte sind in der Türkei nicht vollständig gewährleistet.

(Franz Maget (SPD): Richtig!)

Auch Amnesty International berichtet von verbreiteter Folter und Polizeiwillkür in der Türkei.

(Franz Maget (SPD): Richtig, richtig!)

Lieber Herr Kollege Maget, wie können wir

(Franz Maget (SPD): Deswegen können sie jetzt nicht beitreten!)

jetzt hören Sie doch auch einmal zu! – mit einem Land Beitrittsgespräche aufnehmen, dessen Staatsangehörige nach wie vor hier bei uns in Deutschland als politisch Verfolgte gelten? Im Jahr 2003, also im vergangenen Jahr, sind immerhin 713 Asylanträge türkischer Staatsbürger in Deutschland nach dem Grundgesetz bewilligt worden. Das heißt, das dafür zuständige Bundesamt, das von Ihrem früheren Fraktionskollegen Schmid geleitet wird, stellte im Jahr 2003 in der Türkei eine so große politische Verfolgung fest, dass allein im letzten Jahr 713 Asylbewerber anerkannt wurden. Gleichzeitig treten Sie dafür ein, dieses Land in die EU aufzunehmen. Nicht irgendwann, sondern jetzt wollen Sie mit den Beitrittsverhandlungen beginnen. Das ist doch aberwitzig.

(Beifall bei der CSU – Widerspruch des Abgeord- neten Franz Maget (SPD))

Auch die Christen in der Türkei werden gegenüber der muslimischen Mehrheit nach wie vor benachteiligt. Das sagen Ihnen auch die beiden großen christlichen Kirchen in unserem Land. In Deutschland gibt es heute schon weit

über 100 Moscheen. Das ist richtig so und entspricht unserem Verständnis von Religionsfreiheit. Gerade deshalb sage ich sehr deutlich: Es darf nicht schwieriger sein, eine christliche Kirche in der Türkei zu bauen, als eine Moschee in Deutschland. Das muss zuerst gewährleistet werden, ehe wir weiter über den Beitritt der Türkei verhandeln.

Wir müssen auch die natürlichen geographischen Grenzen beachten. Wollen wir wirklich Europa bis in die Ausläufer des Kaukasus oder an die Ufer von Euphrat und Tigris ausdehnen? Ich bin davon überzeugt: Wer die Probleme Kurdistans oder Arabiens in die Europäische Union holen will, macht jede Hoffnung auf ein wirklich einiges Europa in den nächsten Jahren zunichte. Das wäre meines Erachtens in der Tat unverantwortlich.

Der frühere türkische Ministerpräsident Özal hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine ganze Zeit intensiv daran gearbeitet, eine engere Zusammenarbeit der Turkvölker, beispielsweise auch mit Turkmenistan und anderen GUS-Staaten, zustande zu bringen. Das ist zwar legitim, aber das ist auch ein Indiz dafür, dass die Türkei eine Brückenfunktion zwischen Europa und Asien hat und sich innerlich nicht eindeutig in eine Richtung orientiert. Es ist ganz legitim, dass sich die Türkei die Tür auch in die andere Richtung offen halten will. Darüber kann man doch unaufgeregt, nüchtern und, wie ich betone, in aller Freundschaft mit den türkischen Partnern sprechen.

Meine Damen und Herren, deshalb ist unser Konzept der privilegierten Partnerschaft mit der Türkei für absehbare Zeit der bessere Weg. Wir wollen die Freundschaft mit der Türkei stärken und deren demokratische Entwicklung unterstützen. Millionen deutscher Urlauber erleben die Türkei doch als ein herrliches, gastfreundliches Land. Die Handelsbeziehungen zwischen Bayern und der Türkei entwickeln sich gut. Ich freue mich auch ganz persönlich darüber, dass meine Heimatstadt Erlangen erst vor wenigen Monaten eine Partnerschaft mit Beikta in Istanbul gegründet hat. Wir freuen uns darüber, dass wir Freunde in Istanbul und in Ankara haben, wie wir uns auch darüber freuen, dass wir Freunde in Tel Aviv und Jerusalem haben. Aber nicht alle mit uns befreundeten Regionen können sinnvollerweise Mitglied der Europäischen Union werden.

Ich möchte noch einige Worte zum Thema „Grenzregionen in Bayern“ sagen. Zunächst müssen wir uns alle dessen bewusst sein: Bis zum 1. Mai, zumindest bis zum Fall des Eisernen Vorhangs, in wirtschaftlicher Hinsicht aber in der Tat bis zum 30. April war das Grenzland zu Tschechien nicht nur eine Ostgrenze Bayerns, sondern es war die Ostgrenze Deutschlands, war die Ostgrenze der gesamten Europäischen Union. Das war der äußerste östliche Rand. Selbstverständlich hat das ostbayerische Grenzland jahrzehntelang unter dieser Grenzlage am Eisernen Vorhang gelitten und war deswegen in seiner Entwicklung behindert, ebenso wie die Grenzgebiete zur früheren DDR. Deshalb waren wir uns in der Vergangenheit immer darin einig, dass wir diese Regionen gezielt fördern und unterstützen müssen. Herr Kollege Maget, nach Ihren Ausführungen bin ich aber wieder ins Zweifeln gekommen, ob sich die von Ihrer Partei geführte Bundesregierung überhaupt noch für Bayern zuständig fühlt.

Gibt es überhaupt vonseiten der Bundesregierung noch jemand, der sich dafür interessiert, was sich in dieser Grenzregion tut? Ich nehme es mit Interesse zur Kenntnis, dass Sie sagen, dafür sei ausschließlich die Bayerische Staatsregierung zuständig. Die Bundesregierung ist wohl überhaupt nicht mehr kompetent und zuständig. Dass sie nicht kompetent ist, wissen wir in der Tat. Aber sie fühlt sich nicht einmal zuständig.

Herr Kollege Maget, nennen Sie mir eine einzige konkrete Maßnahme der rot-grünen Bundesregierung in den letzten Jahren für das bayerische Grenzland! Nennen Sie mir eine einzige konkrete Maßnahme, mit der die rot-grüne Bundesregierung etwa Niederbayern, der Oberpfalz oder Oberfranken gezielt geholfen hat. Da kommt nichts. Die Frage ist, was es hülfe, wenn sie sich darum kümmern würde; denn wir erleben natürlich in Ostdeutschland, wie dynamisch die Entwicklung ist, seit der Aufbau zur Chefsache von Bundeskanzler Schröder gemacht wurde. Bei einem Vergleich ist festzustellen, dass es wahrscheinlich nicht helfen würde, wenn er die ostbayerischen Regionen zur Chefsache machen würde. Das würde nämlich genauso wenig helfen, wie es im Moment Ostdeutschland hilft. Das Verhalten von Rot-Grün gegenüber dem bayerischen Grenzland ist sehr beschämend.

Sie sprechen die Finanzierungsbeiträge der Bundesrepublik Deutschland an. Ich will unterstreichen, was bereits vorhin durch Zwischenrufe deutlich gemacht wurde. Wir müssen natürlich sehen, dass der Rückgang der Finanzierungsbeiträge auch damit zusammenhängt, dass sich die Wirtschafts- und Finanzsituation der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren dramatisch entwickelt hat und dass inzwischen nicht nur Österreich, sondern beispielsweise selbst Irland ein höheres Bruttoinlandprodukt als die Bundesrepublik Deutschland hat, wobei Irland von der EU immer noch Zahlungen bekommt. Man braucht sich natürlich nicht zu wundern, dass sich hier die Finanzströme deutlich verschieben.

In einem Punkt konnte ich Ihnen überhaupt nicht folgen: Sie haben gesagt, Ostdeutschland wäre anders dran gewesen, wenn die ostdeutschen Länder erst jetzt der EU beigetreten wären. Dass Ostdeutschland Fördergebiet der Europäischen Union ist, ist ja gerade das Thema, das ich wiederholt angesprochen habe. Das bayerische Grenzland steht so einzig da, weil sich auch das Fördergefälle in den übrigen Grenzgebieten Deutschlands bei weitem nicht so dramatisch darstellt, da natürlich die Grenzgebiete Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs oder Sachsens fast genauso intensiv gefördert werden wie auf der polnischen und tschechischen Seite.

(Zuruf von der CSU: So ist es!)

Deshalb ist das bayrische Grenzland in einer ganz besonderen Situation und würde es deshalb vonseiten des Bundes und der Europäischen Union in dieser Beitrittssituation einer besonderen Unterstützung bedürfen. Da kommt leider von Ihrer Seite nur Fehlanzeige, meine Damen und Herren!

(Zuruf von der CSU: Richtig!)

Gleichwohl bin ich der Meinung, dass wir – jedenfalls bislang – von bayerischer Seite aus sehr viel dafür getan haben, dass sich unser Grenzland gut entwickelt. Ich bin für die Ankündigung des Ministerpräsidenten sehr dankbar, dass sich das Kabinett in seiner Sitzung in Freyung in zwei Wochen noch einmal mit dem Thema beschäftigen wird. Ich halte es für richtig und wichtig zu schauen, wie wir weiterhin noch intensiver helfen können. Wir wollen, dass sich das ostbayerische Grenzland gut entwickelt und die Chancen in dieser europäischen Einigung optimal wahrnimmt.

Neben den ökonomischen Aspekten will ich gerade im Hinblick auf die Frage, ob wir für die EU-Osterweiterung gut gerüstet sind, noch einen ganz anderen Punkt ansprechen, nämlich die Bildung der jungen Generation. Gerade auf diesem Gebiet können wir darauf verweisen, dass die bayerische junge Generation für den friedlichen Wettbewerb mit den Jugendlichen in ganz Europa gut gerüstet ist. Die Pisa-Studie hat schon sehr deutlich aufgezeigt, dass Bayerns Schülerinnen und Schüler für Europa fit sind

(Zuruf der Abgeordneten Margarete Bause (GRÜ- NE))

und dass Bayerns Jugend beim Lesen, Schreiben und Rechnen mit Schweden, Großbritannien, Österreich, Spanien und Norwegen in der europäischen Spitzengruppe liegt. Alle anderen Bundesländer liegen hinter uns – das ist das Ergebnis der Pisa-Studie.

(Beifall bei der CSU – Zuruf der Abgeordneten Margarete Bause (GRÜNE))

Es sollte den Schulpolitikern anderer Bundesländer zu denken geben, wenn dort die Schuljugend im Lesen und Schreiben wesentlich schlechter ist als zum Beispiel in Tschechien und Polen; diese Staaten haben bei der PisaStudie schon mitgemacht. Beispielsweise haben eine Reihe SPD-regierter Bundesländer bei der Pisa-Studie schlechter abgeschnitten als Tschechien und Polen – Bayern dagegen nicht. In dieser Situation starten wir in den europäischen Wettbewerb.

Was die von Ihnen in diesem Zusammenhang angesprochene niederbayerische Abiturientenquote betrifft, haben wir im Zuge der Reform des Gymnasiums schon deutlich gemacht, dass wir bestrebt sind, in Bayern insgesamt in den nächsten Jahren mehr junge Menschen zum Abitur zu führen.

(Zurufe der Abgeordneten Dr. Sepp Dürr und Margarete Bause (GRÜNE))

Herr Kollege Maget, allerdings hat die Pisa-Studie quer durch alle Schularten auch gezeigt, dass in Bayern heute viele Hauptschüler besser rechnen können als in SPD-regierten Ländern manche Gymnasiasten.

(Beifall bei der CSU)

Deshalb wäre ich an Ihrer Stelle mit Bemerkungen über niederbayerische Gymnasiasten sehr, sehr vorsichtig.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜ- NE))

Herr Maget, Sie wissen – das haben wir an dieser Stelle schon wiederholt diskutiert –, dass das auch für die Kinder von Ausländern gilt. Die Kinder von Ausländern, die in Bayern zur Schule gehen, können vielfach besser rechnen und schreiben als beispielsweise die Kinder von Deutschen in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜ- NE))

Das ist unser Beitrag zur Integration in der Europäischen Union. Damit können wir uns in der Tat sehen lassen.

(Beifall bei der CSU)

Deshalb begreifen wir in Bayern die europäische Einigung auch als Herausforderung für unsere Schul- und Hochschulpolitik. Wir wollen keinesfalls, dass sich die Europäische Kommission in dieses Thema stärker einmischt. Wir wollen diese Politik in Bayern selbst gestalten und stellen uns dem Wettbewerb. Die CSU-Fraktion wird, ebenso wie in der Vergangenheit, auch in Zukunft hier im Bayerischen Landtag die Weichen so stellen, dass Bayerns Jugend optimale Bildungsangebote erhält. „Fördern und Fordern“ heißt weiterhin die Devise. Das Gleiche gilt für die Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik.