Protocol of the Session on February 12, 2004

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 11. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich noch zwei Glückwünsche aussprechen. Am 6. Februar feierte Frau Kollegin Annemarie Biechl einen halbrunden Geburtstag, und am heutigen Tag hat Frau Kollegin Christa Naaß Geburtstag.

Ich wünsche den beiden Kolleginnen im Namen des Hohen Hauses und persönlich alles Gute und viel Erfolg bei der Erfüllung ihrer parlamentarischen Aufgaben.

Ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion der CSU vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde zum Thema „Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung“ beantragt.

In der Aktuellen Stunde dürfen die einzelnen Redner grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion erhält eines ihrer Mitglieder 10 Minuten Redezeit; dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet.

Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, erhält eine Fraktion auf Antrag für eines ihrer Mitglieder zusätzlich fünf Minuten Redezeit.

Als erster Redner hat Herr Kollege Kreuzer das Wort.

Herr Präsident, Hohes Haus! Wir haben in Deutschland einen Termin zu beachten, nämlich den 30. September 2004. Wenn wir innerhalb dieser Frist nicht tätig werden, und zwar bundesgesetzgeberisch, wird in diesem Land Folgendes passieren: Wir werden Straftäter, die hoch gefährlich sind, in die Freiheit entlassen müssen, und zwar sehenden Auges, dass weitere Straftaten drohen und von ihnen Gefahr ausgeht – Gefahr gegen die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, ja vielleicht sogar Gefahr für das Leben. Dies ist die Situation, vor der wir stehen.

Wir haben in Bayern im Moment aufgrund eines bayerischen Gesetzes drei solcher Straftäter in Haft.

Es geht hier um Männer im Alter zwischen 40 und 42 Jahren, die sich allesamt gegen die sexuelle Selbstbestimmung vergangen haben, und zwar bei Kindern mit im Einzelfall bis zu 160 Taten. Es handelt sich um Menschen, bei denen zwei Gutachter unabhängig festgestellt haben, dass von ihnen in der Zukunft erhebliche Gefahren ausgehen. Diese Gutachtermeinung ist durch entsprechende Gerichtsbeschlüsse durch die Instanzen bis hin zu den Oberlandesgerichten bestätigt worden. Es geht also um Täter, die nach Einschätzung von Fachleuten - von Menschen, die sie seit langer Zeit kennen - eine große Gefahr darstellen, wenn sie nach der Strafverbüßung die Justizvollzugsanstalt verlassen können.

Wie sind wir in diese Situation gekommen? Richtig ist, dass die entsprechenden Gesetze des Freistaates Bayern und von Sachsen-Anhalt vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden sind, weil das Gericht davon ausgeht – nur deshalb -, dass eine Bundeszuständigkeit besteht. Rückblickend ist von der geschichtlichen Entwicklung her Folgendes zu sagen: Der Freistaat Bayern und andere Länder, beispielsweise Baden-Württemberg, haben jahrelang in verschiedenen Versionen - Bundesratsanträge, Gesetzesinitiativen im Deutschen Bundestag oder Anträge in diesem Haus; die Kollegen werden später noch darauf eingehen – versucht, den Bund zu bewegen, diese Rechtsmaterie zu regeln und diese Gesetzeslücke zu schließen, um hochgefährliche Täter nicht auf die Bevölkerung loslassen zu müssen. Das Problem war bekannt und der Bund hat sich vor einer Entscheidung gedrückt.

Der Bundeskanzler hat zwar nach spektakulären Sexualverbrechen angekündigt, solche Täter müssten weggesperrt werden, und zwar wenn nötig für immer, er hat aber von Seiten des Gesetzgebers keine Konsequenzen gezogen. Nach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 14.07.2001 hatte der Bundeskanzler in der Bundesratssitzung gesagt, dass eine Zuständigkeit des Bundes nicht besteht und die Länder aufgefordert, entsprechende Gesetze zu erlassen. Die gleiche Auffassung wurde vom Staatssekretär im Justizministerium, Pick, in dieser Bundesratssitzung vertreten. In dieser Sitzung wurde auch die Initiative Bayerns abgelehnt, entsprechend gesetzgeberisch tätig zu werden. Schließlich hat die damalige Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin in einem Schreiben an Innenminister Dr. Beckstein kundgetan, dass der Bund aus Kompetenzgründen nicht handeln kann und wiederum die Länder aufgefordert zu handeln. Dies haben wir im Bayerischen Landtag getan, obwohl wir gewusst haben, dass die Kompetenzen bzw. die Abgrenzung zwischen Strafrecht und Sicherheitsrecht als schwierig einzustufen sind, mit dem Ergebnis, das wir heute vorliegen haben. Wir hätten keine Alternative gehabt. Wenn der Bund seine Kompetenz verneint, wäre die Alternative gewesen, nicht zu handeln und somit keinen Schutz vor solchen Straftätern herzustellen.

Warum sprechen wir heute dieses Thema an? Dies hat seine Gründe. In Wirklichkeit haben die SPD und die GRÜNEN in Berlin nicht nur ein Formalproblem gesehen, sondern sie waren zutiefst zerstritten, ob eine solche Regelung notwendig und wünschenswert ist. Dies hat sich auch in den Redebeiträgen im Bayerischen Landtag ergeben. Die Abgeordneten Christine Stahl, Elisabeth Köhler und Klaus Hahnzog haben ganz klar zu erkennen geben, dass sie nicht nur formale Bedenken gegen das bayerische Gesetz haben, sondern dass sie eine solche Regelung für nicht notwendig erachten, weil sie nicht davon ausgehen, dass ein relevanter Personenkreis betroffen ist. Es sind Dinge angeführt worden wie „ne bis in idem“ – es stehe eine Doppelbestrafung im Raum - und außerdem ist angeführt worden, dass eine nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen könnte.

Ich befürchte, dass diese Diskussion zulasten des Schutzes von Opfern erneut losbrechen wird und sehe deshalb, dass es schwierig wird, eine gesetzgeberische Regelung zu erreichen. Es ist klar zu sagen, dass die Auffassung der GRÜNEN und der SPD, es lägen rechtliche Bedenken materieller Art vor, vom Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung in dieser Woche nicht geteilt worden ist. Wir müssen ganz klar erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht die Gültigkeit der gesetzlichen Regelungen von Bayern und Sachsen-Anhalt um sechs Monate verlängert hat, sodass sie weiterhin Bestand haben. Es hätte das mit Sicherheit nicht getan, wenn es durchgreifende materielle Bedenken gegen diese Gesetze gehabt hätte. Ich zitiere aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, damit klar wird, dass das Gericht materiell die Prüfung einer Regelung sogar für notwendig hält:

Die bisherige Erfahrung mit den landesrechtlichen Straftäterunterbringungsgesetzen zeigt, dass es tatsächlich einige wenige Verurteilte gibt, gegen die zum Urteilszeitpunkt aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, die sich aber gleichwohl zum Entlassungszeitpunkt als hoch gefährlich darstellen. Trotz der Unsicherheit, die jeder Prognoseentscheidung innewohnt, sind Gutachter und Gerichte in einem geordneten Verfahren zu dem Ergebnis gekommen, dass in seltenen Ausnahmefällen ein so hohes Maß an Gewissheit über die Gefährlichkeit bestimmter Straftäter besteht, dass eine Freiheitsentziehung zum Schutz anderer Menschen notwendig erscheint. Der Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Diesen Schutz durch

geeignete Mittel zu gewährleisten, ist Aufgabe des Staates.

Weiter unten heißt es ferner:

Als Mittel zum Schutz von Leben, Unversehrtheit und Freiheit der Bürger kann der Gesetzgeber demjenigen die Freiheit entziehen, von dem ein Angriff auf die Schutzgüter zu erwarten ist. Dieser Eingriff in das Grundrecht des potenziellen Verletzers aus Artikel 2 Absatz 2 ist bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips legitim.

Das Bundesverfassungsgericht sagt somit, dieser Erlass ist möglich. Es steht rechtlich nichts entgegen – nicht „ne bis in idem“, nicht die Menschenrechtskonvention –, sondern der Bundestag wird aufgefordert, dies zu prüfen. Und dies macht er so ernsthaft, dass es die Regelung verlängert, weil es nicht verantworten will, dass aufgrund der Kompetenzschwierigkeiten solche Straftäter sofort in Freiheit entlassen werden.

Meine Damen und Herren, der Schutz der Opfer hat in diesem Fall absolute Priorität vor den Freiheitsrechten des Täters.

(Beifall bei der CSU)

Wenn festgestellt wird, dass von Tätern gegenwärtig Gefahren ausgehen und dass es sich bei den zu Entlassenden um tickende Zeitbomben handelt, muss der Staat handeln. Er ist verpflichtet, die Menschen in diesem Staat zu schützen. Deshalb fordern wir die Staatsregierung auf, eine Bundesratsinitiative zu ergreifen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ents p rechende Gesetzentwürfe einzubringen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, fordern wir auf, dies auch parteipolitisch entsprechend zu unterstützen, sodass wir nicht jahrelang wieder ein Hickhack um diese Frage haben. Wer hier nicht nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts handelt, wonach es unstreitig möglich ist, ist für die entsprechenden Konsequenzen und dafür verantwortlich, dass Straftäter aus der Haft entlassen werden müssen und an Unschuldigen schwere Straftaten begangen werden.

(Beifall bei der CSU)

Als Nächster hat Herr Kollege Schindler das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es hätte uns gewundert, wenn die CSU-Fraktion die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der letzten Woche nicht zum Anlass für eine Aktuelle Stunde genommen hätte.

(Karin Radermacher (SPD): Dann wären wir total irritiert!)

Es wundert uns aber auch, wie wenig Interesse dieses Thema in Ihren Reihen findet.

(Beifall bei der SPD)

Denn zu Beginn der Aktuellen Stunde habe ich genau sieben Mitglieder Ihrer Fraktion gezählt. Herr Kollege Kreuzer, kein einziges Mal ist bei Ihren erleuchtenden Ausführungen auch nur der Anschein der Begeisterung in Ihren Reihen aufgekommen.

Zweite Vorbemerkung: Herr Kollege Kreuzer, uns muss man über den Opferschutz und seine Notwendigkeit nichts erzählen.

(Beifall bei der SPD)

Sie werden zugeben, dass es schließlich die SPD-geführte Bundesregierung war, die in der Geschichte dieses Landes zum ersten Mal einen nennenswerten Opferschutz eingeführt hat. Also diesbezügliche Belehrungen haben wir wirklich nicht nötig.

(Beifall bei der SPD)

Zur Kenntnis zu nehmen haben wir alle miteinander als Bayerischer Landtag, dass das Bundesverfassungsgericht ein von diesem Haus beschlossenes Gesetz aufgehoben hat, wenngleich es eigentlich kein bayerisches Gesetz war, sondern aus BadenWürttemberg wörtlich abgeschrieben war. Im Übrigen möchte ich, was die Erfahrungen mit Baden-Württemberg betrifft – insbesondere auch im Hinblick auf eine Entscheidung, die uns in den nächsten Wochen abverlangt wird –, die Frage in den Raum stellen, ob es immer so gut ist, dort abzuschreiben.

Es hat niemand Anlass, sich darüber zu freuen, dass das Gesetz aufgehoben wurde, zumal nicht nur die Bundesregierung der Meinung war, Herr Kollege Kreuzer, dass es eine bayerische Zuständigkeit gibt. Im Gegenteil, auch von Ihnen wurde vehement in den Mittelpunkt gerückt, dass es natürlich auch eine Zuständigkeit der Länder gibt. Man hat sogar Gutachten in Auftrag gegeben, um sich die Gesetzgebungskompetenz bestätigen zu lassen. Jetzt können sich höchstens diejenigen freuen, die damals mit beachtlichen Gründen – da haben Sie Recht, Herr Kreuzer – nicht nur wegen des Problems der Gesetzgebungszuständigkeit, sondern durchaus auch aus materiellen Gründen gegen das Gesetz gestimmt haben. Ich verweise insbesondere auf die damaligen Ausführungen des Kollegen Hahnzog, der sich im Nachhinein tatsächlich bestätigt fühlen kann.

Gut ist allemal, dass jetzt das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellt hat, wer zuständig ist, und auch vorgegeben hat, dass jetzt vom zuständigen Gesetzgeber – das sind nicht wir – ein Konzept für eine nachträgliche Anordnung einer präventiven Verwahrung inhaftierter Straftäter entwickelt werden muss. Das Bundesverfassungsgericht hat aber

das bayerische und sachsen-anhaltinische Gesetz nicht nur aufgehoben, sondern durchaus beachtliche Hinweise dafür gegeben, wie ein neues Gesetz auszusehen hat. Danach ist eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Täter vorzunehmen und wird die im bayerischen Gesetz vorgenommene Überbetonung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen als Begründung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wohl nicht ausreichen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei aller Aufgeregtheit, die Sie zu haben vorgeben – tatsächlich ist es ja nicht so, wie man gesehen hat –, soll nicht übersehen werden, dass sich die Rechtslage seit der Verabschiedung des bayerischen Gesetzes im Jahr 2001 ganz entscheidend verändert hat; denn es gibt seit August 2002 den neuen Paragrafen 66 a des Strafgesetzbuches, der den Gerichten die Möglichkeit einräumt, die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Aburteilung der Anlasstat vorzubehalten; das wissen Sie. Das heißt, seit dem August 2002 sind Fälle wie diejenigen, über die wir jetzt lamentieren, eigentlich nicht mehr vorstellbar.

(Alexander König (CSU): Das stimmt nicht!)

Es stimmt deshalb, weil kein Gericht hellseherische Fähigkeiten hat und sich schon aus Angst, einen Fehler zu machen, in den entsprechenden Fällen vorbehalten wird, die Sicherungsverwahrung anzuordnen.

( Alexander König (CSU): Was ist mit den Fällen, bei denen das Gericht keinen Vorbehalt macht?)

Es gibt Fälle, in denen das Gericht keinen Vorbehalt macht. Das werden aber ebenso wie in der Vergangenheit auch künftig nicht viele Fälle sein.

(Alexander König (CSU): Also gibt es sie doch!)

Ich weise darauf hin, dass Sie es 1998, als der Bundestag diese Frage schon einmal beraten hat, als noch Sie in Bonn regiert haben und die Mehrheit hatten, nicht für nötig gehalten haben, die nachträgliche Sicherungsverwahrung einzuführen. Es war damals kein Massenphänomen und es war im Jahr 2001, als das bayerische Gesetz beschlossen wurde, Gott sei Dank ebenso wenig ein Massenphänomen. Es ist auch jetzt kein Massenphänomen, sondern es geht um einige wenige Fälle.

(Thomas Kreuzer (CSU): Jeder Fall ist einer zu viel!)

Herr Kreuzer, ich gebe Ihnen ausdrücklich Recht, jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel.

(Beifall bei der SPD)

Aber man muss bei der Diskussion die Kirche im Dorf lassen.