Protocol of the Session on April 19, 2002

Es ist gut, dass die Familienpolitik für alle Parteien ein wichtiges Thema geworden ist. Wir haben hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein Unterschied besteht beim familienpolitischen Leitbild. Frau Stahl vertritt die Auffassung, Familie ist dort, wo Kinder sind. Das entspricht nicht den Normen des Grundgesetzes und dem besonderen Schutz von Ehe und Familie. Ein Unterschied besteht auch insofern, als für uns Familienförderung seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema ist. Die Familie war für uns schon wichtig in Zeiten, in denen Sie mit Familie und Familienpolitik nichts anfangen konnten, weil es Ihrer Vorstellung von der Emanzipation der Frau widersprochen hat. Wir haben damals in heftigen Auseinandersetzungen, etwa in der Rechtspolitik, aber auch in Fragen der Steuerpolitik gegen Ihren starken Widerstand entscheidende Weichen gestellt, damit familiäre Strukturen unterstützt werden. Deswegen haben wir hier keinen Nachholbedarf.

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was haben Sie denn in 16 Jahren gemacht?)

Wir haben das Thema Familie nicht erst in Wahlkampfzeiten entdeckt. Wir sagen offen, dass sich mit gesellschaftlichen Veränderungen auch die Familienpolitik weiterentwickeln muss.

Zu den Unterschieden zählt auch, dass SPD und GRÜNE einseitig auf die Verbindung von Beruf und Familie und vor allem von Beruf und Mutterrolle fixiert sind. Zwar ist es Lebenswirklichkeit, dass die Frage für viele junge Menschen und vor allem junge Frauen wich

tig ist, wobei viele Frauen deutlich differenzieren zwischen der Phase der ersten drei Lebensjahre der Kinder und der folgenden Zeit. Tatsache ist aber, dass die Entscheidungen der jungen Menschen und insbesondere der jungen Frauen nach wie vor unterschiedlich ausfallen. Deshalb wäre es grundfalsch, einen Weg zum allgemeinen Weg für staatliche Unterstützung zu erklären.

(Beifall bei der CSU)

Deshalb unterstreiche ich ausdrücklich: Wir brauchen eine Regelung, welche die Wahlfreiheit gewährleistet. Die Wahlfreiheit steht nicht im Widerspruch zum Wunsch, Beruf und Familie zu verbinden. Es muss aber auch ein Fördersystem des Staates existieren, das die jungen Eltern, die sich dafür entscheiden, dass ein Partner – in der Lebenswirklichkeit in der Regel die Frau – in einer bestimmten Lebensphase, die eine besonders sensible Entwicklungsphase der Kinder ist, daheim bleibt, nicht schlechter stellt als diejenigen, die Familie und Berufstätigkeit verbinden wollen.

(Beifall bei der CSU – Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Quatsch! – Frau Christine Stahl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollen Sie mir erzählen, was junge Frauen wollen?)

Deshalb ist der Ansatz, ein Familiengeld zu zahlen, richtig. Im Übrigen kann damit rund einer Million Kinder – ich erinnere an die Diskussion von gestern – ein Leben von der Sozialhilfe erspart werden. Deswegen bleiben wir bei dieser Linie. Wir sollten aber in der familienpolitischen Diskussion nicht stehen bleiben bei zentralen Problemen, die wir mit noch mehr Geld und noch besseren Struktur nicht verändern können.

Das ist für die Politik immer eine heikle Angelegenheit, weil man sehr schnell in den Ruf kommt, man wolle moralisieren oder in die Lebensentscheidungen der Menschen eingreifen beziehungsweise unterschiedliche Positionen bewerten.

Allein mit dem Einsatz von mehr Geld für Betreuung und Förderung oder der Zahlung von Familiengeld können wir zentrale Probleme und verhängnisvolle Entwicklungstrends nicht verändern. Wir müssen uns in dieser Debatte ehrlich mit den Entwicklungen auseinander setzen; sonst greifen unsere finanziellen Anstrengungen zu kurz. 25% der Schulanfänger haben eine Sprachunterentwicklung. Das deutet auf elementare Defizite in der Familie hin. Die Reaktion auf die Tatsache, dass wir immer mehr verhaltensauffällige Kinder haben, kann nicht sein, dass wir noch mehr Spezialkräfte und Kinderbetreuung fordern. Wir brauchen das zwar jetzt, weil es die Lebensrealität ist. Wir müssen aber über die Ursachen diskutieren, und wir müssen die Eltern mit in die Verantwortung nehmen, sonst kommen wir über eine Reparaturmentalität nicht hinaus, und Politik würde zu einer Alibiveranstaltung.

(Beifall bei der CSU)

Die gegenwärtige Einstellung gegenüber Familien mit mehreren Kindern zeigt das erschreckende Beispiel eines Plakates, das heute auch in Münchener Boule

vardzeitungen abgedruckt ist. Ich habe mein Demonstrationsobjekt leider an meinem Platz liegen lassen, außerdem dürfte ich es nach der Geschäftsordnung hier ohnehin nicht zeigen.

(Der Redner zeigt ein Plakat, das ihm von Abg. Dr. Bernhard (CSU) gereicht wird.)

Eine Tankstellenkette wirbt mit diesem Plakat, auf dem eine sechsköpfige Familie dargestellt wird. Der Slogan lautet: „Günstiger tanken, Geld für Kondome haben“.

(Zuruf von der SPD: Wird der nicht gerügt? – Frau Christine Stahl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das gilt nur für die SPD und die GRÜNEN!)

Ich ordne das überhaupt nicht parteipolitisch zu, so primitiv mögen Sie vielleicht denken.

(Beifall bei der CSU – Lebhafter Widerspruch der Frau Abgeordneten Christine Stahl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Was ist das für eine Welt, in der eine Werbeagentur überhaupt auf die Idee kommt, in Deutschland so zu werben? – Wenn hier ein Klima herrscht, dass Familien mit drei, vier, fünf oder sechs Kindern als asozial bezeichnet werden, Eltern als dumm hingestellt werden und man auf deren Kosten versucht, in Deutschland Werbung zu machen, dann können wir die Schäden auch mit noch so viel Geld – sei es das Familiengeld oder Geld für Kinderbetreuungseinrichtungen – nicht reparieren. Das ist ein zentrales Problem der gesellschaftlichen Entwicklung.

(Beifall bei der CSU – Zuruf des Abgeordneten Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir müssen diese Dinge in der öffentlichen Debatte thematisieren, sonst werden unsere Anstrengungen ins Leere laufen.

Meine These lautet: Wir werden einen wirklichen Durchbruch zugunsten der Familien in Deutschland mit der Wirkung, dass sich wieder mehr junge Menschen in der Lage sehen, Ja zu Kindern zu sagen, nur erreichen, wenn es uns gelingt, die Anliegen der Kinder und Familien so selbstverständlich zu behandeln wie heute den Umweltschutz.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN))

Das war eine Entwicklung über mehrere Jahrzehnte hinweg. Wenn wir in der Politik heute über ein Projekt diskutieren, egal, ob in der Kommunalpolitik oder wo auch immer, dann wird zuerst gefragt, ob es umweltverträglich ist, lange bevor ein förmliches Verfahren beginnt. Wenn es uns gelingt, ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schaffen, das dazu führt, dass bei den unterschiedlichsten Vorhaben gefragt wird, ob diese kinderverträglich und familienfreundlich sind, dann schaffen wir in Deutschland den Durchbruch für Kinder und Familien, den wir brauchen. Daran müssen wir arbeiten.

(Beifall bei der CSU)

Deshalb haben wir in unserem Kommunalwahlkampf die familienfreundliche Kommunalpolitik zu einem wesentlichen Thema gemacht. Ich füge aber hinzu: Wir müssen das in der Kommunalpolitik auch umsetzen.

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine gute Idee!)

Wir müssen das bei allen Entscheidungen, die wir treffen, bedenken.

Ich will das am Beispiel der Aufstellung eines Bebauungsplanes deutlich machen. Das ist eine der traditionellen Aufgaben der Kommunalpolitik. Mit der Aufstellung eines Bebauungsplans wird entschieden, welche Art von Wohnungen angeboten wird und ob den Bedürfnissen von Kindern und Familien Rechnung getragen wird. Damit wird entschieden, ob ein angemessenes Lebensumfeld für Kinder und Familien geschaffen wird oder nur Parkplätze und Bäume ausgewiesen werden.

(Frau Dr. Baumann (SPD): Wer weigert sich denn dauernd?)

Mein Gott, haben Sie billige Reflexe. Ich mache hier überhaupt keine parteipolitische Zuschreibung. Wir haben es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Wenn Sie nicht in der Lage sind, über Ihre Parteischablonen hinaus zu denken, dann ist Ihnen nicht zu helfen.

(Beifall bei der CSU)

Eines muss ich noch sagen zur angeblich so kinderfreundlichen Politik der jetzigen Bundesregierung: Die Erhöhung des Kindergeldes kostet insgesamt rund 3,8 Milliarden e. Die Streichung bisheriger Familienleistungen in der Gegenrechnung macht 1,5 Milliarden e aus. Die Erhöhung des Kindergeldes wird also zu 40% von den Familien selbst finanziert. Dazu kommen eine Menge zusätzlicher Belastungen.

„Focus“ hat in einem Artikel „Kampf um die Familie“ Herrn Borchert zitiert, einen der großen Kämpfer für die Familie. Ich zitiere aus diesem Artikel:

Auch der bisherigen Politik der rot-grünen Regierung stellt Borchert, der die wesentlichen Familienurteile vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten hat, ein schlechtes Zeugnis aus. Noch nie zuvor in der fast 20-jährigen Dokumentation des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg ist die relative Einkommensposition von Familien so stark abgefallen wie seit 1998.

(Dr. Bernhard (CSU): Hört, hört!)

Das ist die Realität dieser so hoch gepriesenen Politik. Ich will jetzt nicht näher auf die Realitäten in den SPD-regierten Bundesländern eingehen.

In den letzten Wochen wurde über Kinderarmut in der Stadt München geklagt. Gleichzeitig muss man sich vor

Augen halten, wie viele luxuriöse Verkehrsberuhigungsprojekte die Stadt München finanziert. Angesichts dessen glaube ich: Bei der rot-grünen Politik in der Landeshauptstadt München werden falsche Prioritäten gesetzt.

(Frau Biedefeld (SPD):... zeigen doch genau das Gegenteil auf!)

Zur Schul- und Bildungspolitik: Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit nenne ich nur Stichworte. Wir nehmen die Pisa-Studie ernst, und wir haben auch schon die TimsStudie ernst genommen und Konsequenzen daraus gezogen. Wir stehen nicht erst am Anfang einer notwendigen Veränderung. Wir haben die Weiterentwicklung der Lehrpläne in die Wege geleitet: 30% mehr Freiraum für Wiederholen, Üben und das Setzen eigener Akzente. Es ist weit mehr Freiraum an der Schule vorhanden, als die meisten glauben oder glauben wollen.

Reform der Lehrerbildung, jahrgangsübergreifende Eingangsstufen: Angesprochen ist der gesamte Bereich der inneren Schulreform in unserem Antragspaket zur Stärkung der Eigenverantwortung der Schulen.

Das alles sind Weichenstellungen, die auch vor dem Hintergrund bisher vorliegenden Erkenntnisse der PisaStudie richtig sind. Ich bin überzeugt, wenn wir auf der Basis dieser Maßnahmen die Pisa-Studie fünf Jahre später gehabt hätten, dann hätten wir eine deutliche Wirkung zum Besseren erkennen können.

Die durch die Pisa-Studie offenbarten Defizite haben ihre Ursache zu maximal 50% in der Schule und zu wahrscheinlich mehr als 50% im gesellschaftlichen Umfeld.

Ich will das nur an einem Beispiel verdeutlichen. Eine Gymnasiallehrerin sagte neulich in der Diskussion: Ich traue mich im Gegensatz zu früher nicht mehr, gute Schüler vor der Klasse herauszustellen, denn sie werden anschließend von der Mehrheit der Klasse gemobbt. Ein gesamtgesellschaftliches Klima dieser Art – diese Kinder stellen nur ein Spiegelbild der Erwachsenenwelt dar – wird Geld alleine nicht ändern.

Wir haben in der Fraktion eine Arbeitsgruppe gebildet, die politische Themen sehr gründlich auswertet, und dies nicht nach dem Motto: In Bayern ist die Welt sowieso heil.

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heiler!)

Wir sehen ganz genau hin. Wir werden uns auch im europäischen Ausland umsehen. Es ist aber nicht sinnvoll, das europäische Ausland oder andere Länder einfach nachzuahmen. Wir müssen uns eine eigene Position erarbeiten. Die Kernfrage dabei ist: Was verstehen wir unter Bildung? Wir verstehen Bildung im Sinne einer ganzheitlichen Bildung, und dazu gehört selbstverständlich auch der Aspekt der Erziehung. In Bayern wurde diesbezüglich viel auf den Weg gebracht. Ich lade Sie ein, über diese Dinge intensiv zu diskutieren. Wir brauchen noch mehr und besseres Wissen. Im Ländervergleich können wir aber bereits heute sagen, trotz aller Mängel, die es auch in unserem Schulwesen gibt: Das

bayerische Schulwesen gilt in ganz Deutschland als Spitze. Daran ändern auch alle Mäkeleien der Opposition nichts.

(Beifall bei der CSU)