Protocol of the Session on February 21, 2002

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin von Truchseß.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen, dass ich aus der Bundesanstalt für Arbeit komme. Deshalb möchte ich heute sagen, ich finde es absolut ungerecht und inakzeptabel, dass die Bundesanstalt derzeit in Bausch und Bogen schlecht gemacht wird. Damit werden viele Beschäftigte in den Ämtern gekränkt und diffamiert, die eine nervenaufreibende Tätigkeit ausüben.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundesrechnungshof musste eingestehen, dass die von seinen Prüfern aufgedeckten so genannten Fehlbuchungen nicht mit bewusster Manipulation gleichgesetzt werden können, sondern zum Teil schlicht auf unterschiedlichen Auffassungen in der Handhabung einer völlig unzureichenden Statistik zurückzuführen sind. Meiner Ansicht nach hat es keinen Sinn, Herrn Jagoda oder gar Arbeitsminister Riester dafür verantwortlich zu machen. Das Problem ist nämlich viel älter. Wir hätten uns damals gewünscht, dass mit dem Aufbau der Ämter im Osten einige Verkrustungen und Bürokratien in den Ämtern im Westen abgebaut würden. Den Ämtern im Osten wurde jedoch leider das System des Westens übergestülpt. Wenn ich mich recht erinnere, war damals Ihre Regierung an der Macht.

Eine Prävention gab es nicht. Die aktive Marktpolitik wurde eher eingeschränkt. Das bisher geltende Arbeitsförderungsrecht, das SGB III, hat bis vor sieben Wochen noch gegolten. 1997 waren im vereinten Deutschland 4384000 Arbeitslose gemeldet. Übrigens gibt es in der CSU eigentlich niemand, der dem Herrn Ministerpräsidenten einmal die einfachsten mathematischen Grund

kenntnisse vermitteln könnte? 4300000 Arbeitslose sind Menschen, keine Quote, wie das der Ministerpräsident in Passau gesagt hat.

Zurück zum SGB III. Dieses Gesetz wurde reaktiv ausgestattet. Insofern ist es gut, dass das System der Bundesanstalt auf den Prüfstand gestellt wird. Schließlich soll das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Job-AqtivGesetz zum Tragen kommen. Außerdem muss die Arbeitsverwaltung verstärkt und modernisiert werden. Dies ist das erklärte Ziel des Gesetzes.

Job-Aqtiv. Das „A“ steht für Aktionen. Das „Q“ für qualifizieren, das „T“ für trainieren, das „I“ für investieren und das „V“ für vermitteln. Ziel ist die Qualifizierung der Beschäftigten, vor allem der Beschäftigten mit Qualifikationsdefiziten. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz soll ein Abbau der Arbeitslosigkeit, eine Erhöhung der Qualifikation, eine effektivere Nutzung der finanziellen und personellen Ressourcen in der Arbeitsmarktförderung und eine Prävention für den Verlust eines Arbeitsplatzes erreicht werden.

Ich bin der Meinung, dass sich der Punkt 10 Ihres Antrags damit erübrigt. Qualifikation ist mehr denn je entscheidend für die Teilnahme am Arbeitsmarkt. Dies gilt sowohl für Arbeitslose als auch für Beschäftigte. Der Anteil der Arbeitsplätze für ungelernte Arbeitnehmer liegt heute bei 20% und wird nach Aussage des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung sowie anderer Institute auf 10% zurückgehen. Der Anteil der ungelernten Arbeitnehmer in den Betrieben liegt aber wesentlich höher. In Bayern hat jeder dritte Beschäftigte keine abgeschlossene Ausbildung. Das Job-Aqtiv-Gesetz bietet hier die Möglichkeit der Qualifizierung von an– und ungelernten Beschäftigten, der Teilzeitweiterbildung und der Einführung der Job-Rotation.

Für die nicht mehr Qualifizierbaren – nur für diese – bietet sich das Mainzer Modell an. Job-Rotation bedeutet, dass Beschäftigte eines Betriebes zur Weiterbildung freigestellt werden. Der frei gewordene Arbeitsplatz soll dann vorübergehend mit einem Stellvertreter besetzt werden. Dieser Stellvertreter kann bis zu 100% gefördert werden. Dieses in Dänemark sehr erfolgreich angewandte Modell hat viele Vorteile. Beschäftigte können leichter freigestellt werden; sie können ihr berufliches Wissen aktualisieren und damit ihre persönliche Beschäftigungsperspektive verbessern. Ich nenne die Meister als Beispiel und weise darauf hin: Die Bundesregierung hat das Meister-Bafög verdoppelt.

(Beifall bei der SPD)

Die Betriebe profitieren ebenfalls von der Qualifizierung ihrer Beschäftigten. Sie erhöhen dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit, wirken dem Fachkräftemangel entgegen und erhalten gleichzeitig mit dem Stellvertreter einen Ersatzmann.

Dass gerade auch in Nord- und Ostbayern der Fachkräftemangel ein Problem ist, hat Herr Wiesheu vor wenigen Tagen erst wieder von der Wirtschaft zu hören bekommen. Jetzt rächt sich, dass man keine ausreichende Strukturpolitik betrieben hat und den Qualifizierten

gesagt hat, sie müssten mobil sein und dorthin gehen, wo die Arbeitsplätze sind. Wir haben immer gewarnt, dass man damit eine Region ausblutet.

Für den Osten scheint Herr Stoiber das kapiert zu haben. Aber, meine Damen und Herren, das gilt auch für Bayern. Da nützt es auch nicht, dass die Staatsregierung 100 Millionen Euro „Ertüchtigungsprogramm Ostbayern“, möglichst ungeschmälert für Investitionen zur Verfügung stellt, wenn dann keine qualifizierten Fachkräfte mehr zur Verfügung stehen. Jobrotation könnte Betrieben und Beschäftigten helfen und hilft auch dem Stellvertreter und dem Arbeitsamt. Die Stellvertreter gewinnen Berufserfahrung, Praxis und Kontakte, um ihre Chancen am Arbeitsmarkt nachhaltig zu verbessern. Wie das dänische Projekt aber auch die Modellversuche in Deutschland zeigen, bleiben viele Stellvertreter im Betrieb oder finden anderweitig eine Arbeit und kosten die Arbeitsämter später kein Arbeitslosengeld.

Um die Jobrotation in der Praxis zum Erfolg zu führen, können die Arbeitsämter Agenturen, Bildungsträger etc. beauftragen, den Qualifizierungsbedarf der Betriebe kompetent abzufragen, sie aufzuklären und eventuell auch in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt die Vermittlung des passenden Stellvertreters zu übernehmen, der wenn nötig, vor seinem Einsatz noch individuell fit gemacht wird. Da Jobrotation ein komplexes Instrument ist, dessen Erfolg maßgeblich von der Organisationskompetenz der beteiligten Akteure abhängt, ist ein wirksames Personalmanagement nötig. Der Freistaat Bayern muss sich im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen mit Rat und Tat und vor allem auch mit Geld beteiligen. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt sind mit einem Modellversuch eingestiegen und waren sehr erfolgreich. Die Finanzierung erfolgte drittelparitätisch: ein Drittel Bund, also Bundesanstalt für Arbeit, ein Drittel Land und ein Drittel ESF.

Das Land Bayern hat zwar auch im Rahmen des Arbeitsmarktfonds ein kleines Projekt in Schwaben durchgeführt – so viel ich weiß, waren es drei Arbeitnehmer –, das nach Auskunft des Ministeriums positiv verlaufen sei. Danach passierte aber nichts mehr. Man beschloss, das nicht weiter zu verfolgen und kam mit dem Landesarbeitsamt offensichtlich überein, dass das für Bayern nicht nötig sei. Dabei hat der Beschäftigungspakt Bayern dieses Modell für wichtig und erfolgversprechend gehalten. Die bayerische Arbeitnehmerseite war sogar maßgeblich daran beteiligt, dass die Jobrotation in das neue Job-Aqtiv-Gesetz aufgenommen wurde. Sie sehen, Punkt zehn des Antrags der CSU – dem Mittelstand die Beschäftigung erhalten – trifft genau das, was die Bundesregierung mit dem Job-Aqtiv-Gesetz anbietet. Bayern muss nur endlich auf den Zug aufspringen und mitziehen.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurz ein weiteres Problem ansprechen. Es geht um die Jugendlichen. Auch hier wird es ein Ausbluten des Ostens und des Nordens geben, wenn die Staatsregierung dafür plädiert, dass die Jugendlichen, die im Norden keinen Ausbildungsplatz bekommen, doch in

den Süden gehen sollten, wo Lehrstellen nicht besetzt werden könnten. Die Arbeitgeber im Norden, allen voran die Handwerker, beschweren sich, dass sie keine qualifizierten Auszubildenden mehr bekämen. Das ist kein Wunder, wenn in Bayern 19% der Abgänger aus den Hauptschulen ohne einen Abschluss bleiben. Übrigens an den so viel geschmähten integrierten und teilintegrierten Schulen sind es nur 6,9%. Aber auch die mit einem Abschluss Entlassenen bringen nur eine unzureichende Eingangsqualifikation mit. Die Arbeitgeber beklagen sich, dass sie mit ihnen nicht sehr viel anfangen könnten. Die Pisa-Studie hat das belegt.

Es muss also dringend etwas passieren. Diese Jugendlichen sind die Sozialhilfeempfänger und die Arbeitslosen von morgen. Ich appelliere an Sie alle: Sorgen Sie dafür, dass die Jugendlichen vor Ort eine Chance bekommen. Was Herr Stoiber als Kandidat in Passau dem Osten der Bundesrepublik versprochen hat, soll er doch bitte erst im Norden und Osten Bayerns einhalten.

(Beifall bei der SPD)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Herr Kobler.

Verehrte Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen! Uns klingen verschiedene Schlagzeilen der letzten Wochen in den Ohren. Ich zitiere einige wenige: „Deutschland hat keinen funktionierenden Arbeitsmarkt mehr“, „Koalition zweifelt am Arbeitsmarktprogramm“, „Riester fürchtet fehlende Wirksamkeit des Job-Aqtiv-Gesetzes“. Andere Zeitungen und eine Ihnen gut bekannte und nahestehende Zeitung berichtet: „Heuchler und Drückeberger“, „Jobkrise offenbart Versagen der politischen Klasse“, „Arbeitslosenziel verfehlt“, „Hat Schröder 2002 noch eine Chance?“, „Bundesregierung ist an eigenen Zielen gescheitert“, „Das Ende der Ausreden“ und „Die Job-Bilanz des Kanzlers ist dürftig“.

Das ist nicht parteipolitisch, sondern eine nüchterne Auslese dessen, was uns von der unabhängigen und vielleicht kritischen Presse in den letzten Tagen vor Augen geführt wurde. Damit – so ist sicher – werden die Nerven der rot-grünen Koalition und der dort Verantwortlichen etwas blanker, etwas offener gelegt.

Mit der Forderung in Ihrem Antrag, bayerische Initiativen zu starten, wollen Sie von dem Dilemma der Bundesregierung ablenken. Ihr Antrag ist ein dreistes Stück, in dem Sie fordern, wir sollten die „erfolgreiche arbeitsmarktpolitische Tätigkeit der Bundesregierung“ unterstützen und möglicherweise beweihräuchern.

(Gabsteiger (CSU): Die Sozis sind so dreist!)

Verehrte Kollegin Stahl, Sie haben von den entsprechenden arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gesprochen. Musikalisch gesprochen, haben diese Instrumente weitestgehend einen falschen Klang und eine falsche Wirkung erzeugt. Mit diesen Instrumenten können Sie in keiner Weise ein Orchester zusammensetzen. Ein Konzert dieses Orchesters wäre bei Veranstaltungen ein großer Saalfeger.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD stellt die jetzige Situation so dar, als sei alles halb so schlimm. Kanzler Schröder hat im Jahre 1998 sein politisches Schicksal mit der Zahl der Arbeitslosen verbunden. Daran möchte ich erinnern und zitieren: „Wenn es uns nicht gelingt, die Zahl der Arbeitslosen signifikant auf unter 3,5 Millionen zu senken, haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden.“ So Kanzler Schröder.

(Hufe (SPD): Wir sind doch dabei!)

Faktum ist: 4,3 Millionen Arbeitslose plus rund 1,3 bis 1,8 Millionen weitere versteckt verbuchte Arbeitslose. Schröders so genannte ruhige Hand bezüglich der Arbeitsmarktentwicklung ist ein fortlaufender Skandal und eine Ohrfeige für die Arbeitslosen und die von Arbeitslosigkeit Bedrohten. Trotzdem stellen Sie, Herr Dr. Kaiser, keck diesen Antrag und erwarten vom Parlament die mehrheitliche Zustimmung.

(Dr. Kaiser (SPD): Ja, das erwarte ich!)

Sie erwarten die Zustimmung zu einem Antrag, der eigentlich die Misswirtschaft glorifiziert und über 4 Millionen Arbeitslose festschreibt. Dazu sagen wir ein klares Nein.

(Dr. Kaiser (SPD): Das sind immerhin noch 500000 weniger als ihr hattet!)

Die derzeitigen Zahlen zum Arbeitsmarkt sind eine arbeitsmarktpolitische Katastrophe. Ich erinnere noch einmal an die Zahl, die Herr Kollege Dinglreiter genannt hat und die zusammen mit der versteckten und verschleierten Arbeitslosigkeit rund 6 Millionen beträgt.

(Zuruf des Abgeordneten Hufe (SPD))

Das ist die Bilanz der rot-grünen Koalitionsregierung nach drei Jahren.

Die Arbeitsmarktpolitik bedarf einer grundlegenden Neuordnung und Kursänderung. Seit 12 Monaten steigt die Arbeitslosigkeit „saisonbedingt“.

(Dr. Kaiser (SPD): In Bayern steigt sie stärker!)

Ich muss Ihnen sogar Respekt zollen, dass Sie heute nicht die Ereignisse des 11. Septembers strapaziert haben, weil das bisher bei fast allen Reden geschehen ist.

Monat für Monat steigt die Arbeitslosigkeit. Allein vom Dezember letzten Jahres bis jetzt ist die Zahl der Arbeitslosen auf Bundesebene um 326000 angestiegen und hat damit die 10%- Marke überschritten. Damit ist die Bundesregierung in einem ganz wichtigen Politikbereich gescheitert. Schröders Versprechungen, die er vor drei Jahren gegeben hat, sind gebrochen und nicht erfüllt.

(Beifall bei der CSU)

Deutschland ist Schlusslicht beim wirtschaftlichen Wachstum im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern.

(Hufe (SPD): Das waren wir vor fünf Jahren auch!)

Das Bündnis für Arbeit auf Bundesebene wurde von Schröder krachend gegen die Wand gefahren. Die Bundesanstalt für Arbeit wird ihrer Aufgabe nicht gerecht, wobei ich Frau Kollegin von Truchseß sicher in einigen Punkten beipflichten kann, weil man die Statistik sehr differenziert betrachten muss. Bei der Buchung ist vielleicht eine Neuordnung überfällig. Man muss sich aber der Korrektheit halber fragen, was die Selbstverwaltung und der Rechnungshof in den früheren Jahren getan haben. Ich sage das in aller Offenheit: Die Selbstverwaltung hätte eher reagieren müssen.

Arbeitsmarktpolitisch ist mit Ihrem Programm eine Eiszeit angesagt. Im Endeffekt gehen 6 Millionen Arbeitslose auf das Konto von Rot-Grün, und das ist ein Fiasko, obwohl immer wieder von Ihnen versucht wurde, einen sozialen Ausgleich und eine soziale Teilhabe einzufordern. Wir begrüßen deshalb nicht die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik, wie Sie es in Ihrem Antrag wollen, sondern wir verurteilen die rot-grüne Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik, da sie eindeutig ins Abseits und arbeitsmarktspolitisch ins Verderben führt. Sie erkennen offenbar immer noch nicht, dass drei Jahre Rot-Grün nicht nur zur Stagnation, sondern zum Absturz in der Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik geführt haben. Der blaue Brief und das Umfeld zum blauen Brief sind bekannt. In den früheren Jahren nahm Deutschland den ersten Platz bei der wirtschaftlichen Entwicklung und der Arbeitsmarktsituation ein.

(Hufe (SPD): Das ist doch der bare Unsinn!)

Jetzt wurde Deutschland auf den fünfzehnten Platz verwiesen. Deutschland muss sich schämen, als größtes Land mit 82 Millionen Einwohnern auf dem letzten Platz zu stehen. Früher war Deutschland die Lokomotive, heute fahren wir im Schlafwagen, im letzten Wagon.

(Beifall bei der CSU)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?