Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 45. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Ihre Zustimmung voraussetzend, wurde die Genehmigung erteilt.
Mit Schreiben vom 11.07.2000 hat Herr Staatsminister Dr. Weiß mitgeteilt, dass er aus aktuellem Anlass beabsichtige, zu Beginn der heutigen Plenarsitzung gemäß § 126 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung eine
abzugeben. Die Fraktionen sind hierüber informiert worden. Ich erteile nun Herrn Staatsminister Dr. Weiß zur Abgabe seiner Erklärung das Wort.
Herr Präsident, Hohes Haus! Die Bundesregierung hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung eine umfassende Justizreform zum Ziel gesetzt. Die Reform soll schrittweise durchgeführt werden. Am Anfang soll die Reform des Zivilprozessrechts stehen. Dabei funktioniert der Zivilprozess bei uns – wenn man ehrlich ist, muss man das zugeben – in aller Regel hervorragend. Bei den Amtsgerichten müssen wir mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von ungefähr vier Monaten rechnen. Die Landgerichte erledigen erstinstanzliche Verfahren im Schnitt in sechs bis sieben Monaten. Ich glaube, das sind Zahlen, die sich sehen lassen können. Mit diesen Werten liegen wir auch im europäischen Vergleich sehr gut. Eine funktionierende Zivilrechtspflege ist ein hohes Gut. Bürger und Wirtschaft vertrauen auf eine verlässliche Zivilrechtspflege. Die Staatsregierung betrachtet deshalb die jetzt diskutierten Reformvorstellungen der Bundesregierung mit großer Sorge.
Wer etwas ändern will, muss den Änderungsbedarf aufzeigen. Alle Vorschläge müssen sorgfältig durchdacht werden. Auch wenn der Reformeifer noch so groß ist, dürfen Veränderungen nicht zu zusätzlichen Belastungen für die Justiz führen, die letztlich nur Zeitverlust für die Recht suchenden Bürger und ein Sinken der Qualität der Rechtsprechung bedeuten würden. Da gerade im Hinblick auf den Zivilprozess ein dringender Reformbedarf nicht auf der Hand liegt, müssen alle diesbezüglichen Vorschläge sorgfältigst geprüft und mit den beteiligten Kreisen diskutiert werden. Zivilprozessrecht ist zwar Bundesrecht; in erster Linie davon betroffen sind aber die Gerichtsbarkeiten der Länder. Was in Berlin im Bundesjustizministerium oder im Bundestag diskutiert und beschlossen wird, müssen wir in Bayern vollziehen. Eine Reform gegen die betroffenen Rechtsanwälte und Richter oder gegen die Länder wäre insofern vom Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten hatte ich die Hoffnung gewonnen, bei der Bundesministerin
der Justiz hätte sich diese Erkenntnis durchgesetzt. Im Dezember 1999 hatte sie den Referentenentwurf für ein Zivilprozessreformgesetz vorgelegt. Die Verbände der Richterschaft und der Anwaltschaft hatten erhebliche und weit reichende Bedenken gegen diesen Vorschlag vorgebracht. Die zur Stellungnahme aufgeforderten Länder haben nach Beteiligung der gerichtlichen Praktikerinnen und Praktiker ausführliche Voten abgegeben. Bei Auswertung dieser schriftlichen Stellungnahmen können Sie feststellen, dass – über die politische Ausrichtung der Länder hinweg – wesentliche Eckpunkte des Referentenentwurfs aus Sorge um die Umsetzbarkeit abgelehnt werden.
Mein Justizministerkollege aus dem SPD-regierten Nordrhein-Westfalen, Herr Dieckmann, hat die Praxistauglichkeit der Reformvorstellung in einer ausführlichen Verfahrenssimulation testen lassen. Einige Tage lang haben Fachleute, Praktiker, einmal durchgespielt, was geschähe, wenn die geplanten Regelungen Geltung hätten. Dabei haben sich die Bedenken der Länder bestätigt: Das Berufungsverfahren würde nach der geplanten Novellierung nicht einfacher, sondern komplizierter; die erste Instanz würde zusätzlich belastet. Nach dem Bericht des Herrn Kollegen Dieckmann aus Düsseldorf auf der Justizministerkonferenz hatte auch die Bundesministerin der Justiz signalisiert, auf Kritik der Verbände und der Länder eingehen und in eine ausführliche Diskussion eintreten zu wollen. Leider hat sie auch diese Ankündigung nicht wahr gemacht.
Seit letzter Woche liegt dem Deutschen Bundestag ein Gesetzentwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Reform des Zivilprozesses vor, der vergangenen Freitag nach Erster Lesung den zuständigen Ausschüssen überwiesen wurde. Dieser Koalitionsentwurf stammt offensichtlich aus dem Bundesministerium der Justiz. Teilweise greift er – pro forma – die stärksten Kritikpunkte vor allem der Anwaltschaft auf. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus: Sollte dieser Entwurf Gesetz werden, würde die Funktionsfähigkeit der Ziviljustiz erheblich geschwächt. Ich habe gehört, der Bundesvorsitzende des Richterbundes habe behauptet, dem ursprünglichen Entwurf seien sozusagen die Giftzähne gezogen worden. Wahrscheinlich hat er die Vorlage nicht genau gelesen. Hätte er dies getan, hätte er bemerkt, dass der jetzt vorliegende Entwurf noch schlechter ist als der ursprüngliche.
Dem Vernehmen nach soll im August ein Regierungsentwurf folgen. Ob darin noch weitere Kritikpunkte beseitigt werden, ist bis heute nicht klar. Offensichtlich will die Bundesministerin der Justiz nun überhastet den ersten Schritt der Justizreform tun – ohne Rücksicht auf Richterschaft, Anwaltschaft und Länder. Hier wird ein Weg eingeschlagen, der uns bereits aus der Diskussion um die Entlohnung der Gefangenen oder die Verteilung von Geldstrafen an gemeinnützige Organisation bekannt ist. Die Länder sind zwar im Kern betroffen; auf ihre Interessen nimmt die Bundesregierung aber überhaupt keine Rücksicht. Die Bundesministerin verkündet Reformen, bezahlen müssen die Länder. Es müsste einer Justizministerin doch zu denken geben, wenn bei einer Justizministerkonferenz einstimmig gegen sie abgestimmt wird, das Abstimmungsverhältnis also 16 : 0 beträgt. Es kann
doch nicht sein, dass über eine solche Entscheidung nicht mehr nachgedacht wird. Die Länder werden doch nicht von Menschen vertreten, die von der Materie keine Ahnung haben. Wenn 16 Bundesländer eine Reform ablehnen, sollte dies für das Bundesjustizministerium Anlass dazu sein, einmal die eigene Position zu überprüfen.
Welche Bedenken hat die Bayerische Staatsregierung gegen die vorgelegte Zivilprozessreform? – In der Begründung des Fraktionsentwurfs – insoweit unterscheidet sich dieser nicht vom bisher bekannten Referentenentwurf aus dem Bundesministerium der Justiz – wird ein besonders bürgernaher, effizienterer und besser durchschaubarer Zivilprozess versprochen. Obwohl sich diese Schlagworte immer wieder in der Begründung finden, vermisse ich jegliche Belege dafür, dass diese Versprechen durch die geplanten gesetzlichen Änderungen eingelöst werden könnten. Das Gegenteil ist der Fall.
Die erste Instanz wird durch die neuen Regelungen völlig überfrachtet werden. Vorgeschlagen wird eine Ausweitung der gerichtlichen Hinweispflichten, die mit Protokollierungs- und Dokumentationspflichten einhergeht. Diese Ausweitung ist mir nicht verständlich. Schon heute sind die Gerichte gehalten – die Praktiker wissen das –, den Prozess durch Hinweise zu steuern und den Parteien den sachgerechten Vortrag zu erleichtern. Wie das Gericht noch vernünftig verhandeln soll, wenn es ständig seine jeweilige Ansicht zu auftauchenden Fragen in Form von Zwischenbeurteilungen kundtun und dies im Protokoll festhalten soll, weiß der Himmel. Derlei trägt jedenfalls nicht dazu bei, dass ein Prozess zielgerecht zum Ende geführt wird. Vielmehr wird dieser nur unnötig aufgebläht. Denn die Parteien werden zu weiterem Vortrag geradezu aufgefordert. Ohne näheres Überlegen wird vorgeschlagen, die formalisierte Güteverhandlung aus dem Arbeitsgerichtsprozess zu übernehmen. Offensichtlich hat man sich dessen Besonderheiten nicht vor Augen geführt. Bei aller Sympathie für den Gütegedanken – besser durchschaubar wird der Prozess durch die beiden genannten Maßnahmen wohl nicht werden, eher komplizierter.
Aber vielleicht wird der erstinstanzliche Prozess wenigstens effizient. Nein, vergeblich suchen Sie Anhaltspunkte dafür im Koalitionsentwurf. Effizient soll es wohl sein, dass die Zivilkammer im Wesentlichen abgeschafft werden soll. Heute haben wir im Zivilprozess ein flexibles System zwischen Einzelrichter und Kammer. Dieses hat den Vorteil, dass die Gerichte auf die Schwierigkeit des jeweiligen Prozessstoffes und der Rechtsfragen, aber auch auf die individuelle personelle Besetzung des Gerichts vor Ort reagieren können.
Es mag wissenschaftliche Studien geben, wonach Einzelrichterentscheidungen den gleichen Wert besitzen wie Entscheidungen von Kollegialorganen. Der einfache Schluss aus den Statistiken, die radikale Einsetzung des Einzelrichters würde einen Effizienzgewinn bringen, ist aber falsch. Wir haben Landgerichte, die regelmäßig in Kammerbesetzung entscheiden und trotzdem in der Statistik unserer Gerichte zur raschen Erledigung führen.
Umgekehrt gibt es Gerichte, die beim Einzelrichtereinsatz vorne liegen, aber dennoch eine lange Verfahrensdauer aufweisen. Ich kann also nicht automatisch sagen, dass Einzelrichterentscheidungen schneller und Kammerentscheidungen langsamer erfolgen. Deshalb sollten hier keine Reformüberlegungen angestellt werden.
Das bisherige flexible System wird völlig aufgegeben. Nur noch bestimmte Spezialmaterien sollen vor die Kammern gelangen, wenn im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts solche vorgesehen sind. Selbst diese Spezialsachen – zum Beispiel Bausachen, Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes, Arzthaftungssachen usw. – müssen vom Einzelrichter verhandelt werden, wenn keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art vorliegen. Der Koalitionsentwurf geht davon aus, 70% der Rechtsstreitigkeiten würden auf den Einzelrichter entfallen und 30% bei den Kammern verbleiben. Daran habe ich erhebliche Zweifel. Nach unseren Prognosen wird für die Zivilkammern nur ein bescheidenes Schattendasein als Auffangkammern verbleiben. Bei nächster Gelegenheit kann man sie dann ganz abschaffen.
Der rigorose Einzelrichtereinsatz führt nicht zu mehr Effizienz. Ich habe das gerade ausgeführt. Er sichert auch eine größere Bürgernähe. Der Bürger muss nämlich auch bei schwierigen Sachen auf die Beratung im richterlichen Team, den Austausch der Rechtsmeinungen und die kollegiale Qualitätskontrolle unter den Richtern verzichten. Ich halte es in den Kammern für wichtig, dass die Richter Gelegenheit haben, sich mit ihren Kollegen über einen Fall zu unterhalten. Selbstverständlich könnten sich die Richter auch dann über einen Fall unterhalten, wenn sie dafür nicht zuständig sind. Bei der derzeitigen Belastung der Richter haben sie aber kaum Gelegenheit, einen Richter aus einem anderen Ressort zu beraten. Wer selbst in einer Kammer war, weiß, wie wichtig der Gedankenaustausch ist.
Dass wir zusätzlich erhebliche Schwierigkeiten bekommen, unseren richterlichen Nachwuchs einzuarbeiten, sei nur am Rande bemerkt. Neue Richter müssen auch Erfahrung sammeln. Sie müssen lernen, wie ein Urteil abzufassen ist. Wenn diese Richter ihre Erfahrungen nicht in den Kammern sammeln können, wo sollen sie sie sonst sammeln? Da der Gesetzentwurf eine Antwort schuldig bleibt, warum der Einzelrichtereinsatz so weitgehend ausgedehnt wird, wo man andernorts immer mehr auf Teamarbeit setzt, drängt sich schließlich nur eine Antwort auf: Die Unterschiede zwischen Amts– und Landgerichten sollen, auch was die Besetzung der Richterbank anbelangt, eingeebnet werden, um sie später zwanglos zu einem Eingangsgericht vereinigen zu können. Das ist das Ziel der Bundesjustizministerin. Sie will den herkömmlichen vierstufigen Gerichtsaufbau beseitigen und ihn durch einen dreistufigen ersetzen. Da sie jedoch mit diesem Vorhaben in den SPD-regierten Ländern Gegenwind bekommen hat, will sie ihr Ziel auf dem Umweg über diese Reform erreichen. Sie will die Amts– und Landgerichte gleichsetzen.
Die Eingangsgerichte müssten in diesem Fall alle erstinstanzlichen Funktionen in sich vereinen. Damit stünden alle kleineren Amtsgerichte und erst recht die Zweigstel
len zur Disposition. Natürlich kann sich die Bundesjustizministerin hinstellen und behaupten, sie löse kein Amtsgericht auf. Diese Aussage ist richtig. Die Auflösung ist Sache der Länder. Die Bundesjustizministerin erlässt aber Vorgaben über die Aufgaben und die Größe der Gerichte. Diese Vorgaben müssen die Länderjustizminister erfüllen, wenn sie nach dem Gesetz handeln wollen. Die Bundesjustizministerin kann sich also nicht darauf hinausreden, dass es der böse Wille eines Länderjustizministers wäre, wenn eine Zweigstelle geschlossen wird. Eine solche Schließung ist immer auf die Vorgaben der Bundesjustizministerin oder des Deutschen Bundestags zurückzuführen.
Meine Damen und Herren, bürgernäher soll der Zivilprozess wohl dadurch werden, dass die Berufungssumme von 1500 DM auf 1200 DM abgesenkt wird und ein neuer Rechtsbehelf einer Gehörsrüge eingeführt wird. Letzteres soll die Verfassungsgerichte entlasten. Im täglichen Gerichtsbetrieb kommt es schon einmal vor, dass ein Gericht entscheidet, obwohl noch ein Schriftsatz eingegangen war, den die Geschäftsstelle nicht mehr rechtzeitig vorgelegt hat. Diese Fälle können die Verfassungsgerichte heute leicht korrigieren. Künftig soll die unterlegene Partei in jedem nicht berufungsfähigen Zivilverfahren einen Antrag an das Gericht stellen können, das Verfahren erneut aufzurollen, weil das rechtliche Gehör verletzt sei. Richterliche Arbeitskraft wird gebunden, ohne die Verfassungsgerichte wirklich zu entlasten. In der überwiegenden Mehrzahl der Verfassungsbeschwerden wird nämlich nicht nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs, sondern zum Beispiel auch die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch willkürliche Entscheidung gerügt. Die Arbeitszeit, die der Richter auf die Erledigung der Gehörsrüge verwenden muss, fehlt ihm für das Rechtsgespräch mit dem Bürger in den anhängigen Verfahren. Auch hier kann ich keinen Vorteil für die Bürgernähe erkennen.
Wer die Berufungssumme um 300 DM absenkt, vermehrt zudem automatisch den Arbeitsanfall bei den Gerichten. Ob der Bürger einen Vorteil hat, wenn die Prozesskosten später den Hauptsachewert deutlich übersteigen, wird man mit Fug und Recht bezweifeln dürfen. Bei uns in Franken sagt man: Da wird die Brüh teurer als die Fisch. Die Rechtsmittelmöglichkeiten werden auf der anderen Seite durch den Reformentwurf eingeschränkt. Der Koalitionsentwurf enthält gegenüber dem Referentenentwurf nicht mehr die radikale Beschränkung auf die Rechtsfehlerkontrolle, die eine neue Sachverhaltsrekonstruktion in der Berufungsinstanz von vornherein ausgeschlossen hätte. Der Widerspruch gerade aus der Anwaltschaft und von Seiten der Richter war hier wohl zu stark.
Ein in der ersten Instanz ohne Verfahrensfehler festgestellter Sachverhalt wäre für die zweite Instanz auch dann bindend gewesen, wenn sich in der Berufungsverhandlung herausgestellt hätte, dass der angenommene Sachverhalt nicht der Wahrheit entspricht. Auf Deutsch heißt das: Wenn die Feststellungen der ersten Instanz offensichtlich falsch aber auf dem richtigen Weg zustande gekommen sind, wäre die Berufungsinstanz an diese Entscheidung gebunden gewesen. Hätte das Berufungsgericht gleichwohl den wahren Sachverhalt
unterstellt, hätte die unterlegene Partei dies in der Revision rügen können. Die Bundesjustizministerin hat dem Koalitionsentwurf diese Spitze genommen. Die neuen Tatsachen können nur dann berücksichtigt werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen der ersten Instanz bestehen. Sie merken schon: An die Stelle von Flexibilität wird wiederum Verrechtlichung gesetzt.
Schon heute ist eine neue Beweisaufnahme der Berufungsinstanz die Ausnahme und nicht die Regel. In der zweiten Instanz wird nur dann eine Beweisaufnahme durchgeführt, wenn offensichtlich etwas nicht stimmt. Die Berufungsgerichte führen schließlich nicht vor lauter Begeisterung Tatsachenermittlungen durch. Künftig wird die Einordnung unter prozessrechtlichen Kriterien Vorrang vor der Beschäftigung mit der Sache haben. Es wird also um das Verfahren gestritten und nicht mehr um die Sache selbst. Der Bürger, dem der Zivilprozess verständlicher gemacht werden soll, wird den feinen Ausführungen der Parteivertreter des Gerichts, ob konkrete Anhaltspunkte bestehen, ob der Zweifel ernstlich genug ist und ob der Sachverhalt in der ersten Instanz lückenlos festgestellt wurde, kaum folgen können. Für ihn wird vielmehr der Eindruck eines unverständlichen Spiels um juristische Begriffe entstehen, das er nicht mit der Suche nach Gerechtigkeit verbindet. Dies hat auch mein Kollege aus Nordrhein-Westfalen festgestellt. In der zweiten Instanz wird künftig genauso viel gestritten wie bisher. Nur wird es nicht mehr um die Sache gehen, sondern um Verfahrensfragen. Ich bezweifle, dass dies zu mehr Gerechtigkeit führt.
Meine Damen und Herren, ich verstehe den Begriff „Bürgernähe“ auch räumlich. In dieser Hinsicht führen die Vorstellungen der Bundesministerin der Justiz und der Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag völlig in die Irre. Der Gesetzentwurf will die Zuständigkeit der Landgerichte für die Behandlungen der zivilgerichtlichen Berufungen gegen amtsgerichtliche Urteile beseitigen. Bisher gingen die Berufungen gegen Amtsgerichtsurteile an das Landgericht und die Berufungen gegen Landgerichtsurteile zum Oberlandesgericht.
Ich darf darauf hinweisen, dass wir in Bayern drei Oberlandesgerichte haben, in München, in Nürnberg und in Bamberg. Der Rechtsmittelzug soll nach Meinung der Bundesjustizministerin damit transparent werden. Ich habe bislang nicht feststellen können, dass den Bürgern die grundsätzliche Unterscheidung zwischen geringfügigen und schwerwiegenden Angelegenheiten – sprich also zwischen Amtsgericht und Landgericht – nicht bekannt wäre. Wer erhebliche finanzielle Interessen verfolgt, geht ohnehin zum Anwalt. Wer Berufung einlegen will, muss auch zum Anwalt gehen, weil beim Landgericht Anwaltspflicht besteht.
Der finanzielle Aufwand, den eine Prozesspartei für ihren Rechtsstreit treiben will, sollte aber im Verhältnis
zur Hauptsache stehen. Im Streitwertbereich bis 10000 DM findet die Berufungsverhandlung heute bei den Zivilkammern des Landgerichts statt. Wer also zum Beispiel beim Amtsgericht in Freyung einen Rechtsstreit über 2000 DM verloren hat und in Berufung gehen will, findet die Berufungsrichter zurzeit beim Landgericht Passau. Künftig wird er bei einem derartigen Rechtsstreit nach München reisen müssen. Gleiches gilt für einen Prozess in Lindau. Auch dort wäre die Berufungsinstanz das Oberlandesgericht in München. Die Bürger verlieren Zeit und Geld. Die Rechtsstreite werden verteuert. Was das mit Bürgernähe zu tun hat, kann ich beim besten Willen nicht verstehen.
Aber auch hier zeigt sich das eigentliche Ziel des Reformentwurfs: Durch den Wegfall der Berufungsfunktion sollen die Landgerichte ausbluten, und ihre Existenz soll infrage gestellt werden. Sie sollen einfach als überflüssig wegfallen und schon hat man zulasten der Bürger den dreigliedrigen Gerichtsaufbau erreicht, den man auf direktem Wege nicht erreichen konnte.
Die Verlagerung sämtlicher amtsgerichtlicher Berufungen zu den Oberlandesgerichten wird im Übrigen erhebliche personelle und organisatorische Maßnahmen verursachen. Nach den Rechenkünsten des Bundesministeriums der Justiz wird zwar die bisherige personelle Ausstattung der Oberlandesgerichte nicht nur ausreichen, um mehr als die doppelte Zahl der Berufungsverfahren zu erledigen, sondern sie wird es sogar erlauben, darüber hinaus noch Personal einzusparen. Diesen Rechenkünsten kann ich aber nicht folgen. Sie sind ist auch gar nicht logisch. Unsere Überprüfungen haben ergeben, dass in der zweiten Instanz genauso viel gestritten werden wird wie bisher – lediglich nicht mehr um die Sache, sondern nur mehr um die Rechtsfragen. Wenn sich dann aber der Anfall verdoppelt, kann man doch nicht glauben, dass zusätzliche Richter frei werden.
Die Bundesministerin der Justiz hat bisher immer angekündigt, dass in der ersten Instanz die besten Richter tätig sein müssen. Erstens werden sich unsere amtierenden Amts- und Landrichter – ich war auch einmal in einer solchen Funktion – für diese Zurücksetzung sicher bedanken. Außerdem ist mir nicht klar, wer dann künftig in der Berufungs- und Revisionsinstanz die Besten kontrollieren soll. Es müssten nämlich die schlechteren Richter sein, die in der zweiten Instanz das endgültige rechtskräftige Urteil sprechen.
Auch die nach heftiger Kritik aus der Anwaltschaft nunmehr äußerst kompliziert geregelte Möglichkeit, unbegründete Berufungen durch Beschluss zurückzuweisen, enthält kein Entlastungspotenzial. Die Simulation des Vorgängermodells für diese Regelung, die Annahmeberufung, durch das Justizministerium in Düsseldorf hat dies deutlich bewiesen. Ob ein Gewinn für den Bürger herausspringt, wenn in der Berufungsinstanz nur noch ein Einzelrichter tätig wird, braucht man gar nicht zu fra
gen. Wir haben sowohl von den Gerichten als auch von den Praktikern gehört, dass die zweite Instanz unbedingt ein Kollegialgericht sein muss. Die Richter halten es für besser, wenn sie eine Berufung in Ruhe in einem Kollegialorgan besprechen als wenn ein Einzelrichter der zweiten Instanz über einen Einzelrichter der ersten Instanz entscheidet.
Ein ganz gewichtiges Argument liefert dabei auch die Anwaltschaft. Wenn dem Anwalt von einer Kammer oder einem Senat ein Vergleichsvorschlag vorgelegt wird, in dem die Rechtsansichten dargelegt werden, zu der die Kammer oder der Senat gekommen ist, macht dies auf die Partei einen ganz anderen Eindruck als wenn ein Einzelrichter erklärt, dass er in einem Selbstgespräch mit sich selbst festgestellt hat, welche Lösung richtig sei. Sowohl die Richter wie die Anwälte bitten darum, in der zweiten Instanz beim Kollegialgericht zu bleiben.
An dieser Stelle steht die praktische Durchführbarkeit der gesamten Reform auf dem Prüfstand. Die Experten der Länder haben diese Frage gemeinsam ausführlich geprüft. Das Ergebnis dieser Überprüfung will ich Ihnen nicht vorenthalten. Ausdrücklich abgelehnt wird die Zusammenführung aller Berufungen beim Oberlandesgericht nicht nur von der Bayerischen Staatsregierung, sondern auch von Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen. Für eine Zurückstellung votiert haben Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Auch sie haben größte Bedenken gegen diese Justizreform. Erst sei ein schlüssiges Gesamtkonzept nötig, das die Strafgerichtsbarkeit einbezieht. Vorher seien die personalwirtschaftlichen und organisatorischen Konsequenzen nicht zuverlässig kalkulierbar. Umgekehrt möchte ich Ihnen aber auch nicht vorenthalten, dass Sachsen-Anhalt, Hamburg und das Saarland der Zusammenführung der Berufungen beim Oberlandesgericht zustimmen. Ich vermute, dass in diesen Ländern, die ohnehin keine sehr große Fläche haben, das Landgericht und das Oberlandesgericht ihren Sitz am selben Ort haben.
Die weitreichende Ablehnung dieser Reform durch die Fachleute aus den Ländern scheint auch der Bundesministerin der Justiz bewusst zu sein. Durch den in aller Eile in den Bundestag eingebrachten Fraktionsentwurf wird ja wohl bewusst der erste Durchgang im Bundesrat vermieden. Wenn die Bundesregierung ein Gesetz einbringt, geht es zuerst in den Bundesrat. Dann können die Länder zu dem Gesetzentwurf das sagen, was sie zu sagen haben. Gestützt auf diese Debatte im Bundesrat geht der Entwurf dann in die Ausschüsse des Bundestags. Hier wird es ganz bewusst anders gemacht. Die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN müssen vorgespannt werden, damit der Gesetzentwurf gleich in den Bundestag eingebracht und der Bundesrat umgangen werden kann, sodass bei den Beratungen in den Ausschüssen die sachkundige Position der Bundesländer nicht so sehr bekannt wird.
Wer jetzt vorschnell den bewährten Zivilprozess zur Disposition stellt, muss dafür auch die Verantwortung übernehmen. Die Bayerische Staatsregierung wird für eine Verschlechterung unserer Rechtspflege zulasten der Bürger die Hand nicht reichen.
Ich eröffne die von den Fraktionen beantragte Aussprache. Erster Redner ist Herr Kollege Dr. Hahnzog, der nach seiner Hüftoperation noch ein wenig Unterstützung braucht.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was Sie heute vorgebracht haben, Herr Minister, ist für mich schon ein Zeichen der Reformunfähigkeit der CSU.