Protocol of the Session on July 10, 2003

Die Bilanz der Interpellation durch die Bayerische Staatsregierung auf diesem Sektor ist beeindruckend. Es muss das grundlegende Ziel sein – hierzu wurden sowohl von der CSU-Landtagsfraktion als auch von der Staatsregierung immer wieder Vorschläge in die Diskussion eingebracht –, dass Familien für ihre Kinder nicht mit ihrem Einkommen unter Sozialhilfeniveau rutschen. Es ist ein Skandal, wenn Kinder in der reichen Bundesrepublik immer noch als Armutsrisiko bezeichnet werden müssen. Hierzu sollten Sie in Berlin unsere Vorschläge endlich aufnehmen.

Wir bedanken uns in diesem Zusammenhang auch für die Bemühungen der Staatsregierung und der bayerischen Wirtschaft, in den verschiedenen Unternehmensstrukturen und Unternehmensbereichen endlich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen. Die Beratungsangebote für Unternehmen, aber auch die Initiativen, die von dort selbst ausgehen, sind mehr als positiv zu bewerten. Es ist das entscheidende Ziel – und davon profitieren Kinder in besonderer Wei

se –, dass die Jobs kindgerecht gestaltet werden – und nicht umgekehrt, die Familien jobgerecht.

Die Versorgung von Kindern im Bereich der medizinischen Früherkennung, der Bekämpfung von gesundheitlichen Defiziten und der Vermeidung von heute leider schon als Kinderkrankheiten zu bezeichnenden Symptome wie Übergewicht oder Sucht werden durch entschiedene Maßnahmen und Kampagnen angegangen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten die Gelegenheit der Aussprache zu dieser Interpellation auch nutzen, um nach vorne zu schauen. Da gibt es sicherlich noch weiteren Handlungsbedarf. Lassen Sie mich hier einige Punkte ansprechen:

Erstens. Das System der Kinderbetreuung ist vielfältig, und die Förderung der Einrichtungen muss unbürokratisch erfolgen. Dies sind wir einem Kinderbetreuungsgesetz der Zukunft und vor allen Dingen all denen schuldig, die in den Einrichtungen arbeiten. Deswegen muss in der kommenden Legislaturperiode ein neues Kinderbetreuungsgesetz die richtigen Ansätze geben.

Zweitens. Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung müssen gesamtgesellschaftlich, aber vor allen Dingen die Situation in den bayerischen Familien muss noch stärker berücksichtigt werden. Nur wenn es in diesem Zusammenhang gelingt, eine Verbindung zwischen Familien-, Gesellschafts-, Bildungs-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Seniorenpolitik herzustellen, also einen ganzheitlichen Ansatz für die Situation der Kinder zu finden, werden auch Konzepte zur demografischen Entwicklung erfolgreich sein. Denn der Familienbegriff ist wesentlich größer. Bekanntlich spielen viele Großeltern in der Kindererziehung eine bedeutende Rolle, und das müssen wir stärker berücksichtigen –.

Drittens muss die Definition des Kindeswohls Richtschnur für die politischen Entscheidungen sein. Hier kann es durchaus auch zu Widersprüchen zu den Anliegen von Berufsgruppen oder den Eltern kommen.

Viertens. Die Bedarfssituation zeigt uns, dass wir gerade auch auf Situationen von Kindern, die einen erhöhten Förderbedarf haben, besonders Rücksicht nehmen müssen. Dies gilt zum Beispiel für die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Heimunterbringung und der Tagespflege im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Wir brauchen eine gezielte Förderung der Tagespflege.

Fünftens. Angesichts der dramatischen Situation der öffentlichen Haushalte ist es dringend erforderlich, dass auch im Dialog zwischen Staat und Kommunen immer wieder eine Prioritätensetzung zugunsten der Kinder und der Familien erfolgt. Wir hatten dazu unlängst im sozialpolitischen Ausschuss eine übereinstimmende Beratung. Nicht das Senken der Standards oder das Streichen von Leistungen für Kinder ist an der Zeit, weil sonst Rehabilitationskosten doppelt und dreifach anfallen. Das ist inhuman und unwirtschaftlich.

Sechstens. Die Elternbegleitung und -stärkung und die Förderung der Erziehungskompetenz im Sinne einer Weiterentwicklung der Eltern- und Familienbildung sind

gerade in den Situationen, in denen Familien Hilfe benötigen, mehr als ein präventiver Ansatz.

Wir benötigen hierzu eine Bündelung der Ressourcen, eine Vernetzung und niederschwellige Angebote.

Die Beantwortung der Interpellation hat gerade in den genannten Bereichen gezeigt, dass Bayern eine kinderund familienfreundliche Politik betreibt. Diejenigen, die diese Interpellation in Auftrag gegeben haben, sollten in Berlin ihre Hausaufgaben machen, damit es tatsächlich gelingt, in der gesamten Bundesrepublik für unsere Familien eine kinder- und familienfreundliche Politik zu betreiben.

(Beifall bei der CSU – Frau Werner-Muggendorfer (SPD): Wir sind in Bayern!)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Frau Schopper.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Vor dem „prall gefüllten“ Hohen Haus heute zu den Kindern zu sprechen, wo es doch eine politische Daueraufgabe ist, an der sich alle Politikbereiche orientieren müssen, ist eine These, die alle unterschreiben, aber anscheinend doch viele noch mit einem kleinen Nickerchen oder vielleicht einem Kaffee verbinden. Sie wollen diese Realität doch lieber nicht in diesem Hohen Haus mit unterstreichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auch wir sagen: Kinder brauchen ein Dach über dem Kopf, gute Luft, sauberes Wasser, reine Böden, eine Verkehrspolitik, die sich an den Kindern orientiert und die deren Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Kinder brauchen auch eine Nachhaltigkeit innerhalb der Haushaltspolitik. Dieses Potential dürfen wir nicht auf Kosten künftiger Generationen verfrühstücken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese Erkenntnisse dürfen nicht den Charakter des Worts zum Sonntag bekommen; denn viele politische Debatten erwecken schon den Eindruck, dass oft der Besitzstand gewinnt, weil Kinderinteressen im politischen Raum immer noch die geringeren Interessen und die geringere Lobby haben, wenn es zum Schwur kommt.

Eines muss doch auch klar sein: Wenn heute oftmals von Kinderpolitik die Rede ist, wird doch zumeist das demografische Lied angestimmt. Wer zahlt unsere Rente, wer bezahlt unsere Krankenversicherung? Vor allem deswegen sind doch Kinderpolitik und Familienpolitik in den letzten Jahren thematisiert worden und aus der Gedönsecke herausgekrochen. Der Generationenvertrag „Jung für Alt“ droht einzustürzen, und die Losung von 1957 „Kinder gibt es immer“ stimmt heute nicht mehr. Allein am Jahrgang 1965 der Frauen wird deutlich: Ein Drittel dieser Frauen bleiben kinderlos, und 41% der

Akademikerinnen aus diesem Jahrgang haben keine Kinder.

Für uns als Politikerinnen und Politiker stellt sich doch die Frage: Welche politischen Hausaufgaben sind denn da nicht gemacht worden? Dass Frauen keine vernünftige Perspektive zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben, ist leider auch Ihr trauriges Verdienst; denn lange genug haben Sie mit Ihrem verzopften Frauenbild berufstätige Frauen als Rabenmütter an den Pranger gestellt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mit Ihren Beschlüssen zum Einstieg in die Krippenfinanzierung haben Sie doch die letzte Reißleine gezogen. Wenn man sich das eine oder andere in der Interpellation durchliest, muss man Ihnen aber eines tatsächlich zugute halten: An Selbstbewusstsein fehlt es nicht. Da wird geschrieben, dass man bei der Ausweisung der Krippenplätze in den letzten drei Jahren so richtig vorangekommen wäre. Sie müssten schon auch sagen, wer Ihnen in dieser Hinsicht sehr geholfen hat. Ohne das rotgrün regierte München sähe Ihre Bilanz noch weit verheerender aus; Sie hätten schlechte Karten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Schauen Sie sich einmal an, mit welcher Hartleibigkeit Bürgermeister die Kleinkindbetreuung nach wie vor torpedieren. Man muss nicht nochmals die Beispiele aus dem Ausschuss bemühen; zum Beispiel hat sich das oberpfälzische Kemnath zu einer Zusage einer Kostenbeteiligung an der Krippe erst bereiterklärt, nachdem die Familie dem Gemeinderat vertraglich zugesichert hat, dass sie der Kommune Kosten erstattet. In anderen Gemeinden müssen die Familien Rechenschaft beim Gemeinderat ablegen, warum sie einen Krippenplatz brauchen, müssen sich Anwürfe gefallen lassen, warum sie denn ihre Kinder in der Krippe betreuen lassen wollen. Ich sage Ihnen: Wer Bauland verkauft, wer den Zuzug von Familien propagiert und wer mit Dollarzeichen in den Augen Investitionen will, der muss auch für die Infrastruktur für Kinder sorgen und darf sie nicht nach altem Inquisitionsmuster drangsalieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie verkünden in der Interpellation mit stolzgeschwellter Brust: Kein anderes Land in Deutschland hat ein Ausbaukonzept dieser Größenordnung zur Umsetzung gebracht. Ich sage Ihnen darauf: Auch kein anderes Land hatte dies so nötig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auch beim Thema Bildung und Erziehung wird das Motto ausgegeben: Bei Pisa waren wir im Mittelmaß noch die am besten Mittelmäßigen. Hierzu passt ein altes Sprichwort: Unter den Blinden ist der Einäugige König. Ich sage Ihnen aber: Wenn Pisa ergibt, dass die Chance

eines bayerischen Akademikerkindes, das Gymnasium zu besuchen, zehnmal höher ist als die Chance eines Facharbeiterkindes, dann kann doch hier nicht die bayerische Schulpolitik mit Weihwasser ausgesegnet werden. Chancen und Perspektiven für alle Kinder müssen das Ziel sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Pädagogisch beginnt dies im Kindergartenalter. Der Bildungs- und Erziehungsplan ist eine feine Sache, eine schöne Grundlage, die zurecht über Bayern hinaus Anerkennung findet. Aber wie gewährleisten Sie, dass der schöne Bildungs- und Erziehungsplan, der wirklich eine sehr, sehr gute Grundlage ist, nicht nur in Sonntagsreden immer wieder Erwähnung findet, aber ansonsten mit zwei Löchern abgeheftet im Bücherschrank steht? Wir fordern gleichzeitig, die Qualität in den Kindergärten durch die Absenkung der Gruppenstärken nochmals zu heben. Ansonsten, glaube ich, wird der Bildungs- und Erziehungsplan mit seinem Anspruch schwer umzusetzen sein und im Alltag nicht Realität werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Man muss ganz ehrlich sein: Die soziale Selektion wird nie ganz auszugleichen sein. Wenn wir aber ein Schulsystem haben, das diese Ungleichheit tatsächlich immer noch weiter vererbt, muss für uns die politische Folgerung sein: Wir müssen Kinder individuell fördern. Wir müssen dem Grundsatz entgegenwirken, dass Kinder für ihre Eltern haften.

Nach dem Ausbau der sechsstufigen Realschule hat der Druck in den Grundschulen massiv zugenommen – Sie bestreiten dies zwar immer noch. Familien mit entsprechendem Bildungshintergrund haben die Erwartung, dass ihr Kind den Übertritt schafft; manchmal wird dies mit allen Mitteln versucht. Kinder aus bildungsfernen Familien machen in der Schule die nachhaltige Erfahrung: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Wir sollten versuchen, politisch gegenzusteuern, dass diese Kinder dies auf Dauer als Last mittragen.

In der Beantwortung der Interpellation fällt mir auf, dass Sie zum Beispiel die Ganztagsschulen fast ausschließlich unter dem Betreuungsaspekt diskutieren. Die pädagogische Chance der Ganztagsschulen, dort Zeit zum Lernen zu haben, dort tatsächlich auch Defizite auszugleichen, Stärken herauszuarbeiten, kann vom Otto Normalschüler nicht wahrgenommen werden. Entweder befindet man sich in der Kategorie defizitär und ist an einer staatlichen Ganztagsschule aufgenommen oder man ist hochbegabt. Dazwischen gibt es nur Angebote auf dem privaten Schulsektor. Dies ist dann wiederum eine Frage des Geldbeutels. Sie müssten doch sehen, welchen Zulauf diese Schulen haben, nicht nur in München, sondern auch in anderen Gebieten, welches pädagogische Angebot private Ganztagsschulen bieten. Sie werden mit einer Nachfrage überrannt, dass sie um Klassen erweitern könnten.

Meine Damen und Herren, beim Thema Armut sieht die Staatsregierung in der Beantwortung fast keinen Handlungsbedarf. Aber auch in Bayern gilt nach wie vor der Grundsatz: Alleinerziehend zu sein oder viele Kinder zu haben, birgt das Armutsrisiko Nummer 1 in sich. Ihre Definition heißt: Absolute Armut existiert nicht, weil es ja Sozialhilfe gibt. An verdeckter Armut sind die Menschen sozusagen persönlich selbst schuld, weil sie den Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, den Sie einräumen – ich finde gut, dass Sie ihn betonen –, nicht geltend machen. Der Sozialbericht schätzt das Potenzial von Menschen in verdeckter Armut mir fast derselben Zahl wie die Zahl derjenigen, die Sozialhilfe beziehen. Die Bilanz ist doch famos geschönt. Ich schaue mit unter Punkt 4 an, was die Staatsregierung tut, um den Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen mittel- und langfristig vorzubeugen. Dort wird geschrieben: Das beste Mittel, Armutsrisiken vorzubeugen, ist eine florierende Wirtschaft und ein funktionierender Arbeitsmarkt. Das ist sicherlich ein Teil des Ganzen. Dies wird aber als endgültig dargestellt. Gott sein Dank ist dann ein Einstieg gelungen, wieder eine herzhafte Philippika gegen Rot-Grün in Berlin halten zu können. Wieder wurde Ihr Motto zum besten gegeben: Alles Schlechte kommt aus Berlin, und wenn etwas gut ist, kann es eigentlich nur von uns gewesen sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich aber doch einmal nachfragen lassen. Für mich sind nach wie vor die besten Mittel, Armutsrisiken zumindest halbwegs vorzubeugen: Bildung, Schulabschluss, Ausbildungsplatz. Das bietet zwar keine Gewähr, aber stellt zumindest ein Netz dar, das den freien Fall abbremst.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Bildungspolitik ist Ländersache. Deshalb fällt dies wieder auf Ihre Füße.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auch hinsichtlich dessen, wie man Familien materiell unterstützt, haben wir doch immer noch einen eklatanten Unterschied. Nach wie vor lautet unser Konzept, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Ich sage: Wir würden das Ehegattensplitting kappen, damit die Besserverdienenden ohne Kinder einen Beitrag zur Förderung von Kindern aus unterprivilegierten Familien leisten, die nicht so viel Geld haben. Wir wissen, dass dies von der Finanzierung her schwierig ist; da bauen wir uns gar keine Wolkenkuckucksheime auf. Ihr Familiengeld war schon im Bundestagswahlkampf eine Luftnummer. Die Familien können doch nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Bei der Suchtprävention ist unser Anliegen, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken, ihnen eine Lebens

kompetenz auf den Weg zu geben, die nicht so einfach angreifbar macht, dass Lebenskrisen zu Suchtverhalten führen.

Die Zahlen zeigen, dass wir in vielem noch nicht sehr erfolgreich sind. Das Zusammenspiel von Familien, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen und Jugendämtern ist oft noch nicht sehr erfolgreich. Die Tatsache, dass der Griff zur Zigarette vor allem bei Mädchen immer früher stattfindet, muss für uns ein Alarmzeichen sein, ebenso wie die Tatsache, dass exzessives Trinken – sprich: saufen, bis der Doktor kommt – immer mehr zunimmt.

Wir müssen die politischen Kampagnen dagegen weiter fortsetzen. Eines muss klar sein: Drogen werden immer zu unserer Gesellschaft gehören. Wir müssen den Jugendlichen klarmachen, dass der Gebrauch von Drogen keine Problemlösungsstrategie ist, dass Suchtmittel nicht die gewünschte Coolness bringen und die Anerkennung meist nur von kurzer Dauer ist.