Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Horrorkatalog der Staatsregierung, dem Artikel 41. Nicht ohne guten Grund erntete gerade dieser Artikel bei der Anhörung massive Kritik, weil er eindeutig belegt, dass die Abschaffung der Lernzielgleichheit rein formal und damit eine einzige Farce ist. Die SPD lehnt den gesamten Artikel kategorisch ab. Wir sind überzeugt, dass die darin neu formulierten Hürden, Regelungen und Maßnahmen eine humane, pädagogisch verantwortungsvolle schulische Integration nicht zulassen. Begriffe wie „aktive Teilnahme am Unterricht“ und „gemeinschaftsfähig“ sind reine Auslesekriterien und werden für viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf den Zugang zur allgemeinen Schule absolut verhindern.
Gestatten Sie mir, dass ich an dieser Stelle einige Sätze aus der Stellungnahme der Vertreterin der Landesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ zitiere.
Sie ist Mutter eines autistischen Kindes und führte bei der Anhörung am 04 Juli des letzten Jahres Folgendes aus:
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich fragen: Ist es nicht ein Armutszeugnis, über ein Kind zu sagen, dass es nicht in die Gesellschaft passt? Können sie sich vorstellen, welche Demütigung es für eine Familie ist, wenn ihr gesagt wird: Dein Kind ist nicht gemeinschaftsfähig? Nein, meine Damen und Herren, keines unserer Kinder ist nicht gemeinschaftsfähig.
Ich meine vielmehr, eine Schule ist nicht gemeinschaftsfähig, solange sie nicht in der Lage ist, alle Kinder zu integrieren. Denn wir, die Familien, sind die Keimzellen dieser Gesellschaft. Wir beweisen Tag für Tag, dass unsere behinderten Kinder mit ihren Geschwistern gemeinsam leben und lernen können. Und deswegen erwarten wir auch von der Schule, dass sie Rahmenbedingungen schafft, die jedem unserer Kinder eine Förderung ermöglicht, ohne sie auszusondern.
Spätestens seit der Pisa-Studie wissen wir, dass es keine pädagogischen Gründe gibt, irgendein Kind vom gemeinsamen Unterricht auszuschließen. Es ist eine Schande für die Staatsregierung, das Recht auf Einrichtung von Integrationsklassen zu verwehren, Kolleginnen und Kollegen.
Während die SPD in ihrem Gesetzentwurf Elternrechte durch gleichberechtigte Teilnahme an Fachgremien stärkt, treibt die CSU mit den Eltern förderbedürftiger
Kinder ein heuchlerisches Spiel. Kaum zu glauben, aber wahr: Noch im November des letzten Jahres hatte die CSU im Gesetzentwurf der Staatsregierung den Artikel 41 dahin gehend geändert, dass Erziehungsberechtigte das Recht haben, sich am Begutachtungsverfahren zu beteiligen. Durch den Änderungsantrag der CSU vom 06. 02. 2003 wird den Eltern dieses Recht auf Beteiligung in rigoroser Weise wieder abgesprochen, denn jetzt heißt es: „Erziehungsberechtigte sind rechtzeitig zu informieren und im Rahmen des Begutachtungsverfahrens anzuhören“. Das ist nicht nur eine gravierende Änderung, sondern eine massive Verschlechterung. Das ist brutale Täuschung. Jeder weiß, dass Information und Anhörung zu den Mindeststandards gehören, die in keiner Weise neu sind.
Dieser Roll-back ist eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen und belegt gleichzeitig das Doppelspiel der CSU: In der Öffentlichkeit verkauft sie, Ziel des Gesetzentwurfes sei es, die Mitwirkungsrechte der Eltern zu verbessern. In Sonntagsreden haben Mitspracherecht und Mitentscheidung der Eltern an den Schulen einen hohen Stellenwert. Herr Freller beteuert, den Eltern sollten mehr Entscheidungskompetenzen übertragen werden. Frau Hohlmeier fordert Kinder, Eltern und Lehrer auf, die Schulen zu reformieren. Aber wie, Kolleginnen und Kollegen, wie soll das geschehen, wenn ihnen die dafür notwendigen Rechte verweigert werden?
Die CSU hat keinerlei Interesse an Elternrechten. Sie setzt sich eiskalt darüber hinweg, Elternrechte zu beachten, die in Artikel 6 des Grundgesetzes und in Artikel 126 der Bayerischen Verfassung
ja der Bayerischen Verfassung, mein lieber Herr von Rotenhan da oben –, festgeschrieben sind. Was bleibt, sind Phrasen, nichts als hohle Phrasen.
Artikel 41 gibt außerdem Anlass, das zu tun, was Herr Stoiber einer Mutter mit ihrem mehrfach schwer behinderten Kind geraten hatte, „Bayern doch zu verlassen“. Auf der Eröffnungsgala sang Herr Stoiber hingegen das Hohe Lied der bayerischen Behindertenpolitik. Ich zitiere:
Ihm sei gesagt worden, dass in Bayern immer noch etwas bewegt werden konnte, wo in anderen Ländern nichts mehr ging.
Die Mutter hat mit ihrem Kind Bayern inzwischen verlassen. In Österreich wurde ihre Tochter anstandslos und sogar ohne Gutachten in eine Grundschule aufgenommen. Dort wird sie jetzt gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet.
Kolleginnen und Kollegen, der gesamte Gesetzentwurf führt Auslese und Trennung von Kindern und Jugendli
chen mit sonderpädagogischem Förderbedarf konsequent fort und verkennt dabei die pädagogischen Möglichkeiten für einen gemeinsamen Unterricht aller Kinder.
Apropos Kinder: Im Kindergartenbereich wird die integrative Erziehung künftig ihren festen Platz erhalten. Dies ist dem „Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von null bis sechs Jahren“ zu entnehmen. Uneingeschränkte Teilhabe, gemeinsame Bildung, Erziehung und Betreuung sowie eine auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestellte spezifische Förderung und Unterstützung sollen fortan allen Kindern mit Behinderung zukommen.
Auch für die Erwachsenen greifen zahlreiche Instrumentarien aufgrund des Gleichstellungsgesetzes des Bundes, welches durch eine Landesgesetzgebung auf Druck der SPD ergänzt wird, um eine echte und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Würde ich die bayerische Situation mit einem Haus vergleichen, so existierten Keller und Dach. Dazwischen aber leider nur Luft!
Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wenn Sie so lachen: Würden Sie in einem derartigen Haus leben wollen? – Beurteilen Sie das bitte selbst.
Gemeinsamer Unterricht aller Kinder ist ein gemeinsames Markenzeichen der PisaGewinner-Länder. Hier ist eindeutig belegt, dass integrativer oder lernzieldifferenter Unterricht, der auf die Vielfalt in der Gemeinsamkeit eingeht, sowohl lernstarke als auch förderbedürftige Schülerinnen und Schüler zu Spitzenleistungen führt.
Zu einer Schule, in der Lernen Freude macht, zählt in Deutschland die „Bielefelder Laborschule“, die mit einem Anteil förderbedürftiger Schüler in Höhe von 3,5% an der Gesamtschülerzahl phänomenale Schulergebnisse erzielt hat. Ich möchte deshalb folgende Worte des Gründers der „Bielefelder Laborschule“, Hartmut von Hentig zitieren:
Solange Ihr nicht wahrnehmt, was das Schulsystem euren Kindern antut, mit der ständigen Benotung, mit der Fiktion einer homogenen Klasse, mit der Dreigliedrigkeit und der Behauptung, diese werde der Verschiedenheit der Kinder gerecht, solange ihr das nicht wahrnehmt, ist die Krise noch nicht weit genug fortgeschritten.
Es ist nicht zu überhören, Kolleginnen und Kollegen: Erwachsene mit Behinderung fordern mit aller Kraft: Schluss mit Fürsorge, Mitleid und Bevormundung. Unsere Aufgabe in diesem Hause ist es, von dem defizitorientierten Denken endlich wegzukommen. Menschen mit Behinderungen erwarten Veränderungen, wenn sie zu uns sagen: Wir werden behindert. Ein komplettes Umdenken kann aber nur funktionieren, wenn bereits in
Der Gesetzentwurf der Staatsregierung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Er ist weder zukunftsorientiert noch schafft er Normalität für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, lehnt die SPD diesen Gesetzentwurf der Staatsregierung ab.
Desgleichen lehnen wir den Änderungsantrag der CSU vom 06. 02. 2003 ab. Dem Dringlichkeitsantrag der CSU vom 12. 02. 2003 sowie dem Änderungsantrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Gesetzentwurf der Staatsregierung stimmen wir zu. Außerdem beantragen wir namentliche Abstimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Frau Goertz, wozu beantragen Sie namentliche Abstimmung? – Ich habe es nicht verstanden. – Also, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sie haben es gehört: Es wird namentliche Abstimmung zum Gesetzentwurf der SPD beantragt. – Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Herr Kollege Thätter. Bitte, Herr Kollege.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wird der Gesetzentwurf zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen in Zweiter Lesung beraten und auf den Weg gebracht. Dabei sind das Förderschulwesen und Bemühungen um Integration an den Schulen ein wesentlicher Teil der vorgesehenen Änderungen.
Mit den Passagen zur Integration werde ich mich etwas ausführlicher beschäftigen, denn hierbei handelt es sich um einen vorläufigen Abschluss einer Entwicklung, die vor Jahren eingeleitet wurde. Vor rund sechs Jahren haben wir uns aufgemacht, zum bestehenden Förderschulwesen in Bayern zusätzliche Möglichkeiten integrativer Beschulung zu finden.
Schon 1998 und nicht erst im Jahr 2002 wurden wesentliche Beschlüsse gefasst, die sich mit diesem Thema befassten.
Zu der Integrationsdebatte ist grundsätzlich Folgendes festzustellen: Nach der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus wurde in Bayern vor rund 40 Jahren intensiv damit begonnen, Behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche zu beschulen. Diese Beschulung wurde immer weiter verbessert, um eine bestmögliche Förderung zu erreichen. Ich möchte in diesem Zusammenhang gerade heute deutlich herausstellen: Es wurde in Bayern ein herausragendes System für eine bestmögliche Förderung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgebaut. Es wurde versucht, in einem aufgegliederten För
derschulsystem gezielt Förderung zu geben, und es wurde und wird in diesen Schulen gute Arbeit geleistet.
Bei der Änderung des Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes geht es nicht darum, das Förderschulwesen in Bayern zu ersetzen und alle Kinder in integrativen Einrichtungen zu beschulen, wie es aus dem Gesetzentwurf, den die SPD eingebracht hat und der heute ebenfalls zur Abstimmung steht, herauszulesen ist.
Viele Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – es sind wohl zwischen 80% und 90% der Eltern – sehen in der Förderschule die beste Möglichkeit für ihr Kind. Aus diesem Grund wollen sie, dass die Förderschulen nicht nur erhalten bleiben, sondern auch gut ausgebaut und versorgt werden. Man macht es sich zu leicht, wenn man argumentiert, diese Eltern seien nicht aufgeklärt und hätten noch nichts von Integration gehört. Man macht es sich auch zu leicht, wenn man in Anträgen und an runden Tischen das Förderschulsystem abschaffen möchte und bei Gesprächen mit Betroffenen dieses verneint.
Vielmehr gehört es zu unseren wesentlichen Aufgaben, diesen Eltern die Angst zu nehmen, dass durch die Integrationsbemühungen Finanzmittel und Personal für das Förderschulwesen verloren gehen werden. Die Anträge der Landeselternvereinigung, die morgen im Ausschuss behandelt werden und die Verbesserungen in den Schulen zur geistigen Entwicklung bringen sollen, sind ein ernst zu nehmender Beitrag in dieser Hinsicht.
Aus diesem Grund wollen wir bei der Einschulung der Kinder flexibel bleiben. Ursprünglich hatte der Entwurf den Ansatz, dass alle Kinder zur Einschulung bei der Regelschule angemeldet werden. Die Regelschule sollte dann entscheiden, ob das einzelne Kind dort erfolgreich beschult werden kann. Wir waren der Meinung, damit einen großen Schritt in Richtung Integration zu tun. Wir wollten sozusagen ein Zeichen für unsere Integrationsbemühungen setzen. Aber es kam großer Widerstand von der Elternschaft und von den Schulen im Hinblick auf die geistige Entwicklung. Sie argumentierten, die Kinder sollen nicht Negativerlebnisse durchmachen müssen, bevor sie an die Schule kommen, die für sie die richtige ist. Diese Argumente sind nicht falsch, da über Frühförderung und Schulvorbereitung mit Tests und Gutachten der sonderpädagogische Förderbedarf des einzelnen Kindes festgestellt ist und die Einschulung in die Förderschule sofort erfolgen könnte, wenn die Förderschule als richtig angesehen wird. Deshalb wollen wir es nun so machen, dass das Problem über entsprechende Ausführungsbestimmungen gelöst wird.