Protocol of the Session on January 29, 2003

Herr Staatssekretär, wie bewertet die Staatsregierung die Besorgnis der Frühfördereinrichtungen, Sozialverwaltungen und betroffenen Eltern über den künftigen Stellenwert der ambulanten Frühförderung, die aus der im Rundschreiben des Landkreistages vom 12. November 2002, Aktenzeichen V-414-31/ma, an alle Landkreise ausgesprochenen Empfehlung, die Listen von Elternunterschriften für eine kostendeckende Finanzierung der ambulanten Frühförderung „in eigenständiger Zuständigkeit zu entsorgen“ und der vom Landkreistag vor dem Hintergrund der Haushaltsstabilität ausgesprochenen, vom bisherigen Prinzip, über Notwendigkeit und Umfang der Frühfördermaßnahmen nicht nach Haushaltslage, sondern nach fachlicher Beurteilung durch Ärzte und Fachpersonal zu entscheiden, abweichenden Forderung nach einer Reduzierung der Behandlungseinheiten pro Kind resultiert?

Herr Staatssekretär.

Staatssekretär Georg Schmid (Sozialministerium) : Herr Präsident, Frau Kollegin Narnhammer! Die Frühförderung hat für die Staatsregierung nach wie vor einen ganz besonderen Stellenwert. Alle Anstrengungen des Sozialministeriums sind darauf gerichtet, zusammen mit den Leistungsanbietern und den zur Kostentragung verpflichteten Rehabilitationsträgern das in der Bundesrepublik einmalige und auch beispielhafte System der Frühförderung in Bayern zu erhalten und zu sichern.

Bei dem in der Anfrage angesprochenen Schreiben des Landkreistages vom 12. November des vergangenen Jahres handelt es sich offensichtlich um ein internes Rundschreiben an alle Landräte, bei dem das Sozialministerium nicht in den Verteiler aufgenommen wurde. Die Empfehlung zur „Entsorgung“ von Unterschriftenlisten halte ich übrigens für nicht sachgerecht. Dem Sozialministerium liegt außerdem ein Rundschreiben des Landkreistages vom 13. November 2002 vor, in dem empfohlen wird, bei Einzelbewilligungen keine konkrete Zahl von Behandlungseinheiten mehr zu bewilligen, sondern nur noch bis zu 80 Behandlungseinheiten – bisher 88 –, und diese unter den Vorbehalt der verfügbaren Haushaltsmittel zu stellen. Wartezeiten seien in Kauf zu nehmen.

Dazu darf ich wie folgt Stellung nehmen: Aufgabe der Rehabilitationsträger ist es nicht, eine bestimmte Zahl von Behandlungseinheiten zu bewilligen, sondern einen vorhandenen Bedarf abzudecken. Ist dieser abgedeckt, ist die Hilfe einzustellen, auch wenn möglicherweise die bewilligten Behandlungseinheiten noch nicht ausgeschöpft sind. Reichen die bewilligten Behandlungseinheiten dagegen zur Bedarfsdeckung nicht aus, muss die

Hilfe, auf die ein Rechtsanspruch besteht, fortgesetzt werden. Die Zahl der im ersten Bewilligungsbescheid festgesetzten Behandlungseinheiten ist deshalb kein entscheidendes Kriterium.

Rechtswidrig wäre es, die Frühförderleistungen unter einen Haushaltsvorbehalt zu stellen und nach Ausschöpfung des vorgesehenen Budgets keine Leistungen mehr zu erbringen. Ich sage dies ganz ausdrücklich und deutlich. Nach § 17 Absatz 1 SGB I müssen die Leistungsträger darauf hinwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und zügig erhält und dass die erforderlichen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Unvertretbar lange Wartezeiten sind damit nicht zu vereinbaren. Ich bin der Meinung, dass bei der Erbringung dieser Leistungen keine Zeit verloren werden darf, damit die Behandlung gewährleistet ist.

Die Regierungen werden eigens nochmals auf die Rechtslage hingewiesen, damit sie bei eventuellen Verstößen als Rechtsaufsichtsbehörden die notwendigen Maßnahmen ergreifen können. Das ist uns ein wichtiges Anliegen. Deswegen sollte es über die Regierungen noch einmal transportiert werden, um solchen Vorkommnissen Einhalt zu gebieten, Frau Kollegin Narnhammer.

(Frau Narnhammer (SPD): Ich bedanke mich für die klaren Worte!)

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Die Fragestunde ist beendet.

Ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 4

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten

„Bilanz und Ausblick“

Hierzu hat nun der Herr Ministerpräsident das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Am morgigen Donnerstag jährt sich zum siebzigsten Male der Tag, an dem die Weimarer Republik unterging, an dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Dieser Tag markiert den Beginn der Unterdrückung der Menschenrechte und den Untergang der Demokratie in Deutschland. Nach dem 30. Januar begannen die Nationalsozialisten mit der Umsetzung ihrer rassistischen Wahnvorstellungen, die schließlich zur Ermordung von 6 Millionen Juden und zu einem Weltkrieg mit Millionen von Opfern führte. Wir erinnern uns an diesem Datum daran, dass die Nazis in wenigen Wochen die Grundfesten der Demokratie geschleift haben. Mit der zynisch so genannten „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ wurden die Grundrechte der Staatsbürger praktisch abgeschafft. Mit diesem Tag wurde das Ende des Jahrhunderte alten Föderalismus in Deutschland eingeläutet. Mit dem „Ermächtigungsgesetz“ wurde die Rolle des demokratisch gewähl

ten Parlaments bei der Gesetzgebung und bei der Kontrolle der Regierung aufgehoben.

Ich bekenne meinen großen Respekt vor Otto Wels und den SPD-Reichstagsabgeordneten, die das Ermächtigungsgesetz ablehnten, und meinen Respekt vor allen, die Widerstand gegen die Diktatur leisteten und verfolgt wurden oder ihr Leben gelassen haben.

(Allgemeiner Beifall)

Dieses Datum mahnt uns zur Erinnerung und zum Gedenken. Das bleibt gemeinsame Aufgabe aller Demokraten.

Wir brauchen den Blick zurück und den Blick nach vorne. Nur aus der Erinnerung wächst die Kraft zur Versöhnung; nur mit Zuversicht, Selbstvertrauen und Mut können wir unsere Zukunft und die unserer Kinder gestalten und sichern.

Meine Damen, meine Herren, wenn ich heute eine Bilanz der Arbeit der Staatsregierung ziehe, dann könnte ich mich auf zwei Aussagen beschränken: Deutschland im Januar 2003 – 65% der Bürgerinnen und Bürger sind pessimistisch, was die Verhältnisse in Deutschland angeht. Bayern im Januar 2003 – 68% der Bürgerinnen und Bürger blicken zuversichtlich in die Zukunft. Die Menschen in Bayern sind optimistisch; denn sie wissen: Bayern bietet Lebensqualität heute und Perspektiven für morgen. Bayern 2003 – das ist auch in schwierigen Zeiten ein modernes, ein erfolgreiches, ein solidarisches Land.

(Beifall bei der CSU)

Mit seiner Wirtschaftskraft steht Bayern heute mit an der Spitze in Deutschland. Das war nicht immer so. Erst 1987 hat das bayerische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung den westdeutschen Durchschnitt erstmals übertroffen. Seitdem sind die Wirtschaftskraft Bayerns und damit auch sein Wohlstand kontinuierlich angestiegen. Heute hat die Wirtschaftskraft Bayerns nicht nur den Durchschnitt erreicht, sondern liegt mit 108,7% des westdeutschen Durchschnitts mit an der Spitze. Damit hat Bayern selbst Baden-Württemberg übertroffen, von Niedersachsen mit 83,6% und Nordrhein-Westfalen mit 95%, die unterdurchschnittlich sind, gar nicht zu reden. Das ist auch der Erfolg der Regierungspolitiken der letzten vier Jahrzehnte und meiner Vorgänger in den letzten vier Jahrzehnten.

(Beifall bei der CSU)

Den Aufstieg unseres Landes haben wir aber ganz entscheidend der Tatkraft und dem Fleiß der Bayern zu verdanken, ihrem Selbstbewusstsein und der Einstellung: Gemeinsam schaffen wir es.

Staatsregierung und Mehrheitsfraktion in diesem Hohen Haus hatten und haben klare Vorstellungen von der Zukunft Bayerns. Wir haben sie verlässlich umgesetzt. Wir sind offen für Fortschritt und Innovation und bewahren gleichzeitig die Identität Bayerns. Seriöse Haushaltsführung lässt Spielraum für Investitionen und belastet

nicht die nachfolgenden Generationen. Solidität, Zuverlässigkeit und Modernität der bayerischen Politik haben Vertrauen geschaffen. Dieses Vertrauen hat die Kräfte entfesselt, die den Aufstieg unseres Landes vorangetrieben haben.

Meine Damen, meine Herren, Grundvoraussetzung für die Zukunft einer Gesellschaft ist das Vertrauen der Menschen in den Staat und in die für ihn handelnden Institutionen und Personen. Besonders in schwierigen Zeiten, wenn es auch darum geht, Lasten aufzuerlegen und Einschnitte vorzunehmen, brauchen wir das Vertrauen der Menschen. Vertrauen ist zunehmend der Schlüssel zur Führungsfähigkeit der Demokratie geworden. Nur wer Vertrauen hat, wer sich und seine Anliegen in guten Händen sieht, blickt optimistisch in die Zukunft. Nur wer Vertrauen hat, nimmt auch Herausforderungen an und meistert sie.

Für den Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, ist heute die wichtigste Frage, wie das Vertrauen in unsere Zukunft, vor allem in die wirtschaftliche Zukunft, wiederhergestellt werden kann. Der Bundesarbeits- und Bundeswirtschaftsminister stellt heute seinen Jahreswirtschaftsbericht vor, der im Hinblick auf die Datenlage das pessimistischste ist, was wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten gehört haben. Wir müssen das Vertrauen der Menschen immer wieder neu gewinnen. Wir müssen den Menschen Perspektiven geben, Anliegen ernst nehmen, Mut und Zuversicht schenken. Wir müssen die Wahrheit sagen und dürfen den Menschen auch bittere Tatsachen nicht ersparen.

Wenn die Bürger täglich rot-grüne Ankündigungen, Dementis und Widerrufe erleben, zerstört das Vertrauen. Wortbrüche verheißen keine Perspektive. Ein vernichtendes Urteil über die rot-grüne Regierungspolitik fällt der EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes. Er sagte: „In der Eurozone gibt es ein klar identifizierbares Problem: Deutschland“.

Überbordende Staatsverschuldung, Steuererhöhungen, zu hohe Sozialversicherungsbeiträge, eine Staatsquote von über 48 Prozent, drückende Bürokratie, ein verkrusteter Arbeitsmarkt, halbherzige und unausgegorene Maßnahmen zur Reform des Gesundheitswesens, eine gescheiterte Riester-Rente, Rekordarbeitslosigkeit, Höchststände bei Insolvenzen, Abwanderung der Eliten, Verlust des Innovationsvorsprungs, bankrotte Kommunen – die Liste der Probleme und Versäumnisse in Deutschland ist lang. Das Klima der Verunsicherung, die fehlenden Reformen und die falschen und verspäteten Maßnahmen der Bundesregierung bleiben auch auf Bayern nicht ohne Auswirkungen.

Die verfehlte rot-grüne Wirtschafts- und Steuerpolitik treibt gerade die kleinen und mittleren Unternehmen zunehmend in die Pleite. Deshalb macht der Bundeswirtschaftsminister in seinem Haus derzeit radikale Reformvorschläge. Er bringt diese Vorschläge ganz sanft vor. Ich kann nur sagen: Dies sind im wesentlichen unsere Vorschläge. Wir werden ihn unterstützen, wenn er diese Vorschläge in seiner Fraktion durchbringt.

(Beifall bei der CSU)

Im letzten Jahr mussten in Deutschland 37000 Unternehmen Insolvenzantrag stellen, das ist ein Anstieg von über 16 Prozent. Dieser rot-grünen Depression kann sich auch Bayern als Land des Mittelstandes nicht entziehen. Der finanzielle und wirtschaftliche Scherbenhaufen von Rot-Grün hat Bayern 2002 gut 1 Milliarde Euro Mehrbelastungen durch Steuerausfälle und zusätzliche Finanzausgleichsleistungen beschert. Obwohl wir selbst Probleme haben, müssen wir alleine 308 Millionen Euro wegen der Steuerausfälle in anderen Ländern mehr in den Länderfinanzausgleich zahlen. Für das Jahr 2003 rechnen wir mit Steuerausfällen von 800 Millionen Euro. Dieser Prognose liegt ein Wirtschaftswachstum von real 1,5 Prozent zugrunde, wie es die Bundesregierung noch letztes Jahr geschätzt hat. Auch das musste Herr Clement heute nach unten korrigieren.

Gleichzeitig betreibt Rot-Grün in Berlin eine massive Politik der Benachteiligung Bayerns. Die bayerischen Bürgerinnen und Bürger sollen bestraft werden, weil sie der CSU in so hohem Maße ihr Vertrauen ausgesprochen haben.

(Beifall bei der CSU)

Deutlich wird das an der massiven Kürzung von Straßenbaumitteln für Bayern im Anti-Stau-Programm und die gleichzeitige Erhöhung des Anteils von NordrheinWestfalen. Dazu passt das üble Spiel, das mit dem bayerischen Transrapid-Projekt versucht wurde.

(Beifall bei der CSU)

SPD-Ministerpräsident Steinbrück meinte, die von ihm angestrebte Umleitung von Bundesmitteln für die bayerische Transrapidstrecke nach Nordrhein-Westfalen sei doch „unter SPD-Parteifreunden zu lösen“. Prompte Reaktion des SPD-Parteifreunds Schröder: Überlegungen zur Kürzung der Fördermittel für Bayern und „Geheimverhandlungen“ mit Genossen über die Mittelverteilung. Was ist das für ein Stil? – Wir haben zwei Projekte, es wird aber nur mit Vertretern des einen geredet.

(Beifall bei der CSU)

Es geht mir hier nicht um den Inhalt, sondern um den Stil. Die Opposition würde sich zurecht erregen, wenn ich mit dem Bürgermeister einer Stadt sprechen würde und mit dem Bürgermeister einer anderen Stadt nicht. Unserer entschlossenen Reaktion ist es zu verdanken, dass Mittel nach Nordrhein-Westfalen nicht zulasten Bayerns umgeleitet werden. Wir wollen den Transrapid in Bayern und haben nichts gegen einen Transrapid in Nordrhein-Westfalen. Wir wollen aber gerecht behandelt werden. Der Transrapid kann in Bayern schneller geplant und gebaut werden als der Metrorapid in Nordrhein-Westfalen. Der Transrapid geht nicht zulasten anderer Verkehrsprojekte in Bayern, wie etwa des S-Bahn-Ausbaus in Nürnberg. Diese Mittel des Bundes stehen allein für die Technologie des Transrapid in Deutschland zur Verfügung. Sie werden entweder in Bayern verwendet oder fließen nach Nordrhein-Westfalen.

In diesem Fall hätten wir nichts von diesen Mitteln, auch nicht für andere Verkehrsprojekte. Deswegen ist es falsch, diese Mittel gegen andere Mittel auszuspielen. Wenn es so wäre, könnte man darüber reden. Es ist aber nicht so. Der frühere und der jetzige Bundesverkehrsminister haben klare Vorgaben gemacht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie müssen deshalb wissen, wenn wir uns dieser Auseinandersetzung mit dem Bund entziehen, begeben wir uns einer Chance, Technologie nach Bayern zu holen. Meine Aufgabe ist es, alles zu versuchen, dass Bayern gegenüber anderen Bundesländern gerecht behandelt wird.

(Beifall bei der CSU)

Der Transrapid soll nicht nur in China fahren. Er soll auch dort fahren, wo dieses innovative Konzept entwickelt wurde, nämlich in Deutschland. Das ist ein Symbol für die deutsche Malaise. Wir entwickeln etwas, haben aber nicht die Kraft, es in Deutschland zu realisieren. Wo bleibt eigentlich der Aufschrei der bayerischen SPD, wenn Bayern in dieser Art und Weise benachteiligt wird?

(Beifall bei der CSU)

Wessen Interessen vertreten Sie eigentlich in Berlin? Sie behaupten doch immer, dass Sie aufgrund Ihres besseren Drahtes zur Regierung in Berlin die Interessen Bayerns vertreten würden. Welche Interessen vertreten Sie eigentlich? Ich sage Ihnen ganz offen: Sie sind Büttel ihrer Genossinnen und Genossen in Berlin, aber nicht Anwalt der bayerischen Bürgerinnen und Bürger.

(Anhaltender Beifall bei der CSU)

Meine Damen und Herren, wir können die schlechten Vorgaben aus Berlin nicht ungeschehen machen und voll kompensieren. Aber wir werden mit unseren Gestaltungsmöglichkeiten der schlechten Politik in Berlin eine gute in Bayern entgegensetzen. Unser Markenzeichen ist eine verlässliche und glaubwürdige Politik. Was wir versprechen, das halten wir auch.

(Beifall bei der CSU – Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glauben Sie doch selber nicht!)

Die Vorhaben und Projekte, die wir 1998 mit dem Regierungsprogramm angekündigt haben, sind nahezu vollständig umgesetzt. Ich nenne dafür nur einige Beispiele: