Protocol of the Session on June 29, 2016

Lassen Sie uns grundlegende europäische Fragen häufiger im Landtag diskutieren und bei geeigneten Gelegenheiten im gan zen Land.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie des Abg. Dr. Erik Schweickert FDP/DVP)

Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag zu dem vorgenommen, die hiesigen Mitglieder des Europäischen Parlaments in die Arbeit des Europaausschusses mit einzube ziehen.

(Zuruf: Ach!)

Wir wollen auch weiterhin mit Kabinettssitzungen in Brüssel dazu beitragen, die Bedeutung der EU für uns in Baden-Würt temberg transparenter zu machen. Meine Regierung ist auf je den Fall fest entschlossen, europäischen Fragen in ihrer Ar beit noch mehr Gewicht beizumessen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

In der europäischen Politik sollte das Prinzip der Subsidiari tät stärker gelebt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Es geht darum, die Dinge von unten her zu denken. Zunächst einmal ist die kleinste Einheit, die örtliche Gemeinschaft, die Kommune, aufgerufen, ihre Angelegenheiten selbst zu lösen. Nur wenn es über ihre Kraft geht, soll die nächsthöhere Ein heit tätig werden, also die Region, der Mitgliedsstaat oder am Ende die Europäische Union. Die EU soll sich nicht um vie le, sondern um die richtigen, um die großen Aufgaben küm mern – eben die, die nur sie wirksam wahrnehmen kann.

Trotz immer wiederkehrender Beteuerungen nimmt die EUKommission das Subsidiaritätsprinzip nicht ernst genug. Noch gibt es zu viele unnötige Initiativen. Subsidiaritätsbedenken – etwa vom Bundesrat – werden oft mit standardisierten Ant worten abgewiegelt.

Die Fragen, wie man die Versorgung seiner Bürger mit Was ser oder sozialen Dienstleistungen sicherstellt oder welche Aufgaben unsere Stadtwerke übernehmen dürfen, können wir z. B. gut vor Ort entscheiden und organisieren.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Oder es wäre schwer einzusehen und auszuhalten, wenn eine Wiedereinführung der Elementarschadenpflichtversicherung mit europäischem Recht unvereinbar sein sollte.

Und manchmal wäre mehr Sensibilität der EU-Kommission gegenüber nationalen Besonderheiten wünschenswert. Da denke ich z. B. an unser Sparkassen- und Genossenschafts wesen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Aber es ist klar: Es gibt Probleme, die nur die europäische Ebene wirksam lösen kann. Wenn es darum geht, Steuer schlupflöcher für internationale Konzerne zu schließen, brau chen wir mindestens die europäische Ebene. Wenn es darum geht, Datenschutz im digitalen Zeitalter wirksam sicherzustel len, dann geht das nur europäisch. Ansonsten könnten große Konzerne den Flickenteppich nutzen, um den für sie bequems ten Weg zu gehen. Deshalb ist es gut, dass eine europäische Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet werden konn te.

Schließlich erfordern die großen Krisen unserer Zeit ein ge meinsames Handeln Europas in der Welt, sei es der Klima wandel, die Bedrohung durch den Terrorismus oder die Flücht lingskrise.

Mehr Subsidiarität heißt in manchen Bereichen also „mehr Europa“ und in anderen „weniger Europa“. Jede Ebene soll te sich um das kümmern, was sie am besten bewältigen und erledigen kann. Diese Unterscheidung muss uns besser gelin gen. Ansonsten bekommen wir eine Politik, die sehr fern von den Menschen ist.

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

Frieden und Freiheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit, De mokratie und Menschenrechte – wenn man die großen Lini en der Geschichte in den Blick nimmt, ist dies alles andere als selbstverständlich. Deshalb dürfen alle proeuropäischen de mokratischen Kräfte den kurzsichtigen, geschichtsvergesse nen, rechtsnationalen, rückwärtsgewandten Kräften nicht das Feld überlassen.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der SPD)

Alle Bürgerinnen und Bürger, die wissen, was sie an Europa haben, sind jetzt gefordert, sich einzumischen, sich nicht ein fach ins Private zurückzuziehen. Alle demokratischen euro päischen Parteien sind gefordert, sich mit Herzblut für Euro pa einzusetzen und für seine Werte einzutreten.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der SPD)

Wir müssen uns zudem noch mehr Mühe geben, die Vorzüge Europas nicht nur aus der Vergangenheit heraus zu erklären. Wir müssen den Blick darauf lenken, wie Europa ganz unmit telbar das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger verbessert und ihnen Chancen eröffnet. Und wir müssen Europa als ver heißungsvolles Zukunftsprojekt begreifen und erläutern, das allein geeignet ist, unsere gemeinsamen Werte dauerhaft zu sichern.

Was wir brauchen, ist eine neue, eine ernsthafte Leidenschaft für den europäischen Zusammenhalt, und zwar aus der Mitte der Bürgerschaft. Noch nie seit 1992 waren mehr Menschen in Deutschland von den Vorteilen der Europäischen Union überzeugt. Das hat eine Umfrage in der letzten Woche erge ben. Diese schweigende Mehrheit sollte kraftvoller als bisher ihre Stimme erheben.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Baden-Württemberg hat sich die Zukunft Europas schon im mer zu Herzen genommen und mitgestaltet. Ich denke nur an den Einsatz meines Vorgängers, Erwin Teufel, im Europäi schen Verfassungskonvent. Wir dürfen ihm dankbar sein, dass er heute noch, mit über 70 Jahren, ständig unterwegs ist, um für die europäische Idee zu werben.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Dr. Rainer Balzer AfD)

Deswegen sehe auch ich mich als Ministerpräsident dieses Landes durch die aktuelle Entscheidung, die uns alle betrifft, herausgefordert. Meine Regierung wird deshalb einen breiten Prozess der Diskussion und des Zuhörens anstoßen, indem wir Baden-Württemberginnen und Baden-Württemberger darüber debattieren, welches Europa wir in Zukunft haben wollen. Da bei setze ich besonders auf Impulse aus der Bürgerschaft, aus den Kommunen und den Regionen, aber selbstverständlich auch aus den Fraktionen des Landtags von Baden-Württem berg.

Darüber hinaus sehe ich es als unsere Aufgabe an, Europa auch auf der regionalen Ebene stärker erlebbar zu machen; auf dass es Halt und Heimat auf jeder Ebene bietet und die Horizonte erweitert.

Kooperationen von Regionen, Städtepartnerschaften lebendig halten, Schüleraustausche, internationale Studierendenpro gramme, private Freundschaften – wir alle sind jetzt gefor dert, Europa zu gestalten, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, die alle zusammen das feine Netz ergeben, das uns verbindet und einander verstehen hilft.

Meine Damen und Herren, das europäische Haus ist also noch lange nicht vollendet. Wir müssen jeden Tag dafür kämpfen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

Wenn wir das alle in einem guten europäischen Geist tun, dann bin ich überzeugt, dass Europa seine besten Tage noch vor sich haben kann.

Wir müssen die grundlegende Debatte darüber führen, wie die Zukunft der EU aussehen kann und welche Gestalt sie haben soll. Zunächst einmal müssen alle verantwortlichen politi schen Kräfte ihre Energie darauf verwenden, mit den beste henden Regeln bessere Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Das geht nur, wenn die Staaten kompro missbereiter werden und vermeintliche kurzfristige nationale Interessen im langfristigen gemeinsamen Interesse auch ein mal zurückstellen.

Populistischen Parolen müssen wir Problemlösungen, der Angstmache Tatkraft und den hasserfüllten Debatten eine neue Leidenschaft der Vernunft, aber auch eine neue Leidenschaft für unsere gemeinsamen Werte entgegensetzen, um Europa wieder in die Herzen der Menschen zu tragen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der FDP/DVP)

Die europäische Integration ist ein Verdienst der Nachkriegs generation und weitsichtiger Politiker dieser Zeit. Aber sie ist zugleich das zentrale Projekt für die zukünftigen Generatio nen. Wir haben den Hinweis, dass bei den jungen Briten eine überwältigende Mehrheit für den Verbleib in der EU ist. Auch das sollte ein Weckruf für uns sein.

Lassen Sie uns alle in diesem Bewusstsein für eine gute Zu kunft Europas arbeiten. Lassen wir also 70 Jahre nach Chur chills großer Rede einen neuen europäischen Geist entstehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP sowie des Abg. Dr. Rainer Balzer AfD)

Meine Damen und Herren, für die Aussprache über die Regierungserklärung haben die Frak tionen eine Redezeit von 20 Minuten je Fraktion vereinbart.

In der Aussprache erteile ich nach § 83 a Absatz 3 der Ge schäftsordnung für die Fraktion der SPD Herrn Fraktionsvor sitzendem Stoch das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen, liebe Kollegen! Das europäische Projekt, die europäische Idee ist offensichtlich für viele Menschen inzwischen zu ab strakt geworden. Deswegen möchte ich an den Beginn mei ner Ausführungen einen ganz persönlichen Eindruck stellen.

Meine älteste Tochter, 17 Jahre alt, ist am vergangenen Sams tag nach England, nach London geflogen, um dort für vier Wo chen ein Sozialpraktikum in einer Behinderteneinrichtung zu machen. Meine Tochter, mit der ich in den letzten zwei Tagen viel telefoniert habe, hat mir frische Eindrücke aus England, aus dem Süden Englands vermittelt, aus den Familien der Freunde, bei denen sie ist, von den Menschen, mit denen sie spricht.

Die Menschen in England waren nach dem Ergebnis dieses Referendums gewissermaßen in einem Schockzustand. Viele fühlten sich, als ob man ihnen einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen hätte. Viele wissen nicht so richtig: Was passiert denn da jetzt? Eine unglaublich große Unsicherheit herrscht in diesem Land.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, diese Unsicherheit, die ses Unverständnis über diese Entscheidung schlägt langsam, aber sicher auch in Wut um. Diese Wut, diese Verzweiflung, gerade der jüngeren Generation, bricht sich jetzt Bahn. Denn es kommen Diskussionen auf, die beinhalten: „Wo gehen wir hin? Denn dieses Land bietet uns offensichtlich nicht mehr die richtige Perspektive.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das muss uns schrecken. Uns muss erschrecken, dass in einem Land wie Großbritannien jetzt z. B. in Schottland natürlich wieder Dis kussionen aufkommen über die Frage des Zusammenhalts. Wenn in Schottland jetzt konkret über ein zweites Unabhän gigkeitsreferendum nachgedacht werden muss, dann wissen wir alle, dass das aktuelle Referendum nicht nur ein Akt ist, mit dem ein Land aus der EU austritt. Es ist ein Akt, durch den die Stabilität in Europa insgesamt leidet. Das kann nicht im Interesse Europas und der anderen Staaten in Europa sein.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Die Menschen fragen sich aber auch: Was ist eigentlich hier passiert? Was sind die Ursachen dafür, dass offensichtlich mehr als 50 % der Menschen sagen: „Nein, wir wollen diese Europäische Union nicht“? Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Genossinnen – –

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Grünen, der CDU und der FDP/DVP – Abg. Rein hold Gall SPD: Wir fühlen uns angesprochen! – Abg. Winfried Mack CDU: So viele sind es nicht! – Ge genruf des Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Wir ar beiten daran! – Weitere Zurufe, u. a. des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)