Protocol of the Session on June 29, 2016

Heute gilt auf europäischem Boden: Worte statt Waffen, Gip fel statt Granaten, Kooperation statt Krieg. Was für eine un geheure zivilisatorische Leistung!

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Baden-Württemberg war einst eine arme Region. Das kann sich heute kaum ein Baden-Württemberger mehr vorstellen. Dass Baden-Württemberg heute ein wirtschaftlich starkes, ein innovatives, ein prosperierendes Land ist, das haben wir Ba den-Württemberger und Baden-Württembergerinnen mit Fleiß erarbeitet, aber wir haben es zu einem großen Teil auch dem europäischen Einigungsprozess zu verdanken. Der Europäi sche Binnenmarkt ist weltweit der größte, von dem wir mit unserer extrem exportorientierten Wirtschaft auch besonders profitieren. Baden-württembergische Unternehmen liefern jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von knapp 100 Milliarden € in die EU. Ohne die europäische Einigung, oh

(Ministerpräsident Winfried Kretschmann)

ne den Europäischen Binnenmarkt wären wir also nicht so wohlhabend, wie wir sind. Auch das sollten wir nicht verges sen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP)

Entscheidend ist aber auch: In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts ist die europäische Einigung von zentraler Bedeutung für die Selbstbehauptung und Gestaltungskraft Eu ropas in der Welt. Wir Europäer haben 1950 noch rund 20 % der Weltbevölkerung ausgemacht; im Jahr 2050 werden es noch etwa 5 % sein. Den Bevölkerungsanteil der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten wird man bald nur noch in Promille mes sen können, nicht mehr in Prozent. Niemand kann sich einbil den, dass unsere Interessen in Zukunft noch gehört werden, wenn Frankreich oder Spanien, die Niederlande oder Polen, Italien oder Deutschland Politik nur auf eigene Faust versu chen. Die Europäische Union ist eine Wirtschafts- und Wäh rungsunion, aber vor allem ist sie auch eine Wertegemein schaft.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Nur ein geeintes, nur ein handlungsfähiges Europa kann in der Welt von heute für seine Grundwerte – Freiheit, Menschen rechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Markt wirtschaft – wirksam eintreten und dafür sorgen, dass diese auch in internationalen Regeln ihren Niederschlag finden. Auch das sollten wir uns immer wieder bewusst machen.

Frieden, Wohlstand, Gestaltungskraft in der Welt von heute – das sind drei Gründe, warum die europäische Einigung in un serem ureigenen Interesse, im wohlverstandenen Eigeninter esse ist.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Das heißt aber natürlich andererseits nicht, dass die europäi sche Einigung eine einfache, bequeme und mühelose Veran staltung ist. Das Gegenteil ist richtig. Und das heißt auch nicht, dass in Europa alles gut oder gar perfekt oder vollkom men ist.

Ja, die europäische Verständigung ist anstrengend, sie ist müh sam, und sie ist auch kräftezehrend. Ja, oft fehlt es an Trans parenz und Verständlichkeit von Entscheidungen, mancher Kompromiss der Mitgliedsstaaten ist nur der kleinste gemein same Nenner, und manchmal sind die europäischen Staaten gar nicht in der Lage, sich zu einigen. Ja, leider ist auch all das die Europäische Union. Diese Schwächen in der politi schen Architektur Europas müssen klar und offen angespro chen und angegangen werden.

Aber vergessen wir nie, was wir an diesem Europa haben. Es ist jedenfalls das beste, das wir je hatten.

(Beifall bei den Grünen, der CDU und der SPD so wie Abgeordneten der FDP/DVP und des Abg. Dr. Rainer Balzer AfD)

Gleichzeitig steckt Europa in einer tiefen Krise. Wir erleben, dass die europäische Einigung gefährdet ist und in vielen Län

dern an Rückhalt verliert. Die Fliehkräfte in der Europäischen Union nehmen zu – das macht der „Brexit“ auf erschrecken de Weise deutlich.

Die europäische Krise ist aber in erster Linie eine Krise der EU-Mitgliedsstaaten, der nationalen Regierungen, die immer öfter kurzfristige nationale Eigeninteressen über den europä ischen Geist und das langfristige gemeinsame Interesse stel len.

Dies gilt etwa in der Flüchtlingspolitik. Ja, Europa hat in die ser Frage bisher keine überzeugenden Antworten gegeben und keine ausreichende Handlungsfähigkeit gezeigt. Dies aber Brüssel vorzuwerfen geht völlig fehl: Die EU-Kommission, das EU-Parlament haben viele gute Vorschläge auf den Tisch gelegt. Gehakt hat es im Europäischen Rat, weil sich einige Regierungen der Solidarität entziehen und sich beharrlich wei gern, Flüchtlinge aufzunehmen. Immer wieder hapert es so gar an der Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse. Es sind also die Mitgliedsstaaten, denen es an Problemlösungskompetenz fehlt – wenigstens einigen davon. Nationale Egoismen gewin nen an Gewicht, und so bröckelt dann der Zusammenhalt.

Zum Zweiten ist die europäische Krise eine Krise der Demo kratien in Europa. In fast allen Ländern nimmt die Polarisie rung der Gesellschaft zu. Die politische Kultur verroht, Par teiensysteme erodieren.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Rechtspopulistische und antieuropäische Kräfte haben Zulauf. Demagogen gelingt es, mit scheinbar einfachen Antworten mehr und mehr Menschen für sich zu gewinnen.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Nirgendwo wurde diese Entwicklung deutlicher als in der Kampagne der „Brexit“-Befürworter. Sie war geprägt von plumpen Parolen gegen Einwanderung und hysterischen An griffen auf die Europäische Union. So haben sich die Popu listen im Mutterland der modernen Demokratie leider durch gesetzt. Dass sogar eine Abgeordnete für ihre europäische Ge sinnung ihr Leben lassen musste, entsetzt uns alle.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Fast allerorten bedrängen Systemverächter die Demokratie. Die autoritäre Versuchung ist nach langen Jahren liberaler Ver fassungsstaaten wieder da – also eine Politik, die vorgibt, dass sich alle Probleme der Welt am besten mit einer nationalen, autoritären, rückwärtsgewandten Politik lösen ließen.

Es wird also deutlich: Die Situation ist ernst. Der „Brexit“ kann der Anfang der Beschleunigung des europäischen Ero sionsprozesses sein. Aber er kann auch der notwendige Weck ruf an die europäischen Bürgerinnen und Bürger und an alle Europa wohlgesonnenen Politiker sein, enger zusammenzu rücken.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der SPD)

Es liegt an uns. Die Nationen Europas haben ihr Schicksal in der Hand. Wir dürfen jetzt weder in eine Schockstarre noch in Hysterie oder blinden Aktionismus verfallen.

Wir dürfen weder verzagen und unsere Vision eines geeinten Europas kleinmütig aufgeben, noch ist jetzt die Zeit für ein trotziges „Jetzt erst recht!“, das so tut, als hätte es die drama tischen Erschütterungen nicht gegeben.

Wir brauchen nun eine Phase des Innehaltens und der Refle xion. Es ist an der Zeit für eine breite und engagierte Debat te der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union über die Zukunft der europäischen Einigung. Die Landesregierung will diesen Diskurs unterstützen. Wir brauchen eine breite De batte von unten: Welche Fragen müssen wir uns stellen? In welche Richtung könnten Antworten auf die Krise gehen?

Meine Damen und Herren, die Europäische Union im Ganzen ist unzweifelhaft eine Gemeinschaft des Wohlstands. Trotz dem dürfen wir nicht die Augen vor den Problemen verschlie ßen. Besonders die südeuropäischen Länder kämpfen mit den Folgen der Schuldenkrise. Die Jugendarbeitslosigkeit ist dort sehr hoch, und die sozialen Verwerfungen nehmen zu.

Aber auch bei uns sind viele Menschen verunsichert durch die Globalisierung, durch die Veränderung der Arbeitswelt. Sie sorgen sich, zurückzufallen, und zweifeln an ihren Perspekti ven.

Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen, ohne ihnen allerdings hinterherzulaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der AfD)

Arbeit, Einkommen, soziale Sicherheit: Diese Dimensionen der Europäischen Union, die im Vertrag von Lissabon veran kert sind, müssen stärker betont und mit Leben erfüllt werden, innerhalb der bestehenden Kompetenzen und unter Einhal tung des Subsidiaritätsprinzips.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Es ist letztlich in unser aller Interesse, dass die Lebensbedin gungen in den verschiedenen Ländern Europas nicht weiter auseinanderdriften, sondern sich annähern, und dass alle Bür gerinnen und Bürger Europas vergleichbare Perspektiven ha ben. Wir müssen überzeugend darlegen können, dass wir in Baden-Württemberg, in Deutschland und in Europa alle im Blick haben, die Unterstützung durch die Gemeinschaft be nötigen. Nur so können wir den Verlockungen vermeintlich einfacher Antworten etwas entgegensetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Was wir uns alle gemeinsam nicht weiter leisten sollten, ist das häufig zu beobachtende und immer wiederkehrende Mus ter: Wenn etwas gut läuft, dann waren es die nationalen Re gierungen, wenn etwas schlecht läuft, dann war es Brüssel.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Europa wird von vielen Regierungen zu oft als Sündenbock genutzt und als Selbstbedienungsladen verstanden. Wir brau chen mehr Ehrlichkeit, Klarheit und Entschiedenheit in den europäischen politischen Debatten.

(Vereinzelt Beifall)

Wer Europa schlechtredet, muss sich nicht wundern, wenn ge rade Menschen, die sich abgehängt fühlen, Europa den Rü cken zukehren.

Wer ein starkes und handlungsfähiges Europa will, der muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen und diese verteidi gen und darf nicht herumlamentieren.

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

Ein gemeinsames Europa braucht verbindliche Regeln. Euro päische Souveränität erfordert nationalen Souveränitätsver zicht. Europäische Handlungsfähigkeit braucht mehr Mehr heiten und weniger Vetorechte. Die Rosinen herauspicken, aber den Rebstock nicht düngen und wässern wollen, das geht nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

„Europa ist der immerwährende Kompromiss“, so hat der frü here Außenminister Joschka Fischer es kürzlich formuliert. Das ist das Wesen der Union aus 28, zukünftig 27 Staaten. Aber Kompromisse müssen immer erklärt werden, damit sie nicht als unzureichend wahrgenommen werden.

Deshalb sollten wir mehr Anstrengungen darauf verwenden, eine starke europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Wir alle sind gefragt, die Entscheidungen aus Brüssel und Straßburg den Bürgerinnen und Bürgern nahezubringen, sie konkret und verständlich zu machen.

Lassen Sie uns grundlegende europäische Fragen häufiger im Landtag diskutieren und bei geeigneten Gelegenheiten im gan zen Land.