Das ist in der Tat das Problem, wenn man Richtiges sagt und dann vielleicht das Ziel überdeckt wird. Das ist das Problem, Herr Untersteller. – Es ist ihm da nicht Unrecht widerfahren, sondern er wusste genau, was er tut. Er hat diesen Satz be wusst geäußert, weil er die bundesweite Aufmerksamkeit wollte. Das ist sein Problem.
Aber dieses Richtige gibt es eben auch, nämlich dass die Po litik, die die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten alle 14 Tage auf Videokonferenzen vereinbart, auch ihre sozialen Kosten hat. Dies wurde angesprochen, beispielsweise vom Kollegen Stoch.
Diese Politik des Shutdowns führt zu Existenzkrisen von Men schen. Man darf natürlich nicht aufrechnen, muss aber doch sehen, dass es Menschen gibt, die aufgrund der Vernichtung ihrer Existenz möglicherweise Suizidgedanken hegen. Man muss sehen, dass die Politik des Shutdowns möglicherweise auch zu häuslicher Gewalt führt. Dies zeigt etwa der Fall des Fünfjährigen in Mönchengladbach, der im häuslichen Umfeld erschlagen wurde. Anschließend wurde gesagt: Hätte er die Kindertagesstätte besucht, hätte es möglicherweise Alarmsi gnale gegeben, und die Leitung der Kindertagesstätte hätte das Jugendamt eingeschaltet.
Diese Dinge muss man eben auch berücksichtigen. Man muss abwägen – Sie sprachen ja von einer Abwägung, Herr Minis terpräsident –, und zwar die Politik, die man zur Pandemie bekämpfung macht, auf der einen Seite und auf der anderen Seite deren soziale Kosten.
Das hat mir in dieser Debatte gefehlt. Sie haben begründet, warum Sie die Pandemie weiter bekämpfen. Sie haben auch die Behauptung aufgestellt, wir seien da noch nicht so sehr weit. Sie haben erklärt, die Zahl der Neuerkrankungen nehme leicht ab. Argumentiert haben Sie dann sinngemäß mit diesem Reproduktionsfaktor.
Wenn ich die letzten Wochen Revue passieren lasse, möchte ich ausdrücklich nochmals betonen: Die Gefahr einer mögli chen Überforderung des Gesundheitssystems war zu Beginn dieser Krise real, und sie wurde auch immer wieder beschwo ren. Beispielsweise hat Gesundheitsminister Spahn am 25. März erklärt: „Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm.“ Das, was in Italien passiert, ereile uns in zehn bis 14 Tagen auch.
„Weil wir gehandelt haben.“ Zu Ihnen komme ich sofort, Herr Lucha. Sie haben wochenlang erklärt: Ostern kommt der Peak. Meinten Sie dieses Ostern, das in diesem Jahr? An Os tern kämen wir an die Grenze der Möglichkeiten unseres Ge
Ja, Gott sei Dank. – Aber dann muss man doch irgendwann einmal seine Politik hinterfragen und sich die Frage stellen:
Die Logik müssen Sie verstehen, Herr Untersteller. Das ist ganz einfach. Schauen Sie sich die Zahlen an. Wir haben in Baden-Württemberg, Stand gestern, 3 728 belegbare Intensiv betten; davon sind 2 051 belegt, 1 677 sind frei.
Ja, Gott sei Dank. – Und von den belegten sind 380, also knapp 20 %, mit Covid-19-Patienten belegt. Sie können die Behauptung nicht rechtfertigen, es drohe immer noch der Kol laps des Gesundheitssystems.
die Gefahr drohe immer noch. „Wir befinden uns auf dünns tem Eis“, steht in der Regierungserklärung. Das können Sie morgen nachlesen. Wenn Sie Frau Schopper bitten, schickt sie sie Ihnen heute noch. „Wir sind auf dünnstem Eis“, ist die Be hauptung.
Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, das sind die Zah len, Herr Untersteller. Wenn die Zahlen nicht stimmen, wider sprechen Sie. Herr Lucha hat genickt.
(Zurufe, u. a. Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜ NE: Gratulieren Sie doch eher Herrn Lucha, dass er das geschafft hat!)
aber darum geht es nicht, sondern es geht um die Frage, ob die Politik noch gerechtfertigt ist. Das ist die Frage.
Da wird dann mit dem Reproduktionsfaktor argumentiert. Es wird gesagt, dieser liege immer noch bei etwa 1, und es dro he ein Reproduktionsfaktor von 1,2, und im Juli komme dann die Überforderung. Damit haben Sie gedroht, Herr Minister präsident: mit der Behauptung, wir hätten nur einen leichten Rückgang der Zahlen.
Die Zahlen kann man sich ja anschauen. Frau Schopper schickt sie dankenswerterweise jeden Abend zu. Da kann man auf der Zeitachse genau sehen, wie viele Neuinfizierte es aktuell gibt, wie viele Infizierte insgesamt, wie viele Genesene es aktuell sind und wie viele Genesene insgesamt. Diese Zahlen kann man dann miteinander verrechnen. Dann komme ich z. B. zu dem Ergebnis, dass es in Baden-Württemberg am 6. April ca. 19 000 Infizierte und am 28. April – gestern Abend – ca. 9 700 Infizierte gab. Dafür muss man nur subtrahieren können – wenn man es denn will. Das ist kein leichter Rückgang, son dern ungefähr eine Halbierung.
Das muss man abwägen, wenn man eine Politik macht, die ei nerseits Freiheitsrechte einschränkt – wenn es notwendig und gut begründet ist – und andererseits erhebliche wirtschaftli che Folgen hat. Diese Abwägung vermisse ich.
Das sage ich in aller Deutlichkeit. Da kann man nicht behaup ten, wir seien am Anfang der Pandemie. Da kann man nicht behaupten, wir seien auf allerdünnstem Eis. Da kann man nicht behaupten, die Überforderung des Gesundheitssystems drohe nach wie vor. Vielmehr muss man über andere Fakto ren, über andere Kriterien nachdenken.
Das tut auch die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin, nicht – nicht nachvollziehbar. Da wurde zunächst einmal mit einem Verdopplungszeitraum argumentiert. Da wurde gesagt: Wenn wir den Verdopplungszeitraum von 14 Tagen erreichen, dann haben wir die Pandemie unter Kontrolle, dann können wir über Öffnungen reden. Mittlerweile sind wir bei einem Ver dopplungszeitraum von über 40 Tagen.
Dann wurde aber dieser Verdopplungszeitraum verabschiedet, weil klar war, dass, wenn man mit dem Verdopplungszeitraum argumentiert, sich die Maßnahmen nicht mehr rechtfertigen lassen. Es wurde dann etwas Neues etabliert, nämlich der R-Faktor. Interessant ist: Je weniger Infektionen es in der letz ten Woche gab, desto höher war der R-Faktor. Dann wurde der Präsident des Robert Koch-Instituts gefragt, wie man das eigentlich berechnet; das konnte er nicht sagen.
Gestern gab es zum allerersten Mal seit Beginn dieser Krise deutschlandweit weniger als 1 000 Neuinfektionen, nach dem Robert Koch-Institut und nach der Johns-Hopkins-Universi tät. Gleichzeitig sagte der Präsident des Robert Koch-Insti tuts, der Reproduktionsfaktor sei wieder bei 1. Als er darauf hin kritisiert wurde, hat er gesagt: vielleicht nur 0,9. Im Üb rigen sei ja dieser Reproduktionsfaktor auch nicht so wichtig, man müsse auch die Gesamtzahl sehen.
Wenn man sich aber die Gesamtzahl anschaut, dann stellt man fest: In Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Infizierten in drei Wochen halbiert. Da stelle ich mir die Frage: Wie ist das überhaupt möglich, wenn der Reproduktionsfaktor immer 1 ist?
Die Politik ist also hier an vielen Stellen schon etwas ominös und wechselt dann immer wieder die Begründungen. Seit mit
der Zahl der Infizierten nicht mehr seriös zu argumentieren ist, wird eben die Gefahr einer zweiten Welle beschworen. Dasselbe gilt für die wissenschaftliche Beratung. Am Anfang hat man sich vom Robert Koch-Institut beraten lassen, dann kam plötzlich die Leopoldina. Dann hat aber die Leopoldina nicht das geliefert, was Frau Merkel gern hätte; dann kam das Helmholtz-Institut in Braunschweig. Mittlerweile sind wir wieder zum Robert Koch-Institut zurückgekehrt.
Eine solche Politik ist keine Dauerlösung. Auch das Prinzip „Not kennt kein Gebot“ ist keine Dauerlösung. Das mag in der Krise richtig sein, aber es ist zu hinterfragen.
Dieses Hinterfragen erfolgt ja zum Teil auch von führender Stelle der CDU-Bundestagsfraktion. Fraktionsvorsitzender Brinkhaus hat seiner Kanzlerin ins Stammbuch geschrieben, dass die Schaltkonferenz der Kanzlerin mit den Ministerprä sidenten nicht im Grundgesetz steht. Vielmehr steht – Kolle ge Stoch hat es angesprochen – die erste Gewalt, das Parla ment, im Grundgesetz – und nicht solche Schaltkonferenzen. Das erinnert mich an Schiller, „Don Carlos“: „Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.“ – Sie großgeschrieben; viel leicht meinte Brinkhaus es kleingeschrieben.
Schiller, Herr Ministerpräsident, richtet sich ja in „Don Carlos“ an Philipp von Spanien, den spanischen König, aber gedacht hat er eigentlich an Herzog Karl Eugen, also, wenn Sie so wol len, einen Ihrer Vorgänger,